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Legalitätsprinzip, strafrechtlich
Erstpublikation: 8. Mai 2013
- Die strafprozessuale Situation, auf die das Legalitätsprinzip reagiert
- Das Legalitätsprinzip in der Ausformung des deutschen Strafprozessrechts 1877
- Die Entfaltung des Opportunitätsprinzips im deutschen Strafprozessrecht nach 1877
- Der Vorrang des Opportunitätsprinzips im Völkerstrafrecht und im geplanten europäischen Strafprozessrecht
- Die vagen Begründungen des Opportunitätsprinzips
- Die vagen Begründungen des Legalitätsprinzips
- Die Abhängigkeit des Legalitätsprinzips vom Zustand der strafrechtlichen Gesetzlichkeit
- Strafrechtliche Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip als begrenzende, strafrechtlicher Positivismus und Opportunitätsprinzip als offene Machtverfassung am Beginn des Strafprozesses
- Bibliographie
- Verwandte Themen
I. Die strafprozessuale Situation, auf die das Legalitätsprinzip reagiert
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Gegen eine bestimmte Person entsteht der Verdacht einer strafbaren Handlung. Was soll man tun? Die Antworten sind vielfältig. Man kann untätig bleiben. Man kann dem Verdacht nachgehen, wenn es sich lohnt. Man kann jedem Verdacht nachgehen, gleichgültig, ob es sich lohnt. Die Antworten werden zahlreicher, wenn zu klären versucht wird, wer denn dieser „man“ ist, der beim Entstehen des Verdachts einer strafbaren Handlung die Verfolgung unterlässt, dem Verdacht nur bei lohnender Verfolgung nachgeht oder jedem Verdacht nachgeht. Dieser „man“ kann jeder Bürger sein oder nur das Opfer oder eine Opferorganisation oder nur eine staatliche Behörde oder ein Diktator oder jeder Bürger, das Opfer zusammen mit einer staatlichen Behörde oder einem Diktator. Je nachdem, wer mit der Entscheidung, was beim Entstehen des Verdachts einer strafbaren Handlung weiter getan werden soll, betraut wird, ergeben sich immer neue Handlungsmöglichkeiten. Die profiliertesten Beispiele sind: jeder Bürger kann den Verdacht nach seinem Belieben verfolgen; nur das Opfer ist für die Verfolgung zuständig, kann aber nach Gutdünken über Verfolgung oder Nichtverfolgung entscheiden; die Verfolgung obliegt allein einer staatlichen Behörde, die entweder jedem Verdacht nachgehen muss oder wählen kann, welches Nachgehen lohnend ist; oder das Opfer und eine staatliche Behörde müssen sich einigen, ob weiter verfolgt wird. Viele andere gemischte Handlungsformen sind möglich. Um nur eine Form noch zu nennen: dem Opfer wird die Verfolgung von Bagatellen, einer staatlichen Behörde die Verfolgung schwerer Straftaten entweder zur Pflicht gemacht oder zur Lohnensentscheidung überlassen.
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Die Wahl zwischen diesen Möglichkeiten ist erforderlich, um den Beginn eines Strafprozesses klar zu organisieren. Doch geht die Bedeutung der Wahl zwischen diesen Möglichkeiten weit über ein Organisationsproblem hinaus. Der Beginn des Strafverfahrens ist die Situation, in der sich die Macht des Strafrechts über einen Bürger nachdrücklich zeigt. Die Entscheidung darüber, wer unter welchen Bedingungen die Macht hat, ein Strafverfahren zu beginnen, ist die Entscheidung über die Verfassung von Strafmacht am Anfang des Strafverfahrens.
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Das deutsche Strafprozessrecht hat sich bei seinem Inkrafttreten 1877 (RGBl 1877, S. 253) auf eine modellhafte und eindeutige Regel festgelegt. Der Verdacht einer strafbaren Handlung darf nur von einer staatlichen Behörde, der Staatsanwaltschaft, verfolgt werden. Die Staatsanwaltschaft wird zugleich aber verpflichtet, jedem Verdacht nachzugehen. Diese prozessuale Gestaltung: dem Verdacht einer strafbaren Handlung darf nur die Staatsanwaltschaft nachgehen, sie muss dies aber auch, hat den Fachausdruck: strafrechtliches Legalitätsprinzip. Dieses Prinzip zeigt eine starke Verfassung von Strafmacht: Bindung an das Gesetz. Die rechtliche Verantwortung für die Zulässigkeit und tatsächliche Ausübung von Strafmacht in der Form des Beginns eines Strafverfahrens hat das Gesetz.
II. Das Legalitätsprinzip in der Ausformung des deutschen Strafprozessrechts 1877
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Die deutsche Strafprozessordnung 1877 (StPO) formuliert das Legalitätsprinzip in § 152 I und II. Weitere Vorschriften sichern das Prinzip (Pott 1996, S. 8 f.). Die Gefahr, dass die Staatsanwaltschaft das Legalitätsprinzip nicht präzise befolgt, versucht die StPO zu bannen durch ein sorgfältig konstruiertes Klageerzwingungsverfahren. Der Verletzte kann durch ein gerichtliches Verfahren erreichen, dass die Staatsanwaltschaft das Legalitätsprinzip einhält (§§ 172 ff. StPO). Eine massive Stütze des Prinzips ist die Strafdrohung im materiellen Recht gegen die vorsätzliche Missachtung des Legalitätsprinzips (§ 346 StGB 1871, RGBl 1871, S. 127; § 258 a StGB n. F.). Das Legalitätsprinzip tritt 1877 auf als genau durchdachte, rechtlich gesicherte Verfassung des Beginns jeder Strafverfolgung durch das Gesetz.
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Das Legalitätsprinzip ist aber von seinem durchdachten Auftreten 1877 an rechtspolitisch nicht gesichert. Es hat sich nur mühsam gegen die Auffassung durchgesetzt, die Staatsanwaltschaft müsse nach ihrem Ermessen, nach dem Opportunitätsprinzip verfolgen können (Richter 1925, S. 35 ff.; Hertz 1935, S. 40 ff.). Diese Auffassung wird in der Folgezeit nicht aufgegeben; sie gewinnt vielmehr an Kraft.
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Einen gewichtigen, folgenreichen Hinweis auf die theoretische und praktische Ungesichertheit des Legalitätsprinzips 1877 ist die Formulierung bei der gesetzlichen Festlegung des Legalitätsprinzips, dieses Prinzip könne durch einfaches Gesetz wieder aufgehoben werden. Ein Gesetz, für dessen Inhalt kein Kriterium genannt wird, kann das Legalitätsprinzip außer Kraft setzen (§ 152 II StPO).
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Diese unstimmige strafprozessuale Möglichkeit wird in Deutschland schon 1877 großzügig genutzt. Erste Beschränkungen des Gebiets strikter Legalität werden gesetzlich bestimmt. § 4 StGB a. F. streicht die im Ausland begangenen Verbrechen und Vergehen aus dem Legalitätsprinzip (Richter 1925, S. 40). Nach § 3 II des Einführungsgesetzes zur StPO von 1877 (RGBl 1877, S. 346) kann die Landesgesetzgebung die Reichweite des Legalitätsprinzips verringern. § 208 StPO 1877 enthält eine Vorform des Instituts der Nichtverfolgung unwesentlicher Nebenstraftaten, aktuell § 154 StPO (Hertz 1935, S. 46 f.; Pott 1996, S. 7, 45). Damit ist eine juristische Technik erprobt, die später ausgebaut wird. Und neben die ausdrücklichen gesetzlichen Einbrüche in das Legalitätsprinzip treten weiträumige eigenständige Institute zur Reduzierung des Wirkungsbereichs jenes Prinzips, ohne diese Reduzierung ausdrücklich oder stillschweigend zu erwähnen.
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Die Hauptbeispiele:
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Das ausgedehnte Gebiet der Antragsstraftaten des StGB (z. B. Hausfriedensbruch, Beleidigung, Körperverletzung) macht das Wirken des Legalitätsprinzips abhängig von dem beliebigen Verlangen des Verletzten nach Strafverfolgung (§ 61 I StGB a. F.). Aus dem Strafantragsrecht des Verletzten bei Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102 ff. StGB a. F.) wird das Strafverlangen des ausländischen Staates als Voraussetzung für die Einleitung eines Strafverfahrens, eine weitere Reduzierung der Reichweite des Legalitätsprinzips (§ 104 a StGB n. F.).
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Das Institut der Ermächtigung zur Strafverfolgung bei bestimmten politischen Straftaten schränkt die Souveränität des Legalitätsprinzips schon 1877 weiter ein (§ 99 II StGB a. F.). Verstärkt wird diese Einschränkung durch das Institut der Verjährung der Strafverfolgung (§ 66 StGB a. F.); verjährt die Verfolgung einer Straftat, kann das Legalitätsprinzip nicht greifen.
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Der Gedanke, nicht allein eine Behörde, sondern auch und umfangreich der Verletzte könne für die Verfolgung des Verdachts einer strafbaren Handlung zuständig gemacht werden, wird als Privatklage juristisch ausgeformt. Vom Auftauchen des Legalitätsprinzips an tritt die von der Willkür des Verletzten abhängige Privatklage neben das Prinzip. Die Verfolgung von Körperverletzungen und Beleidigungen wird der Privatklage zugänglich gemacht (§ 414 I StPO 1877). Dass mit Körperverletzung und Beleidigung 1877 kein abgeschlossener Katalog der Privatklagedelikte vorgelegt wird, liegt auf der Hand. Mit der Einführung der Privatklage fasst auch das Opportunitätsprinzip festen Fuß in der Strafprozessordnung. Die Staatsanwaltschaft darf bei Privatklagedelikten nach der gesetzlichen Formulierung von 1877 nur eingreifen, wenn dies „im öffentlichen Interesse“ liegt, also opportun ist (§ 416 StPO 1877).
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Das deutsche Strafprozessrecht von 1877 enthält ein scharf umrissenes juristisches Modell für Konstruktion und Handhabung des Legalitätsprinzips und stattet dieses Prinzip mit großem Ansehen aus. Aber fest mit diesem Modell verbundene Teile sind die juristischen Techniken, die es möglich machen, das Legalitätsprinzip trotz seines Ansehens zu lähmen. Das Modell lässt sich auch so beschreiben: das Legalitätsprinzip ist ein schönes Prinzip, eine eindrucksvolle juristische Verfassung für den Beginn eines Strafprozesses; aber es ist unpraktisch. Was „unpraktisch“ bedeutet, bleibt unklar. Diese Beschreibung erklärt die Offenheit der Strafverfolgung für jede Art der Opportunität bei Aufrechterhaltung des für unerlässlich befundenen Anspruchs der Legalität. Die Entwicklung im Umkreis des Legalitätsprinzips im deutschen Strafprozessrecht bestätigt diese Auffassung. Das Legalitätsprinzip als begrenzender Machtverfassung weicht dem Opportunitätsprinzip als unverfasster, beweglich einsetzbarer Macht am Beginn eines Strafverfahrens.
III. Die Entfaltung des Opportunitätsprinzips im deutschen Strafprozessrecht nach 1877
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Diese Entfaltung kündigt sich in den Reformdebatten zur StPO noch vor dem 1. Weltkrieg an (Hertz 1935, S. 52 ff.; Vormbaum 1988, S. 156 ff.) und zeigt sich mit großer Kraft in der Einfügung der gesetzlichen Sicherung des Opportunitätsprinzips 1924 als §§ 153, 154 StPO (RGBl 1924, S. 18 f. und 338). Bagatellen, schwerere Straftaten mit geringer Schuld und unbedeutenden Tatfolgen und Taten, die für die Bestrafung nicht ins Gewicht fallen, werden dem Legalitätsprinzip entzogen. Die gesetzliche „Auszehrung“ des Legalitätsprinzips ist nicht mehr aufzuhalten (Vormbaum 1988, S. 170).
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Eine mächtige Organisation zeigt diese Auszehrung im Verlauf der NS-Zeit (Naucke 1982, S. 89 f.; Schumacher 1985, S. 104 ff.). Ein gewichtiges Datum ist die Aufhebung des Analogieverbots 1935 (RGBl 1935, S. 839). Die Abhängigkeit des prozessualen Legalitätsprinzips von genauer materieller Gesetzgebung wird unübersehbar. Wenn die Justiz die materiellen Strafgesetze nach „gesundem Volksempfinden“ handhaben kann, eine Regel, die das Opportunitätsprinzip grenzenlos erweitert, so läuft das Legalitätsprinzip leer. Die Strafmacht am Beginn eines Strafprozesses verliert die Grenze. Diese Denkform wird in der NS-Zeit Schritt für Schritt ausgebaut. Weite Tatbestandsfassungen werden eingeführt (gegenwärtig gebliebene Beispiele: §§ 211, 266 StGB: RGBl 1941, S. 549 und 1933, S. 297). Diese Tatbestandsfassungen weichen das Legalitätsprinzip auf. Andere Tatbestandsfassungen werden mit unklaren Generalklauseln versehen, die das Legalitätsprinzip beschränken. Die bis heute genutzten Hauptbeispiele sind §§ 240 II, 253 II StGB (RGBl 1943, S. 341 f.). Die Opportunitätsvorschriften im engeren Sinne nehmen zu. In der StPO tauchen die Vorläufer der heutigen §§ 154 c, 153 c StPO auf (RGBl 1935, S. 846 und 1940 S. 754 f.). Die „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden“ stattet die Staatsanwaltschaft mit der legalitätswidrigen, ausgeprägt machterweiternden Befugnis aus, ein nicht abgegrenztes „öffentliches Interesse“ zur Richtschnur für die Verfolgung von Straftaten zu machen (RGBl 1941, S. 759). Das Klageerzwingungsverfahren wird gestrichen (RGBl 1942, S. 510). 1944 wird das Legalitätsprinzip legal abgeschafft. Die Staatsanwaltschaft erhält ein unbegrenztes Ermessen bei der Verfolgung einer Straftat. Erinnerungswürdig ist, dass die Nichtverfolgung mit der Erfüllung von Auflagen verbunden werden kann (RGBl 1944, S. 341). Für die Theorie des Legalitätsprinzips bemerkenswert ist, dass dieses Prinzip juristisch mühelos mit dem Hinweis auf den Bedarf an „Schutz des Volkes“ als Kriterium für die Verfolgung eines Straftatverdachts zerstört werden kann (so im Text des § 8 I der „Verordnung zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des Krieges“ vom 13. 12. 1944, RGBl 1944, S. 339).
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In der strafrechtshistorisch kurzen Epoche 1877 – 1944 ist an die Stelle des Modells „Strafverfolgung nur nach dem Legalitätsprinzip“ die offenbar leicht zu denkende und leicht gesetzlich zu schaffende, daher strafprozessual verlockende, offene Organisation „Strafverfolgung nach unklaren Gesetzen und unklaren Kriterien durch die Staatsanwaltschaft oder andere Institutionen oder Personen“ getreten. Die rechtliche, begrenzende Verfassung der Macht am Beginn des Strafverfahrens ist zu einer schwer überprüfbaren, gesetzlich ungeformten Machtausübung geworden.
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Nach dem 2. Weltkrieg wird die Formulierung des Legalitätsprinzips in § 152 II StPO wiederhergestellt. Aber die Überzeugung, ein Strafprozessrecht könne nach diesem Prinzip praktisch arbeiten, ist zerbrochen. Die Denkform: das Strafen muss prozessual flexibel gehandhabt werden, beherrscht Strafgesetzgebung und Strafrechtspraxis. Die begrifflichen Instrumente, mit denen immer neue Stücke aus dem Legalitätsprinzip entfernt werden, belegen ein weiträumiges Interesse, über den Beginn des Strafverfahrens nach Opportunität herrschen zu können, und zeigen beim technischen Ausgestalten dieses Interesses einen großen strafjuristischen Einfallsreichtum.
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Das Opportunitätsprinzip bleibt gesetzlich erhalten und wird ständig ausgeweitet. Die Nichtverfolgung geringfügiger Straftaten nach Ermessen (§ 153 StPO) wird fester Bestandteil strafprozessualen Arbeitens und wird zugleich Muster für immer neue Opportunitätsinstitute. Die Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen – seit 1944 bekannt – wird als § 153 a StPO modernes Gesetz. Die ständige Erweiterung dieses § 153 a StPO ist leicht zu machen. In den §§ 153 b ff. StPO setzt sich eine schwer überblickbare Zahl von Einstellungsmöglichkeiten an Opportunität fest (Naucke 1979, S. 426 ff.; Pott 1995, S. 88 ff.; Naucke 1999, S. 403 ff.; Kühne 2010, Rn 308 ff.). Den Text des § 152 II StPO („soweit nicht gesetzliche ein anderes bestimmt ist“) einsetzend, spricht man von legaler Opportunität. Unwidersprochen wird in der für möglich gehaltenen „gleichmäßigen Handhabung des Opportunitätsprinzips“ eine „Stärkung des Legalitätsprinzips“ gesehen (Kerl 1986, S. 312). In einer prätentiösen Sprache, weitab vom Ernst der StPO-Sprache von 1877, die ein Machtproblem benennen will, wird die aktuelle Verbindung von Legalität und Opportunität mit einem Bild beschrieben: die „emsige, einfallsreiche Magd“ Opportunität hilft der „armen, mittellosen Herrschaft“ Legalität (Kerl 1986, S. 317).
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Eine Grenze freilich kann das Opportunitätsprinzip zunächst nicht überwinden. Verbrechen im technischen Sinn, schwere Straftaten also, bleiben nach den Texten der §§ 153, 153 a StPO von opportunen Verfahren ausgeschlossen. Es kennzeichnet die politische Energie des Opportunitätsprinzips, dass diese Grenze durchbrochen wird. Schon die zahlreichen Einzelformen opportuner Verfahrenserledigung ab § 153 b StPO unterscheiden nicht mehr zwischen Vergehen und Verbrechen, kennen nur noch Straftaten überhaupt. Erst das Anerkennen einer Verständigung über Sachverhalt und Strafe ohne Beschränkung auf Vergehen (jetzt: § 257 c StPO) sichert der Opportunität das Regiment über den Gesamtbereich der Strafverfolgung. In der Verständigung kann für Verbrechen in einem späteren Verfahrensabschnitt nachgeholt werden, was am Beginn des Verfahrens gesetzlich nicht zutage treten soll.
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Zusätzliche materiellrechtliche und prozessuale Institute sichern dem Regiment des Opportunitätsprinzips jede Nische der Strafverfolgung. Dieses Verfahren wird erleichtert durch die gängige Auffassung, der Gesetzgeber könne frei wählen, ob er die Opportunität im materiellen oder im prozessualen positiven Recht regele (BVerfG NJW 1994, S. 1583 r. Sp.). So kann das Opportunitätsprinzip bald im materiellrechtlichen, bald im prozessrechtlichen Gewand seine Reichweite vergrößern.
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Das materielle Recht stärkt die Opportunität gegen die Legalität durch folgende Institute:
- Absehen von Strafe (nur wenige Beispiele: §§ 60, 129 VI, 129 a VII, 260 IX StGB),
- Wiedergutmachung und Täter- Opfer-Ausgleich als Strafbefreiungsgründe (§ 46 a StGB),
- Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden als Grund für das Absehen von Strafe (§ 46 b StGB; § 31 BtMG),
- tätige Reue in vielfacher Gestalt als Strafbefreiungsgrund (Muster: § 320 StGB; § 371 AO).
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Alle diese Möglichkeiten sind Möglichkeiten, ein Strafverfahren nach Opportunität zu führen. Um diese Möglichkeiten wird die Reichweite der materiellrechtlichen strafrechtlichen Sicherung des Legalitätsprinzips durch § 258 a StGB gedrosselt (Pott 1995). Am entschiedensten aber wird das Legalitätsprinzip im materiellen Recht geschwächt und das Opportunitätsprinzip gestärkt durch das Ersetzen der Lehre von der notwendigen Bestimmtheit der Strafgesetze durch die Auffassung von der Bestimmbarkeit der Strafgesetze als ausreichender Form der Bestimmtheit (BVerfG NJW 2010, S. 3209 ff.; Übersichten und Kritik: Krahl 1986; E. Simon 2005).
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Das prozessuale Strafrecht festigt die Opportunität gegen die Legalität durch folgende Institute:
- am Beginn des Prozesses Vorwegnahme der Opportunitätsregeln durch die Polizei (Meyer-Goßner 2011, § 163 RN 2),
- am Ende des Verfahrens Vordringen der Opportunitätsregel des § 153 StPO in das streng am Begriff der Gesetzesverletzung orientierte strafrechtliche Revisionsrecht (§§ 337 I, 153 II StPO; Naucke 1992),
- Erstreckung des Opportunitätsprinzips auf das Privatklageverfahren (§ 376 StPO),
- keine Geltung des Legalitätsprinzips im Sicherungs- und Einziehungsverfahren (§§ 413, 440 I StPO),
- ausführliche Schilderung opportuner staatsanwaltlicher Handlungen in den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (Nr. 93 ff.),
- konsequente Verlängerung des Opportunitätsprinzips in das Kostenrecht (§ 467 IV StPO),
- Ausformung des Opportunitätsprinzips im Prozessrecht des Nebenstrafrechts (Beispiele: § 47 JGG; § 5 II WStG; §§ 31 a, 37 BtMG),
- prozessrechtliche Auszeichnung materiellrechtlich möglicher Opportunitätsentscheidungen unter dem Stichwort „Diversion und Mediation“ (Übersicht: Kühne 2010, Rn 258 ff.),
- die Vorverlagerung der materiellrechtlichen Möglichkeit, von Strafe abzusehen, vom Hauptverfahren auf den Beginn des Ermittlungsverfahrens (§ 153 b ff. StPO),
- als Folge die Aushöhlung des Klageerzwingungsverfahrens (F.-C. Schroeder 1974, S. 426 f.; Jans 1990), Begrenzung der Rechtsmittel gegen Opportunitätsentscheidungen (Naucke 1999) bei gleichzeitiger Neutralisierung der Rechtsbeugungsvorschrift des § 339 StGB für Opportunitätsentscheidungen (BGHSt 44, S. 258),
- dem Legalitätsprinzip nicht verpflichtete Gnadenentscheidungen kommen hinzu.
Das moderne, weit ausgreifende Ordnungswidrigkeitenrecht, das viele aus dem Strafrecht kommende Taten enthält, verpflichtet sich ohne Einschränkung auf das Verfahren nach Opportunität ( § 47 OWiG).
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In einer ununterbrochenen Entwicklung überwältigt nach 1877 das Opportunitätsprinzip mit vielfältigen materiellrechtlichen und prozessualen Instituten das Legalitätsprinzip.
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In der alltäglichen Praxis der Verfolgung eines Tatverdachts zeigt sich dies in den Formen, in denen das Ermittlungsverfahren beendet wird. Das Legalitätsprinzip kennt 1877 nur zwei Möglichkeiten: Anklage, weil der Tatverdacht sich erhärtet hat (§§ 152 II, 170 I StPO 1877), oder Einstellung des Verfahrens, weil der Tatverdacht sich nicht erhärtet hat (§§ 152 II, 170 II StPO 1877). Nach der Überwältigung des Legalitätsprinzips lässt sich das Ermittlungsverfahren in einer schwer genau zählbaren Formenmenge beenden. Neben Anklage und Einstellung mangels Tatverdachts treten mit gleichem prozessualem Gewicht: Absehen von der Verfolgung, opportune Einstellung des Verfahrens, Absehen von der Klage, Beschränkung der Strafverfolgung, Überführung des Ermittlungsverfahrens in ein Verfahren zum Täter-Opfer-Ausgleich (§§ 152 – 155 b StPO; Übersichten: F. - C. Schroeder 1974, S. 426; Bohnert 1992; Walk 1996). Die Verständigung im Hauptverfahren ist eine zusätzliche, verspätete Beendigung des Ermittlungsverfahrens.
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Dass diese strafprozessuale Lage nicht aus zufälligen juristischen Einfällen, sondern aus einer festen, nicht an eine bestimmte Theorie gebundenen Energiequelle entsteht, zeigt eine Prüfung dieser Lage am Beispiel des Strafprozessrechts der ehemaligen DDR, das sich zeitlich parallel zum Strafprozessrecht der BRD 1949 – 1989 entwickelt. Im Strafprozessrecht der ehemaligen DDR geht es nicht mehr um eine Wahl zwischen „Legalitätsprinzip, gemildert durch Opportunitätserwägungen“ oder „Opportunitätsprinzip, erträglich gemacht durch Anleihen am Legalitätsprinzip“. § 154 StPO-DDR in der Fassung von 1979 (GBl DDR, S. 139) formuliert überlegt das moderne Amalgam von Legalitätsprinzip, Opportunitätsprinzip und anderen Leitlinien für den Beginn der Strafverfolgung. Das Legalitätsprinzip gilt nur, wenn nicht ein Gesellschaftsgericht oder Opportunitätserwägungen Vorrang haben. Entsprechend zerfasern Beginn und Abschluss des Ermittlungsverfahrens.
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Dieser Gang der Entwicklung von der sorgfältig geformten Fassung des Legalitätsprinzips zum unbefragten Vorrang des Opportunitätsprinzips bei routinierter Erwähnung eines nicht näher bestimmten Legalitätsprinzips verlangt von der Strafrechtstheorie eine ergiebige Erklärung. Die Geltung des Legalitätsprinzips wird weiterhin gelehrt. Schließlich steht dieses Prinzip im Gesetz und schmückt das Handeln der Strafjuristen. Die Kraft des Vordringens des Opportunitätsprinzips in seinen Verzweigungen lässt sich aber nicht übersehen. In der wissenschaftlichen Lehre behilft man sich mit Formeln, die realitätsfern unterrichten. Das Opportunitätsprinzip sei „als Ausnahmeregelung mehrfach“ vorgesehen (Beulke 2012, Rn 17). Es gebe so viele Ausnahmen vom Legalitätsprinzip, dass in weiten Bereichen „praktisch“ das Opportunitätsprinzip gelte (Roxin/Schünemann 2012, § 14 Rn 6). „Das Legalitätsprinzip“ sei „so wesentlichen Ausnahmen ausgesetzt, sodaß es in erkennbarer Form nur noch in Bereichen schwerer und schwerster Kriminalität nachzuweisen ist“ (Kühne 2010, Rn 308). Aber selbst diese Formulierung bildet die strafprozessuale Realität nur unvollständig ab. Die opportune Verständigung im Strafverfahren (§ 257 c StPO) gilt auch für die schwere und schwerste Kriminalität.
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Dem positiven Recht entspräche es einzugestehen, dass das Modell „strafrechtliches Denken nach dem Legalitätsprinzip“ abgelöst ist durch das Modell „strafrechtliches Denken nach einem weit aufgefächerten Opportunitätsprinzip“ (P.A. Albrecht 2011, S. 99). Der folgende Text geht von einem solchen Eingeständnis aus und sucht nach einem Diskussionsrahmen, der den Zustand des positiven Strafprozessrechts erklären und zugunsten des Legalitätsprinzips desavouieren kann.
IV. Der Vorrang des Opportunitätsprinzips im Völkerstrafrecht und im geplanten europäischen Strafprozessrecht
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Bei dieser Suche hilft die Ausbildung moderner Rechtsbereiche nicht weiter. Das neuzeitliche Gebiet des nationalen Völkerstrafrechts überlässt mit einer unübersichtlichen Vorschrift weite Bereiche dem Opportunitätsprinzip (§ 153 f. StPO; Singelnstein/Stolle 2006). Das internationale Völkerstrafrecht geht den gleichen Weg. Art. 53 des IStGH – Statuts enthält eine auffällige, vermutlich die modernste Formulierung des Opportunitätsprinzips. Die allgemeine Regel ist, dass keine weiteren Ermittlungen vorzunehmen sind, wenn die Sache nicht schwerwiegend genug ist, um weitere Maßnahmen zu rechtfertigen (Art. 53 I b in Verbindung mit Art. 17 I d IStGH-Statut). Die Anklagebehörde braucht außerdem nicht weiter zu ermitteln, wenn „unter Berücksichtigung der Schwere des Verbrechens und der Interessen der Opfer dennoch wesentliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Durchführung der Ermittlungen nicht im Interesse der Gerechtigkeit liegt“ (Art. 53 I c IStGH-Statut). Diese Regel ist mit einem Verfahrensschritt gekoppelt, der Reste des Klageerzwingungsverfahrens zeigt. Die Vorverfahrenskammer kann die Anklage ersuchen, ihre Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, zu überprüfen. Wird mit der Begründung eingestellt, das Fortführen der Ermittlungen sei nicht im Interesse der Gerechtigkeit, kann die Bestätigung der Einstellungsentscheidung verweigert werden (Art. 53 III a, b IStGH-Statut). Die Entscheidung über den Beginn des Ermittlungsverfahrens im internationalen Völkerstrafrecht hängt also ab von der schwer kontrollierbaren Handhabung einer Summe aus zahlreichen Generalklauseln und schwer abgrenzbaren Ermessensbegriffen.
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Pläne zur Organisation einer europäischen Staatsanwaltschaft belegen den Verlust an festem Gehalt, den das Legalitätsprinzip seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Europa erfahren hat (Braum 2003, S. 194). Das Legalitätsprinzip hat seine grundsätzliche Bedeutung für den Strafprozess verloren. Entweder man erwähnt das Legalitätsprinzip, ohne die Größe des Problems kenntlich zu machen, und setzt praktisch auf die Opportunität, auch in der Form der Verständigung (Corpus Juris 2000, Art. 19 Abs. 4 IV; Delmas-Marty/Vervaele 2000, S. 81 f., 322 ff.); oder man redet einem Legalitätsprinzip mit opportunen Ausnahmen bzw. einem Opportunitätsprinzip mit legalen Ausnahmen das Wort (Grünbuch 2001, Frage 4, Ziffer 6. 2. 2. 1). Beide Pläne befinden sich in Übereinstimmung mit der beispielhaften strafprozessualen Entwicklung in Deutschland, die den Vorrang der Opportunität vor der Legalität geschaffen hat (P.-A. Albrecht 2011, S. 109). Mit Art. 86 AEUV - Grundlage für die Organisation einer europäischen Staatsanwaltschaft – hat man eine juristische Handhabe, diesen Zustand europarechtlich zu festigen.
V. Die vagen Begründungen des Opportunitätsprinzips
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Zugunsten des Opportunitätsprinzips lässt sich wenig prozesstheoretisch qualitätsvolle Argumentation finden. Diese Art der Argumentation kann man verlangen. Das Legalitätsprinzip enthält „das Verbot für die Staatsanwaltschaft, ihr zur Kenntnis gelangte strafbare Handlungen aus Zweckmäßigkeitsgründen unverfolgt zu lassen“ (Hertz 1935, S. 1). Es muss niveauvolle Gründe geben, damit dieses Verbot sanktionslos missachtet werden kann. Vom Beginn der Debatte an muss aber der Hinweis ausreichen, das Opportunitätsprinzip mache es der Staatsanwaltschaft möglich, „aus nichtstrafrechtlichen Zweckmäßigkeitserwägungen, also aus politischen, fiskalischen oder sonstigen Rücksichtnahmen auf öffentliche Interessen auf die Verfolgung eines Verdachts einer Straftat zu verzichten“ (Hertz 1935, S. 1). Diese Kriterien für den Verfolgungsverzicht sind jedoch von anspruchsloser Unklarheit.
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Dem Einwand der Unklarheit der Opportunitätskriterien begegnet man ohne begrifflichen Aufwand mit der Überlegung, die Kriterien seien gesetzlich festgelegt, das Ermessen, das die Unklarheit schaffe, sei die unbestimmte Form der gesetzlichen Bestimmtheit (F. - C. Schröder 1974, S. 412, 425 ff.; Kühne 2010, Rn 309). Dem Opportunitätsprinzip wird die Fähigkeit zugeschrieben, die gesetzlich gebundene Strafverfolgung „auf das Wesentliche“ zu konzentrieren, wobei der Inhalt dieses Wesentlichen offen bleibt (Volk 2010, § 12 Rn 13). Das Opportunitätsprinzip erscheint als modern, das Legalitätsprinzip als ` „hehr“ `, antiquiert (Volk 2010, § 12 Rn 13). Zugunsten des Opportunitätsprinzips wird auch behauptet, es sei „legitim, Schwerpunkte zu setzen“ (Volk § 12, Rn 13). Eine solche selbstsichere Feststellung teilt aber nur mit, dass das Handeln nach dem Opportunitätsprinzip dem strafprozessualen Zeitgeist entspricht. Das wusste man freilich schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als das Opportunitätsprinzip begann, sich in der StPO breitzumachen: der Umfang des Legalitätsprinzips sei abhängig vom „Wechsel der gesellschaftlichen und staatlichen Anschauungen“ über die Bestrafung (E. Richter 1925, S. 61). Für die Begründung einer wichtigen strafprozessualen Maxime reicht das nicht. Die Legitimation eines strafrechtlichen Instituts ist gehaltlos, wenn Legitimation nicht mehr als Zeitgemäßheit ist. Die Frage nach der Legitimität des Opportunitätsprinzips ist gerade die Frage nach der Legitimität des strafprozessualen Zeitgeistes.
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Ein gewisses Maß begrifflicher Anstrengung, die Rechtmäßigkeit opportunen Entscheidens im Strafprozess zu halten, findet man in dem Argument, wer sich als Betroffener auf opportune Verfahren einlasse, legitimiere dieses Verfahren in der Form des Konsenses mit den Inhabern der Strafmacht im Strafprozess (kritischer Überblick: Prelle 2011; für die Verständigung: Lüderssen 1995, S. 323 ff.). Aber dieses Argument könnte nur dann Anspruch auf ausführliche Erörterung machen, wenn es Kants Verdikt, es sei „keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will“ (Kant – 1797-, Ausgabe 1954, S. 163) und die daran anknüpfende Erledigung der „Einwilligungstheorie“ der Strafe (Feuerbach 1797, S. 222 f.) aufnähme und widerlegte (Sinner 1999). Dieser Aufwand wird nicht getrieben.
VI. Die vagen Begründungen des Legalitätsprinzips
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Es ist stets versucht worden, die Auseinandersetzung zwischen Legalitäts- und Opportunitätsprinzip auf eine wissenschaftlich aussagekräftige Grundlage zu stellen. Zwei Linien lassen sich deutlich wahrnehmen: der Versuch, die Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien an die Straftheorie-Diskussion zu binden (Übersicht: Deiters 2006), und der Versuch, die Auseinandersetzung als abhängig von einer bestimmten Staatsform zu führen (klar, am Beginn der NS-Zeit: Hertz 1935).
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Das Legalitätsprinzip scheint eine zumindest atmosphärische Nähe zur Vergeltungstheorie zu haben. Hält man die Strafe für ein Übel, veranlasst durch ein vorangegangenes Übel, so kann man das Legalitätsprinzip auffassen als Mittel, das Übel für ein Übel zu sichern. Die Verfassung des Legalitätsprinzips der StPO 1877 lässt sich dann mit der damaligen Vorherrschaft einer Vergeltungstheorie erklären (Hertz 1935, S. 40 ff., 54 f.). Aber das ist zu einfach. Lange vor der StPO 1877 ergibt die Debatte über die Zweckmäßigkeit negativer Generalprävention, dass der Erfolg dieser Art der Prävention abhängt von der zügigen ausnahmslosen Verfolgung aller Gesetzesverletzungen (Feuerbach 1805, §§ 13 ff.).
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Die Ausarbeitung der Theorie der positiven Generalprävention kann das Legalitätsprinzip sogar genauer begründen als die Vergeltungstheorie (Deiters 2006; Hassemer 1990, S. 324 ff.).
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Die Theorie der Spezialprävention verzichtet nicht darauf, die Einwirkung auf den Täter von der Einhaltung des Legalitätsprinzips abhängig zu machen. Der Begründer der modernen spezialpräventiven Straftheorie, Franz v. Liszt, wird dafür gerühmt, er habe das Strafgesetz als Grenze auch spezialpräventiver Kriminalpolitik anerkannt (Zusammenfassung: Ehret 1996).
37
Alle Straftheorien können sich bei gleichlaufender Hochschätzung des Legalitätsprinzips dennoch mit dem Opportunitätsprinzip arrangieren. Die Anhänger der Vergeltungstheorie berufen sich schon im 19. Jahrhundert zur Zeit der Vorherrschaft der Vergeltungstheorie darauf, dass auch vergeltendes Strafen nach dem Legalitätsprinzip nicht „in eine unpraktische Konsequenzmacherei ausarten“ dürfe (Glaser 1883, S. 533; Heinze 1876, S. 267, 295; Hertz 1935, S. 54). Die positive Generalprävention öffnet sich dem Opportunitätsprinzip, wenn die durch Strafe zu stabilisierende Norm außerhalb strafrechtlicher Kernbereiche liegt (Deiters 2006, S. 211 f.). Die Spezialprävention hält den Weg zur opportunen Strafverfolgung offen, wenn strafende Spezialprävention mehr schadet als nützt ( Übersichten: Pott 1996, S. 25 f.; Erb 1999, S. 157 f.).
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Die Debatte um die Begründung des Legalitätsprinzips und um das Verhältnis von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip bestätigt den Gang der Entwicklung dieser Prinzipien seit dem 19. Jahrhundert. Das Legalitätsprinzip wird zur theoretischen Sicherung des Strafens geschätzt. Mit dem Opportunitätsprinzip wird aber die reale Macht über das Strafen befestigt. Sprache und Begrifflichkeit der Straftheorie-Debatte können dieser Entwicklung nicht entgehen, bilden sie lediglich ab.
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Ganz ähnlich endet die weniger ausgeprägte Debatte über das Verhältnis von Staatsform und Legalitätsprinzip. Das Legalitätsprinzip wird 1877 in einer Monarchie mit parlamentarischer Kontrolle formuliert. In dieser Zeit steht das Legalitätsprinzip ziemlich makellos im Gesetz. In dieser Zeit bildet aber das Opportunitätsprinzip durch die StPO-Reformvorschläge seine kräftigsten Institute aus (Hertz 1935, S. 59 ff.). Der demokratische Staat nach dem 1. Weltkrieg prägt die förmliche Einschränkung des Legalitätsprinzips durch das Opportunitätsprinzip in der StPO. § 153 StPO, unerschöpfliche Quelle für weitere opportune Formen der Strafverfolgung, gelangt 1924 in die StPO (Vormbaum 1988). Die NS-Diktatur hebt das Legalitätsprinzip zunächst nicht auf, führt aber in Gesetzgebung und in gesetzlich nicht gebundenem strafendem Handeln das Opportunitätsprinzip massiv weiter (Werle 1989, S. 368 ff.). Die Bundesrepublik nimmt den Zustand vom Ende der NS-Diktatur zunächst ein Stück zugunsten des Legalitätsprinzips zurück. Ab Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts explodieren jedoch die demokratische Gesetzgebung und Rechtsanwendung zugunsten des Opportunitätsprinzips (Übersicht: Erb 1999, S. 67 ff.).
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Aus der Staatsform lässt sich kein Programm zur festen begrifflichen Gründung des Legalitätsprinzips, auch nicht des Opportunitätsprinzips entnehmen. Diese Gründung hat offenbar ein Programm, das von Straftheorie und Staatsform unabhängig ist.
VII. Die Abhängigkeit des Legalitätsprinzips vom Zustand der strafrechtlichen Gesetzlichkeit
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Die Debatte um die Möglichkeit, das Legalitätsprinzip fest zu begründen, muss die Verbindung zum Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht insgesamt wiederherstellen. Gesetzlichkeitsprinzip und Legalitätsprinzip werden regelmäßig getrennt voneinander erörtert, das Gesetzlichkeitsprinzip als Institut des materiellen Strafrechts (Krey 1983; Schünemann 1978; Kudlich u. a. 2012; Hilgendorf u. a. 2012), das Legalitätsprinzip als Institut des prozessualen Strafrechts (Hertz 1935; Erb 1999; Döhring 1999; Deiters 2006). Wird die Bedeutung des materiellrechtlich aufgefassten Prinzips der Strafgesetzlichkeit ausdrücklich für den Strafprozess debattiert, so gerät das Opportunitätsprinzip nicht in den Blick (H. C. Mayer 1991; Jahn und Kudlich, in: Kudlich u. a. 2012, S. 223 ff., 233 ff.). Entschiedene Hinweise darauf, dass strafrechtliche Gesetzlichkeit und strafprozessuale Legalität Teile des gleichen strafrechtlichen Gedankens sind, bleiben rar (Pott 1996, S. 10 f.; Kahlo 1997, S. 206 f.; Rzepka 2000, S. 350 f.; Braum 2003, S. 338; Kühne 2010, Rn 306).
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Die Forderung nach entschiedener Gesetzesbestimmtheit des gesamten Strafrechts ist freilich die einzige aussichtsreiche Möglichkeit, das Legalitätsprinzip zu begründen und das Verhältnis von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip zu bestimmen.
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Das Gesetzlichkeitsprinzip fasst das Bestrafen und das Maßregeln als Ausübung von Macht auf, gleichgültig, wie diese Macht staatstheoretisch oder straftheoretisch begründet ist. Das Gesetzlichkeitsprinzip sieht diese Macht als gefährlich an und will sie fest begrenzen. Diese Begrenzung erreicht das Gesetzlichkeitsprinzip mit folgenden Entscheidungen: Die Strafmacht muss dem einzelnen mächtigen Strafenden entwunden und allein dem Gesetz anvertraut werden; nicht Menschen, sondern Gesetze sollen herrschen (§ 1 GVG). Dieser Satz trägt die materiellen Strafgesetze und trägt die strafprozessuale Legalität. Die Ausarbeitung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit im Analogieverbot, Rückwirkungsverbot, Bestimmtheitsgebot und Verbot des Gewohnheitsrechts kommt den Strafprozessgesetzen zugute (Roxin/Schünemann 2012, § 14 Rn 2; Kühne 2010, Rn 306). Das Legalitätsprinzip verlängert das ausgearbeitete Gesetzlichkeitsprinzip in den Strafprozess. Das Gesetzlichkeitsprinzip als Herrschaft des Gesetzes liefe leer, hätte es nicht im Legalitätsprinzip seine prozessuale Realisierung. Das Legalitätsprinzip sichert die Herrschaft des genauen, gegen Analogie, Rückwirkung und juristische Gewohnheit verteidigten Gesetzes im Prozess.
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Der Gedanke der Gesetzlichkeit als Herrschaft des Gesetzes und nicht eines Menschen (Polizeibeamten, Staatsanwalts, Richters) macht bei seinem Entstehen eine Voraussetzung, die ihn gefährdet. Diese Voraussetzung ist, dass in das Strafgesetz nur das Gesetzwürdige gelangt, dass das Strafgesetz immer vernünftig und dass diese Vernünftigkeit zeitlos ist.
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Die Gesetzlichkeit im Strafrecht will die Herrschaft des zeitunabhängigen, vernünftigen Gesetzes erreichen. Im Prozess wirklich gemacht wird dieses Wollen durch das Legalitätsprinzip. Im Gesetzeszustand von 1877 repräsentiert das Legalitätsprinzip die Herrschaft des vernünftigen Gesetzes im Prozess, weist die Herrschaft eines mächtigen Menschen über einen weniger mächtigen Menschen ab. Das ist keine begriffliche Verschönerung des Strafprozesses, setzt vielmehr seine Hässlichkeit voraus und versucht, sie zu begrenzen. Das Opportunitätsprinzip ist der theoretisch und praktisch aggressive Widerpart des Gesetzlichkeitsprinzips.
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Das Opportunitätsprinzip verwirft das Gesetzlichkeitsprinzip als Herrschaft des Gesetzes anstelle der Herrschaft von Menschen, verwirft die Voraussetzung dieses Prinzips, nämlich ein festes Urteil über strafwürdiges Verhalten, verwirft die Möglichkeit einer Abbildung invarianter inhaltlicher Richtigkeit im Gesetz und verwirft damit die prozessuale Stütze dieser Art der Gesetzlichkeit, das Legalitätsprinzip. Vor allem das Verwerfen der Voraussetzung „invariante inhaltliche Richtigkeit“ für das Denken in den Formen der Gesetzlichkeit verschafft der Opportunität im Strafprozess die geschilderten, unerschöpflichen Ausdehnungsmöglichkeiten. Versucht wird, diese Ausdehnung als strafrechtstheoretisch modern zu interpretieren, als Reaktion auf die zunehmende Pluralisierung und Geschichtlichkeit, damit auf die ständige Anpassungsbedürftigkeit strafrechtlicher Regeln (Hassemer 1992, S. 532 ff.). Das Entscheidende des Vorgangs wird dabei übersehen.
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Zwischen der strafrechtlichen Gesetzlichkeit und dem Legalitätsprinzip einerseits und dem Opportunitätsprinzip andererseits gibt es keine Kompromisse. Entweder Gesetzlichkeit im materiellen Strafrecht und kongeniale Legalität im Strafverfahren oder Opportunität im materiellen und im prozessualen Strafrecht. Aus der machtbegrenzenden Herrschaft des Gesetzes, ausgedrückt im Legalitätsprinzip, wird beim Übergang zum Opportunitätsprinzip die machtstützende Tätigkeit der Strafjuristen nach offenen Regeln.
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Es ist deshalb nicht lehrreich, den gegenwärtigen strafprozessualen Zustand als Legalitätsprinzip mit Ausnahmen (Mayer-Goßler 2011, § 152 Rn 7) oder mit zunehmenden Ausnahmen (Roxin/Schünemann 2012, § 14 Rn 5) aufzufassen. Das Vordringen des Opportunitätsprinzips ist eine Folge der Schwächung des Gesetzlichkeitsprinzips überhaupt (Pott 1995). Diese Schwächung zeigt sich in der Zunahme ungenauer, mit Generalklauseln arbeitender Gesetze (Schünemann 1978, S. 6 ff.), in der Lahmlegung des Analogieverbots durch die objektive Auslegung (E. Simon 2005), in der Geringachtung des Rückwirkungsverbots bei der Auslegung und in der Gesetzgebung (BVerfG NJW 1990, S. 3140 zur rückwirkenden Auslegung; § 66 b StGB in der Fassung von 2004 zur rückwirkenden Verschärfung eines Gesetzes). Das Strafgesetz ist nicht länger Gefäß für die Bedingungen richtiger Bestrafung, prägt nicht länger die Verfassung des Denkens über und das Handeln zwischen Personen. Das Gesetz ist zeitgebundenes, stets änderbares Mittel gesellschaftlicher Steuerung, unterliegt den aktuellen Vorstellungen des Menschen, der es in einem Amt autoritativ handhaben kann. Das Opportunitätsprinzip drückt für den Strafprozess die Schwäche der Gesetzlichkeit im gesamten Strafrecht aus. Eine Möglichkeit, das Opportunitätsprinzip als eigenständiges Institut aufzufassen und begrenzend oder ausdehnend zu debattieren, besteht nicht. Das aktuelle Regiment des Opportunitätsprinzips ist das strafprozessuale Abbild des Standes der strafrechtlichen Gesetzlichkeit überhaupt.
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Es ist nicht aussichtsreich, weiterhin Gesetzlichkeits- und Opportunitätsprinzip gegeneinander zu setzen und nach Ausgleich zu suchen (F. - C. Schroeder 1974, S. 411 ff., 425 f.). Man hintergeht sich damit juristisch selbst. Noch einmal: zwischen dem gegenwärtigen abgeschliffenen Zustand der Gesetzlichkeit (Naucke 1995, S. 483 ff.) und dem ständigen Vordringen opportunen Handelns im Strafprozess besteht Harmonie.
VIII. Strafrechtliche Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip als begrenzende, strafrechtlicher Positivismus und Opportunitätsprinzip als offene Machtverfassung am Beginn des Strafprozesses
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Aussichtsreicher und rechtsphilosophisch interessanter ist es, zwei strafrechtliche Denkweisen scharf zu unterscheiden.
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Eine Denkweise besteht auf einem engen Rechtsbegriff, der wechselnden politischen Auffassungen, wechselnden Straftheorien und wechselnden Staatsformen nicht unterliegt. Diese Denkweise führt zu Rechtsgesetzen, die – im Strafrecht – Täter und Opfer in gleicher Weise rechtlich anerkennen, das Opfer, indem die zurechenbare Überwältigung seines Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Freiheit als feststehendes strafwürdiges Unrecht in ein auf Richtigkeit Anspruch erhebendes Gesetz geschrieben wird, den Täter, indem die Bestrafung des zurechenbaren strafwürdigen Unrechts aus den Händen eines zufällig zuständigen Amtsinhabers genommen und dem prozessuale Macht kontrollierenden Gesetz anvertraut wird.
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Nur aus diesem respekterheischenden Gesetzesbegriff lässt sich die juristische Vorstellung verstehen und praktisch machen, dass ein Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sein kann (§ 1 GVG), dass ein Gesetz „verletzt“ werden kann und dass nach der Verletzung des Gesetzes gehandelt werden muss (Legalitätsprinzip). Eine solche Vorstellung unterstreicht die Ausnahmestellung, die man dem strafenden Gesetz zuschreibt (P.-A. Albrecht 2003, S. 87ff.). Eine solche Vorstellung findet man in keinem anderen Rechtsgebiet. Die Missachtung zivilrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Gesetze bleibt folgenlos, solange niemand die Missachtung beanstandet. Selbst die Verletzung des Verfassungsgesetzes ist belanglos, solange sich niemand dagegen wehrt.
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Diese Denkweise hängt von keiner Straf- und keiner Staatstheorie ab. Opportunitätserwägungen kann sie nicht aufnehmen. Die StPO 1877 kommt dieser Denkweise nahe, formt sie aber nicht aus, unterschätzt die hohen Anforderungen an die Begründung einer solchen Denkweise, schützt sie daher nicht ausreichend gegen das moderne Opportunitätsdenken, bleibt floskelhaft. Respekt vor dieser Denkweise wird noch spürbar, wenn die unkontrollierte Ausdehnung der Opportunitätsregeln im Strafprozess nicht länger als Ausnahme vom Legalitätsprinzip eingeordnet wird, vielmehr Legalitäts- und Opportunitätsregeln als zwei deutlich getrennte Rechtsinstrumente aufgefasst werden, die für inhaltlich deutlich unterschiedene Rechtsgebiete arbeiten (Hassemer 1992, S. 532; Erb 1999, S. 265 ff.; Deiters 2006, S. 211, 289 f.). Man findet weiter Residuen der Denkweise der StPO 1877, wenn registriert wird, dass das Legalitätsprinzip doch nicht als überholt aufgefasst werden dürfe (Roxin/Schünemann 2012, § 14 Rn 2) oder dass bei schweren Straftaten das Legalitätsprinzip noch gelte (Kühne 2010, Rn 308).
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Die zweite, die opportune Denkweise, hat mit strafrechtlicher Gesetzlichkeit nichts mehr zu tun. Große und kleine, politische und ökonomische Krisen erzeugen einen unklaren Handlungsbedarf im gesamten Strafrecht. Der Handlungsbedarf führt zu einer Regel, die man Gesetz nennt. Dass man diese Regel weiterhin Gesetz nennt, wird darauf beruhen, dass man auf das repressive Klima, das von dem Wort „Gesetz“ ausgeht, nicht verzichten will. Aber die bedarfsangemessene Regel ist nicht mehr als eine positivierte Regel. Es entsteht – im Strafrecht – der Unterschied zwischen strafrechtlicher Gesetzlichkeit und strafrechtlichem Positivismus (Naucke 1995, 2007). Strafrechtliche Gesetzlichkeit mit der Folge „Legalitätsprinzip“ ist die Denk- und Institutionenverfassung des Schutzes der individuellen Freiheit gegen überwältigende Macht. Strafrechtlicher Positivismus mit der Folge „Opportunitätsprinzip“ ist die flexible, oberflächliche Auflösung einer Krise durch eine politische Macht im Interesse dieser Macht.
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Der strafrechtliche Positivismus ist gekennzeichnet durch alle juristischen Techniken, die die Schwächung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit herbeiführen. Um diese Techniken zu wiederholen:
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Der strafrechtliche Positivismus begnügt sich, im Unterschied zur strafrechtlichen Gesetzlichkeit, mit einem schnellen, undurchdachten Gesetzgebungsverfahren, akzeptiert Ermächtigungsgesetze, arbeitet mit fest organisierten Mehrheiten, hemmt das Analogieverbot durch die engagierte Anerkennung der objektiven Auslegung, schätzt das strafrechtliche Rückwirkungsverbot gering, wendet Gewohnheitsrecht unter dem Titel „ständige Rechtsprechung“ an, macht bei ihrem Entstehen genau bestimmte Gesetze wie den Betrug durch unübersichtliche Auslegung unbestimmt und integriert unverständliche Bestimmungen wie Untreue und Geldwäsche in das bedarfsgemäße Strafrecht ohne intellektuelle Mühe.
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Gehandhabt werden kann der strafrechtliche Positivismus im Prozess nur, wenn man einer zufällig zuständigen Person Handlungsermessen gibt. Das Opportunitätsprinzip enthält die den politisch willfährigen strafrechtlichen Positivismus praktisch machende strafprozessuale Handlungsmaxime. Das Opportunitätsprinzip macht nicht Ausnahmen vom Legalitätsprinzip, ist vielmehr der selbständige, vitale Gegner des Legalitätsprinzips. Das massive Vordringen des Opportunitätsprinzips macht die Leitung des Strafrechtssystems durch den strafrechtlichen Positivismus und macht das Ende der strafrechtlichen Gesetzlichkeit unübersehbar.
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Die Linien notwendiger Auseinandersetzung sind damit gezeichnet. Es geht nicht um mehr Legalität oder mehr Opportunität. Es geht um den Streit zwischen der Herrschaft des materiellen und prozessualen Gesetzes als verfasster Machtbegrenzung im Strafprozess und der Herrschaft eines Menschen über einen anderen Menschen mit Hilfe zeitgemäßer, vorübergehend und offen positivierter Plausibilitäten im materiellen und prozessualen Strafrecht. Diese Auseinandersetzung kann nicht den Weg gehen, der 1877 zum Legalitätsprinzip geführt hat. Die Probleme sind schwieriger geworden. Vor allem die Beobachtung, dass alle Straftheorien und alle Staatstheorien das Opportunitätsprinzip als Vervollständigung des strafrechtlichen Positivismus auffassen, zwingt zu Aufmerksamkeit und begrifflicher Anstrengung. Offenbar sind Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip eine juristische Kunstform, die immer neu erworben werden muss, strafrechtlicher Positivismus und Opportunitätsprinzip dagegen eine Art juristischer Naturzustand, der nur eine leicht erwerbbare Anpassung an den Zeitgeist, den man ohnehin kennt, verlangt.
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Der Übergang von der strafrechtlichen Gesetzlichkeit mit strafprozessualem Legalitätsprinzip zum strafrechtlichen Positivismus mit strafprozessualem Opportunitätsprinzip stellt das Problem der grundsätzlichen Strafrechtsorganisation neu. Soll ein Mensch – König, Kanzler, Präsident, Staatsanwalt, Richter, Verteidiger, Opfer, in die Strafe einwilligender Täter – nach Ermessen strafen oder soll das Gesetz mit seiner realitätsnahen Stütze, dem Legalitätsprinzip, herrschen? Die StPO 1877 hat das Problem so schwach gelöst, dass es offengeblieben ist und sich zugeschärft hat. Die strafrechtliche Gesetzlichkeit und das Legalitätsprinzip sind nicht weitergedacht worden, der strafrechtliche Positivismus und das Opportunitätsprinzip finden bei einer großen Zahl von Amtsinhabern Zustimmung, verleihen diese Institute doch Macht über das Strafen bis zur Willkür.
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Entsteht der Verdacht einer strafbaren Handlung, so kann der Täter sich nicht darauf verlassen, dass klare materielle und prozessuale Gesetze den weiteren Gang des Verfahrens verlässlich prägen. Beinahe alle Möglichkeiten, die unter Ziff. 1 dieses Artikels genannt worden sind, können nach positivem Recht genutzt werden. Die Strafmacht, die im Beginn eines Strafverfahrens liegt, hat seine Widersacher, Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip, nicht mehr einzurechnen.
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Eine Aussicht, diesen Zustand zu ändern, besteht solange nicht, solange sich die richterliche und die gesetzgeberische Praxis und Wissenschaft mit diesem Zustand einrichten. Dieses Einrichten geht leicht. „Über der Opportunität steht die Gerechtigkeit“ (Glaser 1883, S. 535). Das beruhigt. Freilich ist die Berufung auf Gerechtigkeit im alltäglichen opportunen strafrechtlichen Entscheiden gehaltlos. Also begnügt man sich mit der Positivität der Opportunität. Man muss dabei hinnehmen, dass die immer neue Positivierung opportuner Strafrechtsregeln die Verfasser solcher Regeln von begrifflicher Anstrengung und Bemühen um Genauigkeit entlastet, Strafbarkeit erst im Lauf des Strafprozesses entsteht, eine Zusammenarbeit von Regelverfasser und Regelnutzer Normalität ist – wie dies nach der Aufhebung des Analogieverbots 1935 für selbstverständlich gehalten wurde (Amtliche Begründung zum Gesetz vom 28. 6. 1935, S. 28) – und die Gewaltenteilung, mit ein wenig schlechtem, den guten Juristen kennzeichnenden Gewissen abgeschliffen wird.
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Versuche, das strafrechtliche Opportunitätsgebiet neu zu strukturieren (Deiters 2006, Kap. 9), gehen nicht weit genug. Sie beruhen auf der Trennung von nicht opportunitätsfähigem und opportunitätsgeneigtem Strafen, beide Gebiete positiviert. Diese Annäherung verkürzt das moderne Problem der materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Organisation des Strafens und unterschätzt die prinzipielle Neuausrichtung nach Opportunität des gesamten juristischen Klimas beim Sanktionieren.
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Was aus dem materiellen und prozessualen Inhalt des StGB, der StPO, des Nebenstrafrechts und des Nebenstrafprozessrechts unter dem Regime des positivierten Opportunismus geworden ist, lässt sich nicht ermitteln. Kein Kommentar zu einem „Gesetz“ aus dem Gebiet des gesamten Strafrechts ist in der Lage anzugeben, welchen Inhalt „Gesetze“ nach dem Durchgang durch opportunes Strafrechtsdenken noch haben.
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Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip gehen davon aus, dass das Strafen das Maßregeln und das Verhängen von Bußen Ausüben von Macht ist, dass Macht für die Freiheit des Einzelnen gefährlich werden kann, daher einer klaren begrenzenden Verfassung zu unterwerfen ist, einer Verfassung, die zugleich dem Opfer die achtbare Stellung eines Opfers von Unrecht gibt. Strenge Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip sind die Gewähr dafür, dass sanktionierende Macht Grenzen hat. Der Ausbau des Opportunitätsprinzips zerstört diesen Zusammenhang, verharmlost den Machtzuwachs beim Sanktionieren für die Erzeuger und die Inhaber der Sanktionsmacht. Die ständig wachsende Durchdringung des gesamten Strafrechts mit Opportunitätsregeln ist unrechtliche Machtvermehrung, ist politisches Denken (P.-A. Albrecht 2011, S. 59 f.). Gesetzlichkeit und Legalitätsprinzip gewinnen nur dann wieder Ansehen und praktische Wirksamkeit, wenn jede Sanktion als Machtäußerung und Recht als Machtbegrenzung gedacht wird. Argumentieren mit Opportunitätsrücksichten ist kein Rechtsdenken (Glaser 1883, S. 533). Der Gang von der richtigen Legalität zur relativen Opportunität im Strafprozess ist der Gang von der verfassten Macht des Strafens zur ungewissen Nutzung der Strafmacht.
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X. Verwandte Themen
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