Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach
Erstpublikation: 06.04.2011
I. Biographie
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Feuerbach wurde am 14. November 1775 in dem thüringischen Dorf Hainichen bei Jena geboren. Er wuchs in Frankfurt/Main auf. Sein Vater war Advokat. Ab 1792 studierte Feuerbach an der Universität Jena, die damals ein Zentrum der Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie war. Zunächst war Feuerbach in der philosophischen, ab 1796 in der juristischen Fakultät eingeschrieben. Er promovierte in beiden Fächern (1795, 1799). 1798 heiratete er die Jenenserin Wilhelmine Tröster.
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Ab dem Sommersemester 1799 hielt Feuerbach in Jena juristische Vorlesungen. Die 1799/1800 in zwei Bänden erschienene Monographie „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts“ machten ihn bekannt. Feuerbach wurde 1800 außerordentlicher, 1801 ordentlicher Professor in Jena. 1801 wurde er zum Mitglied des Schöppenstuhls in Jena berufen, eines Gerichts, das nach dem damaligen Prozeßrecht aus Mitgliedern einer juristischen Fakultät bestand und Entscheidungsvorschläge für Gerichte formulierte (im Strafrecht z. B. über die Zulässigkeit der Folter oder der Todesstrafe in konkreten Verfahren).
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1802 wechselte Feuerbach an die Universität Kiel und setzte seine Richtertätigkeit am Kieler Schöppenstuhl fort. 1804 folgte er einem Ruf an die Universität Landshut, der Vorgängerin der Universität München. Nach heftigen Auseinandersetzungen in der Fakultät beendete Feuerbach 1805 die Universitätslaufbahn.
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Im gleichen Jahr wurde Feuerbach zum Referenten in dem für Gesetzgebung zuständigen königlichen bayrischen Ministerium in München ernannt. Zentrale Aufgabe Feuerbachs war die Vorbereitung eines neuen bayrischen Zivilgesetzbuchs und eines neuen bayrischen Strafgesetzbuchs. Das weithin beachtete Bayrische Strafgesetzbuch von 1813 beruhte auf einem Entwurf Feuerbachs. Ab 1814 war Feuerbach Richter in hohen Ämtern in Bamberg und Ansbach. Er war jetzt ein berühmter Gelehrter, Staatsbeamter und Richter, ausgezeichnet mit einem persönlichen Adelstitel und vielen Orden, ernannt zur Exzellenz und zum Wirklichen Staatsrat. Bei einem Aufenthalt in Frankfurt/Main 1833 ist er gestorben.
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Der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) war sein Sohn, der Maler Anselm Feuerbach (1829 – 1880) sein Enkel.
II. Die rechtsphilosophische Bedeutung Feuerbachs
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Eine eigene Rechtsphilosophie hat Feuerbach nicht entwickelt. Die Rechtsepoche um 1800, in die Feuerbach hineinwächst, versteht sich als Epoche der philosophischen Rechtswissenschaft (Kesper-Biermann/Klippel 2007, S. 211 ff.). Diese Rechtswissenschaft sieht ihre Aufgabe in der Formung des Rechts nach den Prinzipien der Aufklärung, verstanden als Säkularisierung, Rationalisierung und Humanisierung des Rechts, insbesondere des Strafrechts. Ob sich die Epoche der Schwierigkeit und der Zwiespältigkeit der Aufgabe bewußt war, ist den zeitgenössischen Texten nicht zu entnehmen. Die Aufgabe fordert jedenfalls das Denken in Prinzipien. Dieses Denken ist nur möglich, wenn man die Hauptwerke der rechtlichen Aufklärung diskutieren kann. Feuerbach zeigte die Beherrschung dieser Art der philosophischen Rechtswissenschaft schon in den frühen Veröffentlichungen, freilich ohne besonderes Profil (Über die einzig möglichen Beweisgründe 1795; Kritik des natürlichen Rechts 1796). In diesen frühen Veröffentlichungen führt Feuerbach Hobbes, Montesquieu, Rousseau, Kant „u. s. w.“ als seine philosophischen Vorbilder auf mit einer besonderen Neigung für Rousseaus „Contract social“ (Anti-Hobbes 1798, S. XVII f.). Montesquieus Kritik aller Staatsformen (Über den Geist der Gesetze, 2. Aufl. Genf 1758) und Kants erkenntnistheoretischen Kritizismus (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. Riga 1787) hinterlassen keine Spuren in Feuerbachs frühen Texten.
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Einen Ruf als rechtsphilosophisch denkender Jurist erwirbt sich Feuerbach durch seine Arbeiten zu strafrechtlichen Grundlagenproblemen und zu strafrechtlichen Einzelfragen um 1800. Die „Revision“ (1799/1800) und das „Lehrbuch“ (1. Aufl. 1801) gelten heute als Quelle eines modernen, staats- und rechtsphilosophisch argumentierenden Strafrechts und einer streng systematisch, nach philosophischen Grundsätzen arbeitenden Strafrechtswissenschaft (Stintzing/Landsberg 1910, S. 111 f; Lüderssen 1968, S. 15 f.; Vormbaum 2009, S. 43 ff.).
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Feuerbachs philosophischer Gewährsmann ist in dieser Zeit vorwiegend Kant. 1799 – die „Revision“ ist im Druck – formuliert er, der „Kant'sche Geist“ habe ihn „genährt“ (Feuerbachs Leben und Wirken, 1. Band 1853, S. 51). Zugleich aber verfolgt er die aufklärerische Linie als philosophische Strafrechtswissenschaft weiter. In beiden Bänden der „Revision 1799/1800“ und in den frühen Auflagen des „Lehrbuchs“ zitiert und übernimmt Feuerbach parallel zu den Kant-Nachweisen die damaligen Protagonisten des aufgeklärten Strafrechts (Cattaneo 1970). Feuerbach beruft sich auf Beccaria (Revision 1 1799, S. XII), ohne Kants scharfe Zurückweisung Beccarias (Kant, Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797, Erster Teil, Allgemeine Anmerkung E I nach § 49) zu notieren. Die Bewunderung für Hobbes' Staatsbegriff als Grundlage des Strafrechts (Anti-Hobbes 1797, S. 47 ff.) und die Berufung auf Rousseau zur Rechtfertigung staatlicher Strafe (Anti-Hobbes 1797, S. 19 ff.) nimmt Feuerbach nicht zurück. „O Staat!“ ruft Feuerbach 1804 aus, um seine Verehrung für die säkulare, rationale Zweckmäßigkeit staatlicher Organisation auszudrücken (Über Philosophie und Empirie 1804, S. 13).
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Die Bedeutung Feuerbachs für die Rechtsphilosophie besteht in seinem Bemühen, aufgeklärtes, zweckmäßiges, politisch abhängiges Recht und kantisch gedachtes zweckfreies, unpolitisches, reines Recht als Einheit vorzustellen. Feuerbachs Straftheorie des psychologischen Zwanges = Theorie der negativen Generalprävention gilt bis in die Gegenwart als Modell für die Möglichkeit einer solchen Einheit. Das rechtsphilosophische „Modell Feuerbach“ ruht auf folgenden Annahmen: das gesetzmäßige Strafrecht ist ein zweckdienliches Mittel zur Verhütung von Straftaten, also ein staatliches Regierungsinstrument; dieses gesetzmäßige zweckdienliche Strafrecht ist aber mit Kants Forderungen, verbindliches Recht könne nur ein zweckbefreites Recht sein, vereinbar.
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Feuerbachs zweckmäßige kantianisierende Strafrechtsphilosophie in Einzelheiten:
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Feuerbach beschränkt die Reichweite des Strafrechts, des Rechts überhaupt, durch die Gegenüberstellung von Gesinnung und Handlung. Recht könne sich nur auf Handlungen beziehen. Zur Begründung spielt Feuerbach auf eine Kantstelle an (Kant, Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797, Einleitung in die Rechtslehre § C): das „höchste Prinzip“ des Rechts sei, dass die äußere Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller bestehe; dies sei ein „notwendiges Gesetz der Freiheit“ (Revision 1 1799, S. 24). Feuerbach weist die Kantstelle aber nicht nach, was ihn davon befreit, Kants langwierige erkenntnistheoretische Ableitung und die vollständige Formulierung Kants für ein oberstes Rechtsprinzip nachzubilden. Für die Trennung von Gesinnung und Handlung, von Moral und Recht kommt Feuerbach über eine den kantischen Sprachgebrauch andeutende Behauptung nicht hinaus. Dieses Verfahren gewinnt freilich Autorität. Feuerbach gilt als kantnaher Mitbegründer der aufgeklärten Trennung von Moral und Recht (E. Schmidt 1965, § 224). Nicht zuletzt der schwache Kantianismus Feuerbachs bei der Unterscheidung von Moral und Recht mag eine Mitursache dafür sein, dass spätere politisch machtvolle Gesetzgeber diese Trennung mühelos missachten konnten (Greco 2009, S. 109 ff.).
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Feuerbach stellt das Prinzip der Gesetzlichkeit des Strafens in das Zentrum seiner Strafrechtslehre. Mit der Formel „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (Lehrbuch 3. Aufl. 1805, §§ 13 ff.) gelingt ihm eine einprägsame, weltweit zitierte Fassung für das Postulat, nur auf der Grundlage eines klaren Gesetzes dürfe gestraft werden. Abgeleitet ist das Postulat aus einer profilierten Auffassung von der tatsächlichen Wirkweise der Bestrafung. Feuerbach meint in Übereinstimmung mit der gesamten aufklärerischen Strafrechtslehre, Verbrechen müssten im Interesse der Sicherheit der Bürger vom Staat restlos verhindert werden (Lehrbuch 3. Aufl. 1805, § 9). Dieser Zweck könne erreicht werden,
- wenn die Furcht vor der notwendig zu erwartenden Strafe den verbrechensgeneigten Täter zwinge, die Tat zu unterlassen,
- wenn ein klares Strafgesetz unmissverständlich und furchterregend drohe,
- wenn die Missachtung der gesetzlichen Drohung, also die Straftat, bedingungslos bestraft werde (Lehrbuch 3. Aufl. 1805, § 20).
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Feuerbach formuliert damit eine unmissverständliche, säkular-moderne Strafrechtstheorie, die sich bis in alle Verästelungen des praktischen Strafrechts, z. B. bis in die Lehre von der subjektiven Zurechnung und in das Kostentragungsrecht ausmünzen lässt (Lehrbuch 3. Aufl. 1805, §§ 84 ff. und §§ 647 ff.). Außer einer Lehre vom Staat als Sicherheitsgaranten für den Bürger und einer Lehre von der vorbeugend wirkenden Kraft eines klar drohenden, durch kompromisslose Anwendung immer wieder bestätigten Gesetzes braucht diese Theorie keine weitere Stütze. Dennoch sucht Feuerbach diese Stütze bei Kant. Um 1800, als Feuerbach die machttechnisch geformte Straftheorie des psychologischen Zwanges entwirft, trifft die selbstsichere, aufgeklärte, säkulare Strafrechtsdebatte, die dem Bürger Sicherheit durch Bestrafung verspricht, auf Kants vernichtendes Urteil, die Strafe dürfe nicht Mittel zum Zweck sein, der Mensch könne nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, „wowider ihm seine angeborne Persönlichkeit schützt“ (Metaphysik der Sitten Königsberg 1797, Erster Teil, Allgemeine Anmerkung E I nach § 49). Feuerbach bemerkt, dass dieses Urteil auch seine eigene Strafrechtslehre trifft (Über die Strafe als Sicherungsmittel 1800, S. 96). Mit Intensität unternimmt er es, die Kantnähe seiner Lehre in Anspruch zu nehmen und damit den kantischen Einwänden zu entgehen.
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Die zentralen Stellen sind:
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Feuerbach übernimmt mit emphatischen Formulierungen Kants Satz, der Mensch dürfe im Vorgang der Bestrafung nicht als Mittel zu staatlichen Zwecken benutzt werden (Revision 1 1799, S. 48). Diesen Satz verwendet er eindrucksvoll als Argument gegen die damals überwiegende Straftheorie der Resozialisierung (Revision 1 1799, S. 78 ff.).
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Feuerbach sieht freilich, dass seine eigene Auffassung vom Zweck der Strafe, die Abschreckung, der kantischen Forderung nach politischer Zweckfreiheit der Strafe widerspricht. Feuerbach behilft sich mit einem durchsichtigen begrifflichen Verfahren. Er beruft sich darauf, dass der Gedanke zweckmäßigen Strafens in der Theorie des psychologischen Zwanges nur in der Strafandrohung stecke. Er fährt fort: „Niemandes Rechte werden (durch die Strafandrohung) gekränkt“ (Revision 1 1799, S. 49). Da die Drohung keine Rechte des Menschen beeinträchtige, sei die Übereinstimmung mit Kant gewahrt. Plastisch hat Hegel 1826 dieses Verfahren – ausdrücklich gegen Feuerbach gerichtet – so beschrieben (und damit als gänzlich unkantisch charakterisiert): das drohende Gesetz, das nach Feuerbachs Meinung niemanden in seinen Rechten kränke, schaffe eine Situation „als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt“ (Philosophie des Rechts, Naturrecht und Staatswissenschaft Berlin 1820, § 99). Feuerbach hat darauf nie erwidert; man weiß auch nicht, was er hätte erwidern können.
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Kants Satz, das Strafgesetz sei ein „kategorischer Imperativ“ scheint Feuerbach gut geeignet zu sein, seine Abschreckungstheorie der Strafe vom Vorwurf simplen Zweck-Mittel-Denkens zu befreien und auf eine fachphilosophische Grundlage zu stellen. Feuerbach nimmt Kants Satz auf, gibt ihm freilich eine eigentümliche, kantfreie Wendung. Das Strafgesetz als kategorischer Imperativ ist für Kant die Abkürzung für eine Lehre politisch zweckgelösten Rechts. Bestraft wird nur, weil ein absolutes, von Zweckbedingungen nicht abhängiges Verbrechen begangen worden ist (Kant, Metaphysik der Sitten Königsberg 1797, Erster Teil, Allgemeine Anmerkung E I nach § 49). Feuerbach beruft sich darauf, dass in seiner Theorie die Strafe notwendig auf die Verletzung des Gesetzes folge und nimmt ausdrücklich für sich in Anspruch, dass damit Kants „das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ“ erfüllt sei (Revision 1 1799, S. 141, 146 f.). Freilich übergeht Feuerbach, dass die Strafe als notwendige Folge der Tat in der psychologischen Zwangstheorie den festen politischen Zweck hat, die gesetzliche Drohung zu stärken. Die kategorische Bestrafung bei Feuerbach ist die zweckmäßige Bestrafung, die der Tat auf dem Fuße folgen muss, eine erstaunliche Umbildung von Kants Vorstellung der zweckbefreiten Strafe als einzig gerechter Strafe.
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Die theoretische Bedrängnis, in die Feuerbach mit seiner Nutzung Kants gerät, mag er gespürt haben. Er sucht nach einer weiteren, philosophisch haltbaren Begründung für seine Meinung, dass seine Lehre vom notwendigen Zusammenhang zwischen Straftat und Strafe nicht nur eine weitere zeitgemäße Lehre von der Zweckmäßigkeit der Strafe ist. Er ersetzt den „kategorischen“ Zusammenhang von Straftat und Strafe durch die Meinung, die Straflegitimation gründe sich auf die Einwilligung des Verbrechers in die Bestrafung. Wer – wegen des klar drohenden Gesetzes – wisse, dass die Strafe notwendig auf die Straftat folge, der willige in seine Bestrafung ein; mitgeteilt werde die Einwilligung durch die Tat (Über die Strafe als Sicherungsmittel 1800, S. 95, 97 ff.). Damit gerät Feuerbach in einen harten, unauflösbaren Widerspruch zu Kant. Gegen die Einwilligungstheorie der Strafe hat Kant ausdrücklich eingewandt, es sei keine Strafe, wenn jemandem geschehe, was er ohnehin wolle (Kant, Metaphysik der Sitten Königsberg 1797, Erster Teil, Allgemeine Anmerkung E I nach § 49). Diese Kantstelle steht dicht bei den Stellen, die Feuerbach für sich in Anspruch nimmt.
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Feuerbach zitiert Kant, wenn das Zitat in seine Theorie zu passen scheint, ist dabei aber wenig scharfsinnig. Passt Kant nicht, nimmt Feuerbach ihn nicht wahr. Das ist ein entleerter Kantianismus. Die weitreichende Bedeutung dieses Kantianismus ist nicht zu unterschätzen. In den rechtsphilosophischen Arbeitsverfahren Feuerbachs zeigt sich das angespannte Bemühen, ein weit verzweigtes Problem aufgeklärten säkularen Rechts, konzentriert auf das Strafrecht, einzugrenzen. Das aufgeklärte säkulare Strafrecht kann nur arbeiten als zweckmäßiges, den gerade aktuellen diesseitigen Zwecken dienendes Strafrecht. Ein solches Strafrecht kann seine Reichweite und seine Intensität nicht aus sich selbst begrenzen. Nicht-säkulare unaufgeklärte Begrenzungen (Naturrecht, Geschichtsphilosophie, theologisch abgeleitete Maßstäbe) kann es nicht anerkennen. Aber zu diesem Grundproblem gehört, dass solche Begrenzungen unerlässlich sind. Feuerbachs psychologische Zwangstheorie ist der erste bemühte Versuch, das gefährliche zweckmäßige Strafrecht zu betreiben als ein durch die kantische Philosophie in Schach gehaltenes Strafrecht.
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Feuerbachs Texte zeigen, dass sein Versuch gescheitert ist. Klarheit über das Verhältnis von Strafrecht und Rechtsphilosophie ist damit freilich nicht gewonnen. Feuerbachs gescheiterter Versuch bleibt Antrieb, das Problem zu meistern (Greco 2009). Die Folge der Auffassung, Feuerbachs Versuch, das zweckmäßige, in seinen Machtansprüchen schwer kontrollierbare Recht zu begrenzen, sei fehlgeschlagen, wäre gewesen und wäre noch: etwas anderes als das zweckmäßige schwankende unbeherrschbare Recht gibt es nicht. Damit will man sich aber so wenig abfinden wie der junge Feuerbach es wollte – möglicherweise eine unterschwellige Wirkung des kantischen Kritizismus. So findet die Erörterung der Frage: Feuerbach - ein Kantianer?, kein Ende.
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Deutlich unterscheiden lassen sich die folgenden, mit Feuerbach- und Kantzitaten unterlegten Standpunkte:
- Feuerbach ist ein Kantianer (Haney, in: Gröschner/Haney – H. - 2003, S. 17 ff.; E. Schmidt 1965, § 228)
- Feuerbach ist kein Kantianer (Naucke 1962)
- Feuerbach ist kein Kantianer, seine Straftheorie lässt sich aber doch mit den kantischen Ergebnissen begründen (Greco 2009)
- Kant ist seinerseits als Theoretiker zweckmäßigen Strafens aufzufassen, einen Gegensatz zwischen Kant und Feuerbach gibt es nicht (Müller-Steinhauer 2001; Tafani 2005, S. 261 ff.).
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Die Anspannung, mit der die Debatte: Feuerbach - ein Kantianer?, geführt wird, weist immer wieder auf jenes Grundproblem moderner Rechtsphilosophie hin: Anderes als zweckmäßiges Recht gibt es nicht; doch ist die Begrenzung dieses zweckmäßigen Rechts unerlässlich. War Feuerbach in irgendeiner Weise ein Kantianer; dann hat man diese Grenze und Feuerbach ist das bleibende Modell für die gelungene Zähmung zweckmäßigen Rechts (Lüderssen 1968, S. 16; Vormbaum 2009, S. 43 ff.). Die Anhänger dieses rechtsphilosophischen „Modells Feuerbach“ müssen allerdings einräumen, dass in der neueren Strafrechtsgeschichte keine Rechtsphilosophie, auch nicht die kantische, stark genug gewesen ist, das zweckmäßige Recht zu beherrschen.
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Es ist wahrscheinlich, dass Feuerbach diese Schwäche der Rechtsphilosophie in seine eigene Lehre eingerechnet hat. Bei aller Vorliebe für Kantzitate: auf den ersten Seiten der „Revision 1 1799“ teilt Feuerbach mit, Hauptziel seiner Arbeit sei es, „die Anmaßungen der Philosophie in dem peinlichen Recht einzuschränken“. Er sieht in der Philosophie „eine launenhafte Tyrannin“ über das positive Recht und will sie lediglich als „eine unterthänige Dienerin der Gesetze“ gelten lassen (Revision 1 1799, S. X). Ausgeführt wird dieser Gedanke 1804 in der Schrift über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft. In den späteren Überlegungen zur Notwendigkeit einer Universaljurisprudenz (modern: einer globalen Jurisprudenz), wird die Wissenschaft vom positiven Recht hoch über die Rechtsphilosophie gestellt (Feuerbachs Leben und Wirken 2. Band 1853, S. 378 ff.).
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In dieser Wendung vom philosophischen zum positiven Recht steckt ein gewichtiger Beitrag Feuerbachs zur Rechtsphilosophie. Dieser Beitrag tritt getrennt neben den Versuch, sich als Kantianer und damit als Philosoph zu bewähren, und dieser Beitrag ist bedeutsamer. Feuerbach verdrängt die Rechtsphilosophie als eigenständige Autorität aus der Behandlung des positiven Rechts mit der Begründung, sie sei unpraktisch (Über Philosophie und Empirie 1804, S. 6 ff.). Dies ist nicht nur ein interessantes Datum in Feuerbachs wissenschaftlicher Entwicklung. Dies ist eine grundsätzliche, in der Aufklärung vorbereitete, im 19. Jahrhundert zementierte Neuorientierung im Verhältnis von Rechtsphilosophie und positivem Recht. Das Problem: „War Feuerbach ein Kantianer?“ (= „Kann man jede juristische Regel dem kantischen Kritizismus unterwerfen?“) verschwindet. Dieses Problem wird überwunden durch die Lehre, dass jede positive Regel zu akzeptieren ist und dann lediglich noch wissenschaftlich bearbeitet werden kann. Bei dieser wissenschaftlichen Bearbeitung können nach Feuerbachs Meinung Rechtsgeschichte, Rechtspolitik und Rechtsphilosophie eine Rolle spielen, solange diese Fächer sich nicht über das positive Recht stellen (Über Philosophie und Empirie 1804, S. 34 ff.). Feuerbach meint, dass man bei einem solchen Vorgehen „auch Kritiker sein“ müsse. Damit ist aber nicht mehr die elementare Kritik des juristischen Regelinhalts gemeint, z. B. die Kritik von Strafgesetzen anhand kantischer Sentenzen. Mit „Kritik“ meint Feuerbach nur noch ein Verfahren, „um den Text des Gesetzes zu reinigen“ (Über Philosophie und Empirie 1804, S. 40 f.; Kleine Schriften 1833, S. 159 ff.).
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In den Arbeiten, die Feuerbach nach dem Ende seiner akademischen Laufbahn 1805 veröffentlicht, erschöpft sich folgerichtig das rechtsphilosophische Argumentieren in der Berufung auf eine zeittypische, unbestimmt bleibende Vernunft, auf eine nicht näher abgegrenzte Freiheit und auf das „Wesen“ oder die „Idee“ eines Rechtsinstituts (Betrachtungen über das Geschworenengericht 1813, S. 1 ff., 113; Feuerbachs Leben und Wirken 2. Band 1853, S. 379, 388 f.). Feuerbach verbindet diese pragmatische Rechtsphilosophie mit Begründungen „nach politischen Ansichten“ und „Ideen der Staatsweisheit“ (Betrachtungen über das Geschworenengericht 1813, S. 1). Schließlich tritt an die Stelle der Vernunft zur Gründung allgemeiner freiheitsstützender Rechtsgesetze „die Unbestreitbarkeit“ solcher Gesetze oder die Forderung „des rohen Instinkts und des sinnlichen Bedürfens des Lebens im Zusammenleben mehrerer Menschen“ nach solchen Gesetzen (Feuerbachs Leben und Wirken 2. Band 1853, S. 388). Das ist ein vollständig offenes rechtswissenschaftliches Arbeitsprogramm, von der kantischen und jeder anderen Rechtsphilosophie weit entfernt. Es wird künftig jedem positiven Recht leicht fallen, diesen Kriterien zu genügen.
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Feuerbach kann als Beispiel für das unwiederbringliche Ende des 18. Jahrhunderts in der Rechtsphilosophie gelesen werden. Die rücksichtslose Kritik, die das 18. Jahrhundert, vor allem der kantische Kritizismus, an allem und jedem in Gesellschaft, Recht und Staat geübt hatte, wird beendet.
III. Bibliographie
1. Die wichtigsten Werke Feuerbachs
Feuerbach, Paul Johann Anselm Ritter von, Über die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein und die Gültigkeit der natürlichen Rechte, Leipzig 1795.
—, Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft des natürlichen Rechts, Altona 1796.
—, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Gießen 1797.
—, Philosophisch-juridische Untersuchung über das Verbrechen des Hochverrats, Erfurt 1798.
—, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, 1. Teil Erfurt 1799, 2. Teil Chemnitz 1800.
—, Über die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers, Chemnitz 1800.
—, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1. Aufl. Gießen 1801, 11. Aufl., Gießen 1831 (12. Aufl. 1836 – 14. Aufl. 1847 bearbeitet von C. J. A. Mittermaier).
—, Civilistische Versuche, Gießen 1803.
—, Critik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-Bayrischen Staaten, Gießen 1804.
—, Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft, Landshut 1804.
—, Themis oder Beiträge zur Gesetzgebung, Landshut 1812.
—, Betrachtungen über das Geschworenen-Gericht, Landshut 1813.
—, Über die Unterdrückung und Wiederbefreiung Europens, München 1813.
—, Die Weltherrschaft oder das Grab der Menschheit, Nürnberg 1814.
—, Die hohe Würde des Richteramts, Nürnberg 1817.
—, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Gießen 1821.
—, Über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren Frankreichs, Gießen 1825.
—, Aktenmässige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, Band I Gießen 1828, Band II Gießen 1829.
—, Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben der Menschen, Ansbach 1832.
—, Kleine Schriften vermischten Inhalts, Nürnberg 1833.
—, Feuerbachs Leben und Wirken aus seinen ungedruckten Briefen und Tage- büchern, Vorträgen und Denkschriften, herausgegeben von seinem Sohne Ludwig Feuerbach, 2 Bände, 2. vermehrte Ausgabe Leipzig 1853, darin: Idee und Nothwendigkeit einer Universaljurisprudenz (S. 378 ff.).
Vollständiges Verzeichnis der Veröffentlichungen Feuerbachs:
Haney, in: Gröschner, Rolf / Haney, Gerhard (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, Stuttgart 2003, S. 209 ff.
2. Zusammenfassende Sekundärliteratur
Blau, Günter, Paul Johann Anselm Feuerbach, Berlin/Leipzig 1948.
Bohnert, Joachim, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, Heidelberg 1982.
Cattaneo, Mario A., Anselm Feuerbach, filosofo e giurista liberale, Mailand 1970.
Gallas, Wilhelm, P. J. A. Feuerbachs „Kritik des natürlichen Rechts“, Heidelberg 1964.
Greco, Luis, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009.
Gröschner, Rolf / Haney, Gerhard (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, Stuttgart 2003.
Grünhut, Max, P. J. A. Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, Hamburg 1922.
Haney, Gerhard, Naturrecht und positives Recht. Ausgewählte Texte von Johann Anselm Feuerbach, Freiburg/Berlin 1993.
Hartmann, Richard, P. J. A. Feuerbachs politische und strafrechtliche Grundanschauungen, Berlin 1961.
Kesper-Biermann, Sylvia / Klippel, Diethelm (Hrsg.), Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wiesbaden 2007.
Kipper, Eberhard, Paul Johann Anselm Feuerbach. Sein Leben als Denker, Gesetzgeber und Richter, 2. Aufl. Köln 1989.
Küper, Wilfried, Das Verbrechen am Seelenleben. Feuerbach und der Fall Kaspar Hauser in strafrechtsgeschichtlicher Betrachtung, Heidelberg 1991.
Lüderssen, Klaus, Paul Johann Anselm Feuerbach und Carl Joseph Anton Mittermaier, Theorie der Erfahrung in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1968.
Müller-Steinhauer, Sandra, Autonomie und Besserung im Strafvollzug. Resozialisierung auf Grundlage der Rechtsphilosophie Immanuel Kants, Münster 2001.
Naucke, Wolfgang, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, Hamburg 1962.
Radbruch, Gustav, Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben, Wien 1934; 3. Aufl. Göttingen 1957.
Schmidt, Eberhard, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. Göttingen 1965, §§ 223 – 235.
Stintzing, Roderich von und Landsberg, Ernst, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abteilung 3 Halbband 2, Text, München/Berlin 1910, S. 111 ff.
Tafani, Daniela, Kant und das Strafrecht, in: Vormbaum, Thomas (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Band 6 (2004/05) 2005, S. 261 ff.
Vormbaum, Thomas (Hrsg.), Strafrechtsdenker der Neuzeit, Baden-Baden 1998.
Vormbaum, Thomas, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, Berlin/Heidelberg 2009, S. 43 ff.
Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität, Gesellschafts- wissenschaftliche Reihe, Jena 4/1984: Gedenkkonferenz für den Juristen P. J. A. Feuerbach.
Vollständige Übersicht über die Sekundärliteratur zu Feuerbach bis 2003:
Haney, Gerhard, Bibliographie zu P. J. A. Feuerbach, in: Gröschner, Rolf / Haney, Gerhard (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775 – 1833) für die Gegenwart, Stuttgart 2003, S. 217 ff.
Zur Sekundärliteratur seit 2003 vgl.:
Greco, Luis, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009, S. 521 ff.
IV. Verwandte Themen:
Beccaria, Cesare | Dogmatik | Feuerbach, Ludwig | Hobbes, Thomas | Kant, Immanuel | Kantianismus | Montesquieu | Naturrecht | Positivismus | Rousseau, Jean-Jacques