Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Rechtsphilosophie
Erstpublikation: 06.04.2011
- Konstellationen: Revolutionäre Ereignisse und wissenschaftliche Erträge
- Analysen: Recht als Praxis und Institution
- Perspektiven: zur gegenwärtigen Diskussion
- Zusammenfassung
- Bibliographie
- Verwandte Themen
I. Konstellationen: Revolutionäre Ereignisse und wissenschaftliche Erträge
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel lebte von 1770 bis 1831. Seine wissenschaftliche Biographie spiegelt eine Epoche wider, die wir heute als Sattel- oder Achsenzeitzeit bezeichnen (Koselleck 1972, XIII). Angesprochen sind damit mentalgeschichtliche Konstellationen und, im weitesten Sinne des Wortes, reformatorische Entwicklungen, die im frühen 17. Jahrhundert einsetzen und das Selbstverständnis des Menschen sowie seine Beziehung zur Welt langfristig und in eminenter Weise prägen (Taylor 2009). So unterschiedliche Denker wie Bacon, Hobbes, Descartes, nicht weniger Galilei oder Newton, lösen den homo rationalis aus dem mittelalterlich-scholastischen Heils- und Ordnungsverständnis und forcieren dadurch einen neuen Umgang mit dem je verfügbaren, wie auch mit neu generierbarem Wissen (Blumenberg 1966, 1975; Foucault 1974). Die daran anknüpfenden Aufklärungskonzepte eines Hume, der französischen Enzyklopädisten, vor allem Rousseaus, aber auch eines Leibniz oder Lessing, sind schließlich konsequente Fortführungen des insofern eingeschlagenen Weges. Seine besondere Charakteristik erhält er durch einen mit Vehemenz artikulierten System- und Vernunftbegründungsanspruch, wie er nicht zuletzt im Deutschen Idealismus vorgetragen wird (Henrich 1991; Cassirer 1932). Die von Kant apostrophierte Revolution der Denkungsart bündelt so das aufklärerische Programm, macht es aber gleichzeitig zum ausgezeichneten Gegenstand philosophischer Kritik. Die damit verbundene Einsicht, dass modernes theoretisches wie praktisches Wissen von unberechtigten metaphysischen Ansprüchen freigehalten werden müsse, wird nicht nur zum Leitgedanken kritischer Wissenschaft, sondern auch zur Basis der hegelschen Selbstbewusstseins- und Sozialtheorie. Weit mehr als Kant beharrt Hegel jedoch darauf, dass unser Wissen auf die Narrative gesellschaftlicher Konventionen und handlungsleitender Normsysteme verwiesen, damit aber immer auch in die kontroversen Legitimationsstrategien säkularer Lebens- und Urteilsformen involviert ist. Gerade weil Hegel diese Überzeugung in seinem Wissens- und Praxismodell wirksam werden lässt, war er zugleich der erste Philosoph „für den die Moderne zum Problem geworden ist“ (Habermas 1985, S. 57).
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Letzteres manifestiert sich auch und vor allem in der Genesis seines Rechts- und Staatsverständnisses: Bereits in den Jenaer Schriften, und hier besonders im Naturrechtsaufsatz (1802) sowie dem wenig später erschienen System der Sittlichkeit (1802/1803), macht Hegel deutlich, inwiefern er die bisherigen Modelle für problematisch und einseitig hält. Wollten die empirischen Behandlungsarten des Rechts Natur und Bestimmung des Menschen, Gesetze, Rechte und Pflichten, in der Mannigfaltigkeit des Erfahrungswissens begründen, ohne zu zeigen, wie sich dieses Wissen als allgemeines und d.h. als reflektiert-verbindliches zur Geltung bringen lässt, so hätten Kant und Fichte mit ihrem transzendentalen Idealismus versucht, dem unendlichen Ausbreiten der Empirie durch die Betonung des „Absoluten“ zu begegnen, damit aber das Vernunftrecht als „rein formelle Wissenschaft“ konstruiert (Hegel MM 2, 440). Hegel kann in beiden Konzeptionen nur Abstraktionen der praktischen Vernunft erkennen. Zugleich gesteht er den Theorien wesentliche Einsichten zu: das betrifft die empirischen Behandlungsarten mit ihrem Verweis auf die Notwendigkeit des unmittelbaren Zugriffs aller Praxisreflexion; das rein formelle Naturrecht wiederum mit seinem Bezug auf das formale Prinzip vernünftgemäßer Selbstgesetzgebung. Die „hegelsche Lösung“ liegt in einer Vermittlung dieser Aspekte. Im Zentrum steht eine vollständige „Phänomenologie der sozialen Natur“, bezogen auf die Gesamtheit der menschlichen Lebensverhältnisse, die Hegel hier (noch) die „absolute Sittlichkeit“ nennt und der – auch vor dem Hintergrund des jakobinischen Terrors – die Aufgabe zufällt, die Dualität der kantischen Rechts- und Tugendlehre wieder in eine intern differenzierte Einheit zurückzunehmen. Es ist dieses Projekt einer „Rehabilitierung praktischer Philosophie“ (Ritter 1977, S. 183; Siep 1979, S. 159), das Hegel, begrifflich und systematisch transformierend, in seinem philosophischen Programm nachdrücklich weiterentwickeln wird. Entscheidend dafür ist eine Neubewertung sokratisch-platonischer bzw. aristotelischer Ethos- und Polismodelle (Riedel 1975, 1990) und, darüber hinaus, eine Ablösung von Schellings Natur- und Identitätsphilosophie. System und Semantik Hegels weiten sich so, angefangen von den Jenaer Systementwürfen (1803-1806), über die Phänomenologie des Geistes (1807) bis hin zu den Enzyklopädien (1817-1831) und den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), zu einer komplexen Analyse vernunftbegründeter Daseins- und Interaktionsbedingungen – hegelisch gesprochen: des Geistes – und d. h. zu einer modernen Theorie institutioneller Orientierung und rechtlicher Freiheitsgewährleistung.
II. Analysen: Recht als Praxis und Institution
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Hegels Philosophie des Geistes ist eine Theorie personalen Handelns. Mit diesem Fokus rückt ein Vernunftkonzept in den Mittelpunkt, das zugleich als Prozess des Gebens von Gründen und als gemeinschaftliche Wissensartikulation begriffen werden kann (Pippin 2005, S. 71; Pinkard 2004, S. 254; Sellars 1956). Hegel versucht auf diese Weise eines Problems Herr zu werden, das sich an der Epochenschwelle zur Moderne mit besonderer Schärfe stellt: nämlich wie wir, in einer zunehmend komplex organisierten, auf politischen wie auch ökonomischen Disziplinierungsstrategien basierenden Gesellschaft, unsere Taten und Überzeugungen nicht als von uns entfremdete, d.h. unfreie, sondern als die je eigenen erfahren können, weshalb wir sie uns dann – wie im Fall des Rechts – auch zurechnen lassen müssen. Hegel steht hier in einer moral- und rechtsphilosophischen Tradition, die von Roussau, über Kant und Fichte, bis zu Schelling reicht und schließlich, wenn auch in unterschiedlichster Weise, durch Marx, Rawls und Habermas fortgesetzt wurde (Henrich 1975, S. 187; Pinkard 2002; Taylor 1975, S. 15). Sind sich die Entwürfe in der Stoßrichtung, d.h. in der Frage nach den Verwirklichungsformen von Subjektivität, einig, so weichen sie in der Methode und Begründung doch erheblich voneinander ab. Hegel geht hier den – prima facie – ungewöhnlichsten Weg. Die Formalismuskritik an Kant betont insoweit nicht nur eine andere Haltung zum systematischen Verhältnis von Recht, Moral und Sittlichkeit; Ausschlaggebend scheinen vielmehr die Differenzen hinsichtlich der zugrunde gelegten Argumentationslogik zu sein (MM 7, § 135; Ancombe 1957, S. 224; O’Neill 1989, S. 145). So sieht Hegel in der Annahme, dass eine handlungsleitende Vernunft „rein“ praktisch sein könne, keine hinreichende Erklärung subjektiver als auch personaler Standpunkte, für ihn wird damit weder die motivationale Kraft individueller Entscheidungen noch die Komplexität des situationsvarianten Willensbildungsprozesses ausreichend beachtet (Stekeler-Weithofer 2005, S. 337). Hegel favorisiert dagegen das Modell einer kooperativ-erfahrungsgesättigten Beurteilungskompetenz und kann deshalb, zeitgemäß gewendet, als „Internalist“ in Bezug auf die Evaluierung praktischer Gründe bezeichnet werden, wenngleich er deren Gehalte und Erfüllungsbedingungen ausdrücklich im έθος gemeinschaftlichen Handelns und Urteilens, also in dem, was er Sittlichkeit nennt, verankert sieht (Siep 1992, S. 217).
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Die normativen Voraussetzungen dieser These sind nur im Kontext seines enzyklopädischen Programms zu verstehen (Drüe 2000; Hösle 1987; Lucas et al. 2004; Peperzak 1991). Hegels akteursbezogene Beurteilungskompetenz ist, darauf verweist schon das Konzept der Phänomenologie, sinnorientierte Selbstbewusstseinsanalyse (Sandkaulen 2009). Das bedeutet bei Hegel allerdings keine zweifelsbasierte Introspektion à la Descartes, angesprochen ist vielmehr eine immer schon in den tradierten Praxisformen und den Konventionen von Recht und Moral verortete und zu verortende Einübung des Einzelnen in die je zeitgebundenen Freiheitsspielräume sowie deren kritische Bewertung und Ausübung. Die entsprechenden „Gestalten des Bewusstseins“, die sich schließlich in den Reflexionsarealen des subjektiven, objektiven und absoluten Geist der Enzyklopädie wieder finden, reformulieren insofern eine universale „Strukturgeschichte der Vernunft“ (Stekeler-Weithofer 2005, S. 365). Mit diesem Kollektivsingular kann man im Sinne Hegels verdeutlichen, dass sich die Entwicklungsgeschichte des Selbstbewusstseins und die damit verbundenen Standards individueller Handlungskompetenzen nicht in den Erzählungen und Selbstlegitimationen der aktuell agierenden Akteure erschöpft, sondern notwendig auf kollektiven Erfahrungen einer Gesellschaft, und zwar über die Zeiten hinweg, bezogen ist (Jaeschke 2009, S. 15; Pinkard 1994; Rödl 1998; Vieweg 2008). Grundüberzeugungen einer Gemeinschaft, autoritative Normen ebenso, wie davon abgeleitete Regeln, sind deshalb für Hegel auch nicht deduktiv, intuitiv oder formalanalytisch zu rechtfertigen, im Gegenteil, ihre sinn- und identitätsstiftende Bedeutung lässt sich nur durch eine Explikation der jeweils generischen Funktion begreifen.
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Hegel wendet sich mit diesem Konzept einer „spekulativen Rekonstruktion“ ganz offensichtlich gegen die Projekte von Kant, Fichte, aber auch von Schelling, bei denen er vor allem das empraktische Verhältnis von theoretischer Reflexion und normativer Handlungsform nicht ausreichend beachtet sieht. Bereits in der Logik hatte Hegel die Einsicht entwickelt, dass wir zunächst von allerlei bekannten Tatsachen unseres Lebens (faits culturels), unseres Handelns und Urteilens ausgehen müssen (dazu auch Rz. 37). Keine synthetische Konstruktion einer Theorie (des Rechts) oder eines Systems (des Geistes) darf vergessen, dass sie nur Darstellung der Ergebnisse einer Analyse ist. Insofern ist dann die Argumentation der Rechtsphilosophie nur die Konsequenz aus dieser Einsicht, nämlich dass unsere Rede über Rechte und Pflichten, über Anerkennungsformen und Selbstbewusstseinsstrategien immer schon auf den Traditionslinien der jeweiligen Kultur und dem reflektierten Vollzug der entsprechenden Überzeugungen beruht.
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Diese generische Funktionen oder, anders gesprochen, jene allgemeinen Verfaltensformen („Das machen wir so, weil wir vernünftige Gründe dafür haben.“) sind Konsequenz der systematisch-antidualistischen Position Hegels. Der Geist, d.h. die Strukturen des normativen Lebens, repräsentiert sich demnach in den erlangten Fähigkeiten, kontroversen Wissensdiskursen und darauf bezogenen Praktiken; Praktiken, die nicht nur von uns geschaffen, sondern auch auf diesem Wege autorisiert wurden (McDowell 1998).
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Diese Strategien des Gebens und Nehmens von Gründen, des Evaluierens und Autorisierens von Normen, sind für Hegel notwendig an ein System anerkannter – in seiner Diktion – objektiv-vernünftiger Institutionen gebunden (Bogdandy 1986; Böckenförde 1999; Bubner 2002, S. 171, Honneth 2001, S. 35). Hegel artikuliert damit eine Einsicht, die für den modernen Staat, die moderne Gesellschaft, aber vor allem für den Einzelnen von zentraler Bedeutung ist. Denn jedes Aushandeln von Gründen, jede normative Autorität ist gefährdet oder selbst gefährlich, wenn es nicht in institutionellen Verhältnissen und Strukturen geschieht. Institutionen bilden eine Art Garantiefunktion personaler Selbstbestimmung, Ermöglichungsbedingungen individueller Autonomie. Insofern sind sie „abgekühlte“ oder doch rationalisierte Praxen der Sinnvermittlung und Konfliktlösung. Voraussetzung ist freilich, dass sie Verwirklichungsformen der Freiheit manifestieren (Pippin 2005, S. 59; Quante 2010; Stekeler-Weithofer 2005, S. 267). Für Hegel sind das etwa die moderne bürgerliche Gesellschaft, das Eigentum, die Ehe und die Familie, aber auch die Universität oder die Sozialfürsorge. Sie entsprechen dem modernen Prinzip der Subjektivität, d.h. der Vernunft freiheitlichen Lebens. Nur ist das nicht selbstverständlich, wie Hegel selber sieht. Institutionalisierte Strukturen können auch zum Hemmnis individueller Autonomisierungsbestrebungen werden. Hegel erinnert hier – aus der Perspektive des beginnenden 19. Jahrhunderts – an Reste feudaler Abhängigkeitsverhältnisse oder patriarchal geführte Großfamilien; letzteres ließe sich aber problemlos in die Gegenwart verlängern, denkt man nur an Formen religiös motivierter Intoleranz oder paternalistisch organisierter Lebensbedingungen. Intuitiv leuchtet eine solche Sichtweise durchaus ein, begrifflich jedoch bleibt das, was Hegel als „objektiv vernünftig“ bezeichnet, das heißt die Abgrenzung zwischen freiheitlicher Daseinsform und freiheitsbehindernder Normkonzepte, zunächst im Dunkeln. Wesentlich scheint für Hegel auch hier der Verweis auf die Struktur- und Entwicklungsgeschichte handlungsleitender Praxisformen zu sein. Insofern zielt sie auf eine rationale Rekonstruktion der Genese, Ausprägung, aber auch des Verfalls bestimmter Institutionen. Diese Narrative der (Un-)Freiheit sind dann aber nicht als bloße Erzählungen im Sinne einer deskriptiven Historie überlieferter „Tatsachen“ misszuverstehen, für eine kritische Selbstbewusstseins- und Institutionenanalyse hätte ein solches Projekt überhaupt keinen Wert. Vielmehr werden die Freiheitsnarrative als veränderliche Reflexionsstandards und mit Blick auf das jeweils schon bekannte – und erreichte – Ziel formuliert (MM 12, 29).
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Es ist daran zu erinnern, dass das bekannte oder auch erreichte Ziel, von dem aus die Freiheits- und Institutionenanalyse erfolgt, nicht das „Ende der Geschichte“, schon gar nicht den „absoluten Standpunkt“ meint (missverständlich hier Löwith 1995, aber auch Popper 2003), sondern nur darauf verweist, dass die Betrachtung aus der Gegenwart heraus erfolgt und erfolgen muss und deshalb auch nur die bisher erreichten Standards der Freiheitsverwirklichung als Maßstab der Beurteilungen dienen können. In diesem Sinne ist dann auch Hegels Rede von der Idee (des Rechts) zu verstehen: Mit ihr bezeichnet Hegel die als angemessen bewerteten Praxisformen, wie etwa die Strukturen des je funktionieren Staates, wobei die Evaluierung der entsprechenden Kriterien und Standards immer die idealtypische Perspektive der Rechtsverwirklichung einschließt (weshalb es Hegel nie nur um den realen und durchaus verbesserungswürdigen oder sogar -bedürftigen preußischen Staat von 1820 ging).
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Unumgänglich ist eine Vergegenwärtigung langfristiger Entscheidungs- und Anerkennungsprozesse; sie sind Ausdruck ideengestützter Emanzipationsleistungen autonom handelnder Akteure und damit Inbegriff dessen, was wir condition humaine nennen. Erst mit dieser Reflexion auf die je personalen Verhältnisse in der Zeit und deren expliziter Kontrolle, so die Überzeugung Hegels, kommt schließlich die Realentwicklung der praktischen Vernunft und ihr impliziter Geist zu sich selbst.
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Insofern wird deutlich, wie sehr es Hegel um die Abweisung jeglicher dogmatischer Geltungsansprüche geht: eine Strukturgeschichte der Vernunft und folglich des Wissens verweist also immer schon auf eine kritische Funktion. Denn zum Ausdruck gebracht wird zu allererst, dass die „Gestalten des Bewusstseins“, die Areale des Geistes, nicht als (a-historisch) Gegebenes vorgestellt werden können. Sie haben eine Geschichte und vor allem ihre gewordenen Strukturen. Der Dogmatismus hingegen liebt es nicht, auf die Geschichte seiner Dogmen (Doxa), seiner Behauptungen und Immunisierungen, angesprochen zu werden. Freilich ist die kritische Funktion der Strukturanalyse – als Genealogie – für Hegel mehr als eine „Schule des Verdachts“ (Ottmann). Nicht weniger wichtig ist für Hegel die affirmative Komponente, der Nachweis der in der Entwicklung wie auch immer zum Vorschein kommenden Vernunft. Nur so lässt sich für Hegel die Position des Skeptikers sinnvoll überschreiten (Hirsch 1973, 245; Pöggeler 1998).
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Festzuhalten ist deshalb, dass es nur diese Vergewisserung des ewig Gegenwärtigen in der gewordenen Gestalt des bewussten Lebens sein kann, die auch eine belastbare Unterscheidung zwischen dem verfehlten Rekurs auf die Vernunft und dem richtigen Verständnis institutionellen Handelns und Urteilens ermöglicht, denn in der rationalen Rekonstruktion haben wir die anerkannten Institutionen immer schon als weitgehend vernünftige begriffen und damit zugleich unsere Zeit „in Gedanken erfasst“ (MM 7, Vorrede, 14; Stekeler-Weithofer 2006, S. 229; Bubner 1971, S. 234). Insoweit darf die Rede von Vernunft und Vernunftbegründungen weder semantisch als wie auch immer fassbares „Großsubjekt“ fehlgedeutet, noch – und epistemologisch – als eine absolute und insoweit metaphysische Wissens- und Deutungsinstanz, mit einem ebenso absoluten Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch vorgestellt werden. Vernunft ist für Hegel ein Prozess reflektierter Kommunikation und damit notwendige Bedingung rechtlicher Praxis.
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Auch wenn uns die Artikulation eines solchen Freiheits- und Institutionenkonzepts etwas zu emphatisch, die (geschichtliche) Entwicklung der Vernunft etwas zu geglättet erscheinen sollte, so garantiert sie als typisierende Wissensanalyse, d.h. als normativ begründete Matrix, zentrale Praxen des Zusammenlebens als intersubjektiv abgesicherte Kooperationsformen zu begreifen (Bougeois 1997, S. 218; Molkentin 2003; Pauly 2009). Hegels Leistung besteht vor allem darin, dass damit einhergehende Potential gesehen zu haben. Denn als Kooperationsformen bestimmen sie gestufte, jedenfalls aber voneinander unterschiedene Normierungs- und Verbindlichkeitssphären, wie sie uns im Recht, der Moral oder der Religion begegnen. Als intersubjektiv können sie bezeichnet werden, weil es, wie eben gezeigt, immer die handelnden Akteure sind, die durch ihre Strategien der Kommunikation, Partizipation und Teilnahme die Sinnpotentiale einer grundsätzlich anerkannten Kultur konkreter Freiheit bestätigen und weiterentwickeln. In der hegelschen Strukturanalyse ist es insbesondere der Objektive Geist, der die entsprechenden Sprachspiele zueinander in Beziehung setzt, deren Bedeutung für die Verwirklichung der Freiheit auslotet und so auch die Konsequenzen der erhobenen Geltungsansprüche zur Sprache bringt (Jaeschke 2009, S. 284; Kérvegan 2005; Lübbe-Wolff 2009; Neuhouser 2000; Patten, 2002; Schnädelbach 2000 a). Die Objektivität des Geistes verweist aber zugleich darauf, dass diese Sphären nur dialektisch zu verstehen sind, d. h. als Kontextualisierung des Subjekts in den reflektierten Spielräumen einer staatlich verfassten Ordnung. Denn eines ist für Hegel ausgemacht, nämlich dass – als Angelegenheit des Subjekts – seine Vernunft dem Menschen im Recht entgegenkommen muß“ (Ilting 1974, Bd. 3, 96).
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Hegels Theorie des Rechts ist eine Theorie verobjektivierter Freiheit: „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee“ (MM 7, § 29). Die für unser heutiges Verständnis zunächst ungewöhnliche Diktion, ist vor allem der spekulativen Rede Hegels geschuldet. Letztere erschließt sich aber, wenn wir die Implikationen seiner Dialektik in die Semantik unserer heutigen Sprache überführen (Bubner 2005; Fulda 2004, S. 78; Gadamer 1971; Theunissen 1980, S. 23). Insofern wird deutlich, dass die Begriffe des Daseins, des Willens, der Freiheit und der Idee ein norm- und praxiskonstitutives Bezugsnetz bilden. Hegel will hier zum Ausdruck bringen, dass eine Theorie des Rechts von den gewordenen und ausdifferenzierten Formen beanspruchter Rechte und Pflichten auszugehen hat, Formen, die in der unmittelbaren Erfahrung der Anschauung – des Daseins – gelernt und festgehalten werden; dass diese Rechte und Pflichten aber nur als reflektierte Formen – als Wille und Freiheit – je eigene Gründe des Handelns und Urteilens bilden; ein Prozess, der dann immer schon auf die Geltungsbedingungen des Rechts als ordnungsbestimmende Gesamtpraxis – i.S.d. der Idee –, folglich auf die anerkannten Kriterien der Handlungsanalyse und -bewertung verweist (Honneth 2001, S. 21). Vor diesem Hintergrund wird auch der häufig missverstandene Satz Hegels: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ etwas klarer (MM 7, Vorrede, 24). Behauptet wird damit keine Gleichsetzung einer absolut gesetzten Vernunft mit den Realitäten des säkularisierten und niemals perfekten Staates, noch weniger mit den positiven Setzungen des jeweiligen Rechtssystems. Das würde Hegels Projekt einer kritischen Sozialtheorie des Geistes eindeutig widersprechen und sie als reine Machttheorie oder, im besten Fall, als utopische Veranstaltung im Sinne Campanellas oder Morus’ interpretieren (Campanella 1602, Morus 1516).
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Denn: […] „Es ist ebenso töricht zu wähnen“, so Hegel in der Vorrede der Grundlinien, „irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Zeit hinaus, als ein Individuum überspringe seine Zeit […].“ (MM 7, Vorrede, 26). Im Übrigen hat Hegel – trotz der häufig und vorschnell unterstellten Bedeutungsgleichheit von Wirklichkeit, Realität und „äußerer Existenz“ – immer wieder auf die semantischen Differenzen der Titelwörter hingewiesen. So auch in der Vorlesungsnachschrift von Strauß, wo er betont: „Was wirklich ist, das ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich, was existiert. Das Schlechte ist ein in sich selbst Gebrochenes und Nichtiges.“ (Ilting 1974, Bd. 4, 912).
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Gesagt ist vielmehr, dass jede Rede über „das Wirkliche und Vernünftige“ darauf aufmerksam macht, dass es letztlich die Akteure selbst sind, die eine „Fortschrittsidee“ als mehr oder weniger genaue Vorstellung einer nachvollziehbaren Entwicklung entwerfen und in ihren institutionellen Handlungsformen wirksam werden lassen, man denke an die sukzessive Einführung des freien Wahlrechts, die Ausarbeitung des Grundrechtskatalogs, ebenso an die gegenwärtigen Bemühungen um eine rechtliche Einigung Europas. Hegel insistiert also auf eine auch heute durchaus vertraute, wenngleich nicht notwendig explizite Überzeugung, nämlich dass es immer auch des Blicks aus der Perspektive des als vollkommen verstandenen (Rechts-)Zustandes bedarf, der schließlich das Projekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit konstituiert. Nur sind die entsprechenden Orientierungsmuster so verfasst, dass sie die Beschränkungen und Probleme realen Wissens in Bezug auf die Qualität der je faktischen Zielvorstellungen aufheben und transzendieren (anders wären gesellschaftliche Veränderungen gar nicht denkbar). Was auch bedeutet, dass die mit dieser Praxis verbundene Offenheit und damit die Unvorhersehbarkeit der realen Entwicklungen berücksichtigt werden müssen; wie eben auch der Begriff des (rechtlichen) Fortschritts per se noch nichts darüber aussagt, wie die reale Entwicklung tatsächlich verlaufen wird (Liebrucks 1966, S. 492; Pauly 2000, S. 381; Pawlik 2002, S. 183; Schild 2000, S. 37). Freilich ist zuzugeben, dass Hegels spekulative Rekonstruktion des Rechts nicht nur auf eine analytische Pragmatik setzt, sondern auch den affirmativen Kern vernünftigen Urteilens fruchtbar machen will. Das ist in einer sich als nachmetaphysisch verstehenden Moderne kein einfach zu vermittelndes Projekt. Allerdings geht es Hegel nicht um eine metaphysisch hochgerüstete Vernunftbegründung. Wichtiger ist ihm wohl, die bereits erwähnten Akteure in ihrer Doppelrolle als bedürfnisgeleitete Individuen und Bürgersubjekte, als homo oeconomicus und homo rationalis, zu begreifen. „Das Dasein des freien Willens“ zielt insoweit immer auf den Einzelwillen, der dann aber nicht als naturalisiertes Phänomen in einer ansonsten durch Normen strukturierten Praxis, sondern als normkonstitutive Motivation und weltgestaltende Entscheidung zu nehmen ist (Amengual 2004, S. 195; Pippin 1997, S. 31; Quante 1993). Hegels Akteure sind in diesem Sinne selbständig und verantwortlich, ihre Intentionen formulieren sie nicht solipsistisch, im Gegenteil, sie werden durch eine Vielzahl sozialer Konventionen und ebensolcher Eigenschaften begrenzt. Die damit einhergehenden Zumutungen der Freiheit will er ihnen keineswegs ersparen, auch deshalb nicht, weil er sie nicht für Zumutungen hält.
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Dieses Freiheitskonzept ist in der Sache nicht neu. Kant hatte die Strategien und Forderungen der (praktischen) Vernunft als personale Selbstbestimmung bereits konzise herausgearbeitet. Im Unterschied zu Kant betont Hegel jedoch die Notwendigkeit einer auch traditionsgebundenen Kontextualisierung freiheitsbezogener und folglich rechtlicher Argumente; nur in diesem Zusammenhang – so Hegels Überzeugung – könnten die Geltungsbehauptungen sinnvoll formuliert, aber auch die Grenzen derselben verständlich gemacht werden (Kuhlmann 1986, S. 7; Siep 1992, S. 182).
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Das gilt für den Heranwachsenden ebenso, wie für den souverän agierenden Akteur. Die Praktiken der Selbstorganisation werden oder sind vielmehr Ausdruck zu entwickelnder bzw. entwickelter Kompetenz, der zweiten Natur, der deutera physis. Hegel stellt sich damit in die Tradition (post-) aristotelischer Gesellschafts- und Staatsmodelle; deren moderne Transformation gelingt ihm durch eine systematische Neuplatzierung konfligierender Gründe, individueller Interessen und allgemeiner Forderungen in, so würden wir heute sagen, verschieden genormte Kontexte der Orientierung. Hegel selbst nennt sie in seiner Rechtsphilosophie: abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit (MM 7, §§ 34 ff., 105 ff. und 142 ff.; Ilting 1975, S. 52; Angehrn 1977, S. 180; Welsch/ Vieweg 2007, S. 191).
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Dieser sogenannte Post- oder Neoaristotelismus ist Hegel häufig als „reiner“ Konservatismus ausgelegt worden (Haym 1857, S. 357). Eine Diskussion, die sich in der Auseinandersetzung zwischen liberalistischen (Rawls, Dworkin) und kommunitaristischen Positionen (MacIntyre, Sandel, Walzer) im 20. Jahrhundert fortgesetzt hat. Hegel ging es aber gar nicht um einen wie auch immer verstandenen Konservatismus, sondern um die Frage, wie die Exzentrik der einzelnen Person mit den jeweils artikulierten Ansprüchen der Allgemeinheit vermittelt werden kann, ohne dass es dabei zu unüberwindlichen Entfremdungstendenzen kommt; wobei – jedenfalls der „späte“ – Hegel gegen das aristotelische Modell der Polis mit Vehemenz auf dem modernen Prinzip der (subjektiven) Freiheit beharrt (Wellmer 1993, S. 173). Dass Hegel häufig mehrdeutige, zum Teil metaphorische und partiell opake Formulierungen verwendet – Marx spricht hier sogar von einer „grotesken Felsenmelodie“ – (MEW E I, 8), soll dabei gar nicht bestritten werden. Letzterer ist es dann auch, der Hegels Programm des Objektiven Geistes einer radikalen Kritik unterzieht (Marx 1844/1986; Senk 2007).
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Die Rede von Kontexten der Orientierung, d.h. von Funktionsarealen des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit konkretisiert und strukturiert nicht nur das hegelsche Programm der Vernunft- und Daseinsanalyse, sondern auch seine Theorie des rationalen Handelns. Funktionsareale sind sie insoweit, als sie (positiv-) rechtliche, politische und ökonomische Positionen des Einzelnen wie der Allgemeinheit aus je unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. In diesem Sinne können sie auch als Aufweis unterschiedlicher Reflexions- und Freiheitsverwirklichungsniveaus gelesen werden (MM 7, § 33 Zusatz). Deutlich wird auch hier die dialektische Methode Hegels: so entspricht die Begründung der konkreten Rechts- und Statusverhältnisse keiner deduktiven Konstruktion, wie das noch bei Kant, mit Einschränkungen auch bei Fichte, der Fall war; im Grunde setzt sie konsequent das Prinzip der spekulativen Rekonstruktion fort. Die Bedeutung der einzelnen Funktionsareale wird im Modus eines idealtypisch vorgestellten Orientierungswissens erzählt und bestimmt. Sichtbar werden so die jeweiligen Aspekte des Rechts, subjektive wie objektive, deren Vereinseitigungstendenzen und Vermittlungspotentiale.
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Das Sprachspiel und Freiheitsverwirklichungsniveau des abstrakten Rechts zielt auf ein formal-objektives Ordnungsmuster (Bartuschat 1987, S. 19; Honneth 2001, S. 39; Kérvegan 1993, S. 443; Schnädelbach 2000 a, S. 199). Hegel entwickelt hier die (legalen) Strukturen der Rechtsverhältnisse als notwendige Bedingung kooperativen Handelns und vernunftgeleiteten Urteilens. Im Mittelpunkt der Analyse steht die personale Qualität des Rechts. Das ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: zum einen, weil der Begriff des Willens im Sinne von § 29 der Grundlinien nunmehr in der Person / der Persönlichkeit als Universalprinzip konkretisiert wird, die Entfaltung dieses Universalprinzips vom abstrakten Recht bis hin zur Sittlichkeit dementsprechend auf die Freiheitsgrade und ihre institutionelle Verwirklichung verweist; zum anderen, weil, ähnlich wie bei der „Daseinsbestimmung des freien Willens“, auch hier ein weiteres Relatum angesprochen ist, nämlich das der Person als individueller Träger von Rechten und Pflichten, vgl. § 36 Grundlinien.
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Dort heißt es dann auch expressis verbis: „Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechts aus. Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“
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Mit dieser Parallelführung der beiden „Daseinsmomente des Rechts“ fokussiert Hegel einmal mehr auf das gesamte Feld wie auch auf die Tiefenstrukturen des Normativen, bezieht letztere nun aber auf das spezifische Kontextualisierungspotenial der genannten Funktionsareale. – Das Potential des abstrakten Rechts sieht Hegel in der Explikation unmittelbarer Freiheitsformen, denn „das Recht ist zuerst das unmittelbare Dasein, welches sich die Freiheit auf unmittelbare Weise gibt“ (MM 7, § 40, ähnlich Not. zu § 37); d.h. im Modus des Eigentums, des Vertrages sowie des Unrechts, des Verbrechens und der Strafe. Im Gegensatz zu traditionellen, insbesondere vertragstheoretischen Begründungsmodellen möchte Hegel zeigen, dass die Rede über Eigentum, Vertrag oder Strafe nicht aus einer Konstruktion partikularer Positionen herzuleiten ist, sondern immer schon auf dem Prinzip der personalen Interaktion fußt (Zabel 2007, S. 44). Zugleich kommt es Hegel aber darauf an, das formelle Element, die „Bestimmtheit der Unmittelbarkeit“ zu betonen, als die Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit des Personalen (Willens) und damit des Rechts noch nicht miteinander vermittelt sind. Die Normen des Handelns und Urteilens werden als der freien Person äußerliche, nicht aus ihr selbst entwickelte Bestimmungen aufgefasst, die deshalb auch nicht zum Gehalt der selbstbewussten Freiheit des agierenden Individuums gehören. Insofern kann es sich bei den oben erwähnten Freiheitsformen auch nicht um staatlich verfasste Praxen des Rechts handeln. Die häufig anzutreffende Deutung, Hegel habe mit der Struktur des abstrakten Rechts die vollständigen Funktionen des Zivil- und Strafrechts, mutatis mutandis, des Öffentlichen Rechts entwickeln wollen, ist deshalb entschieden zu widersprechen (zu entsprechenden Positionen: Hösle 1987, S. 503; Jakobs 2008, S. 85; Schnädelbach 2000 a, S. 199). Wenn Hegel hier die genannten Institute einführt, so um sie als Bedingungen der Möglichkeit für die Verwirklichung der Freiheit auszuweisen. Ein vorgreifender Blick auf die §§ 209 Grundlinien bestätigt diese Sichtweise: Jene Bestimmung im Rahmen der Bürgerlichen Gesellschaft regeln die wesentlichen Fragen der Rechtspflege und machen damit deutlich, dass Recht im umfassenden Sinne immer auch Verfahrensrecht meint und sich deshalb nur in den gemeinschaftlich anerkannten Institutionen, der Legislative, Exekutive und Judikative, repräsentieren kann (Schild 1982, S. 267). Für das abstrakte Recht bleibt freilich die Aufgabe, das dialektische Moment der zugrunde liegenden Strukturentwicklung herauszustellen. Denn ohne diese (abstrakten) Rechts- und Freiheitsformen sind zwar recht-staatliche Verhältnisse nicht zu denken, das wollte Hegel ja gerade zeigen. Zeigen will er aber auch, dass diese Norm- und Konfliktkontexte noch gar nicht gewusst, d.h. (inter-)subjektiv angeeignet sind; dass eine moderne Theorie des Rechts aber diesen Prozess der individuellen Aneignung und Teilnahme offen legen und vor allem begründen muss, jedenfalls dann, wenn sie mehr sein will, als ein gediegenes Machtverteilungskonzept.
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Das Konzept der Moralität formuliert die handlungsbezogenen Kriterien reflektierten Urteilens (Ameriks 1995, S. 263; Menegoni 1997, S. 228; Schnädelbach 2000 a, S. 219; Wood 1997, S. 147). Das hier interessierende Modell der hegelschen Rechts- und Institutionenanalyse hat demnach offenzulegen, welche Bedeutung die damit einhergehenden Strategien der Selbstvergewisserung für die Strukturen gemeinschaftlicher Aushandlungsformen haben. – Hegel stellt dem abstrakten Recht kein alternatives Normorientierungsmodell gegenüber, sondern plädiert für einen Wechsel der Perspektive und d.h. für den subjektiven Standpunkt der Freiheit (Cesa 1995, S. 291; Horstmann 1999 a, S. 557; H. Lübbe 1962, S. 247; Walsh 1969). In diesem Sinne geht es auch aus Sicht der Moralität um die Narrative der Vernunft als verobjektivierter Geist, aber eben nicht mehr im Kontext der rein formellen Personalität, sondern notwendig als Explikation der Subjektivität und folglich als Bestimmung des Subjektseins der Subjekte.
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„Der moralische Standpunkt“, so Hegel in § 105 Grundlinien, „ist der Standpunkt des Willens, insofern er nicht bloß an sich, sondern für sich unendlich ist […]. Diese Reflexion des Willens in sich und seine für sich seiende Identität gegen das Ansichsein und die Unmittelbarkeit und die darin sich entwickelnden Bestimmtheiten bestimmt die Person zum Subjekte.“
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Für Hegel manifestiert sich diese Perspektivenverschiebung in der Behauptung einer unantastbaren Sphäre der Selbstreflexion über die jeweils richtigen Handlungs- und Begründungsmaßstäbe. Auch deshalb ist der moralische Standpunkt (zunächst) immer expressiv und selbst das Resultat willkürlicher Urteilsfreiheit; er ist, wie Hegel bereits im Naturrechtsaufsatz formuliert, „die Sittlichkeit, insofern sie am Einzelnen als solchem sich ausdrückt“ (MM 2, 467). Die hier zur Sprache kommende Differenz zwischen einer Identität mit sich und einer Anerkennung des Allgemeinen – die in der Tat ein zentrales Spannungsfeld subjektiver Freiheit artikuliert – versucht Hegel in der Rechtsphilosophie von 1821 durch eine Matrix kontroverser Bestimmungsformen des Willens zu entwickeln (MM 7, §§ 115, 119 ff. und 129 ff.). Während die Konstellation von Vorsatz und Schuld den Prozess bewusster Zwecksetzung thematisiert und damit nicht nur das Moment der Zurechnungsfähigkeit, sondern auch die Unterscheidung von Tat und Handlung markiert, präzisiert das Verhältnis von Absicht und Wohl den inneren Zusammenhang von Zwecken und Antizipationen äußerer Abläufe. Dem Akteur, der bestimmte Ziele verfolgt, geht es um sich selbst, um sein Wissen von sich, das er im Kontext des sozialen Handelns, seiner Umstände, Regeln und Abhängigkeiten durchzusetzen versucht. Die Rede über das Gute und das Gewissen betont schließlich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Kultur der Vernunft als „realisierte Freiheit“ und „absoluten Endzweck der Welt“, den das handelnde Subjekt „verinnerlichen“ und verwirklichen soll. Hegel verfolgt mit diesem Modell zugleich ein pragmatisch-institutionelles Anliegen (Quante 1993).
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Dagegen wird immer wieder behauptet, Hegel verfechte mit seinem moralischen Konzept ein rein „theoretizistisches“ Unternehmen, das insoweit auch als „wert- und normfreie Handlungstheorie“ interpretiert werden könne (in diesem Sinne etwa Schnädelbach 2000 a, S. 223). Eine solche Sichtweise macht sich freilich einen Norm-, Praxis- und Handlungsbegriff zu eigen, der an dem hegelschen Konzept praktischer Philosophie im Wesentlichen vorbeigeht. Hegel Anliegen scheint es aber gerade zu sein, die unterschiedlichen Qualitäten implizit normativer Urteile analysieren und zur Geltung bringen zu wollen (Moyar 2004, S. 209).
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So ist der moralische Standpunkt gleichermaßen an die Kontexte der Orientierung gebunden, wie sie bereits für das abstrakte Recht kennzeichnend waren. Indes, die Bezüge zum Eigentum, zum (Not-) Recht, wie auch zu den sonstigen Praxen individueller Freiheit, werden nun als je eigenes Wissen erfahren, damit aber auch der unbedingten Pflicht – Hegel nennt das die Eitelkeit des ironischen Subjekts – als der höchsten Spitze des Moralischen unterstellt. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist freilich die so zu Tage tretende Widersprüchlichkeit des gestaltenden Willens. Denn das Dasein der Subjektivität kann das Spannungsfeld zwischen der unbedingten Pflicht, der Tätigkeit der Besonderung“ und dem anerkannt Allgemeinen (Guten) nicht angemessen ausmitteln. Im Gegenteil, es macht gerade ihren „Charakter“ aus, von allen Praxisformen, zu denen sie sich bestimmt, auch abstrahieren zu können.
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Hegel macht zum einen die angesprochene Verhältnisstruktur, zum anderen die damit einhergehende, in der Moralität nicht auflösbare Entwicklung in den §§ 138 ff. Grundlinien besonders deutlich. Das Böse ist für ihn insofern nichts anderes als das bewusste sich Loslösen des reflektierten Willens vom Allgemeinen des Geistes, d.h. des Logos der sich in Natur, Menschenwelt und Individuum als ein einziger weiß (zu den Problemen dieses Konzepts Siep 1992, S. 217).
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Es ist jedenfalls diese Option einer Auflösung aller Verbindlichkeit, die letztlich auch dazu führt, dass die institutionellen Strukturen labil bleiben, d.h. artikulierte Rechte und entsprechende Ansprüche nicht oder in nicht effektiver Weise durchsetzbar sind. Um aber das zu gewährleisten, müssten sich die handelnden Akteure auf vernünftige Gründe und ebensolche Maßstäbe stützen können; Voraussetzungen, die das Feld des Moralischen nicht garantieren oder nur dem Zufall – also der subjektiven Willkür – überlassen kann (Bartuschat 1987, S. 77; Ottmann 2009, S. 266; Wood 1997, S. 147).
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Das System der Sittlichkeit begründet die Formen anerkannten, d.h. im umfassenden Sinne institutionell abgesicherten Orientierungswissens (Avineri 1976, S. 211; Habermas 1999, S. 186; Harris 1979; Honneth 2001, S. 141; Schnädelbach 2000 a, S. 245; Stekeler-Weithofer 2005, S. 357). Erst dieses Orientierungswissen bestimmt für Hegel den Handlungs- und Beurteilungsspielraum, der für eine konkrete Verwirklichung des Rechts als Freiheit – modern gesprochen –, für einen grundrechtlich verfassten Status der Personen erforderlich ist (Lübbe-Wolff 1986, S. 421; Lucas 1986, S. 175). Insofern ist die Sittlichkeit die Einheit von abstraktem Recht und Moralität. In ihr realisieren sich die abstrakten und moralischen Zuordnungsbeziehungen als allgemein gewusste und deshalb anerkannte (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat). „Das Sittliche ist die subjektive Gesinnung, aber des an sich seienden Rechts.“ (MM 7, § 141). Hegel macht damit auf etwas aufmerksam, dass auch für unser gegenwärtiges Staats- und Rechtsverständnis von großer Bedeutung ist. Vernünftige Praxen des Gebens und Nehmens von Gründen, des gemeinsamen Aushandelns sinnstiftender Kriterien, stellen sich nicht „einfach so“ her, sie müssen vielmehr durch bestimmte Daseinsbedingungen, durch ein Netz kooperativer Verfahrensformen zur Geltung gebracht und operationalisiert werden (Anter 2007; Hayek 1971; Lepsius 2009; Möllers 2000). Für Hegel waren es die bereits genannten Kontexte, die die damit verbundenen Standards der Rationalisierung absichern sollten. Das betrifft die Rückbindung des Einzelnen an den geschützten Raum des Privaten wie auch die Ausbildung personaler Kompetenzen, namentlich der Kinder, die Öffnung der individuellen Bedürfnisse zur Seite des Ökonomischen, der Rechtspflege und der Wohlfahrt, sowie – und nicht zuletzt – das politische Verhältnis der Akteure als Bürger eines freiheitlichen Staatswesens.
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„Daß das Sittliche das System dieser Bestimmungen der Idee ist“, so Hegel in § 145 Grundlinien, „macht die Vernünftigkeit desselben aus. Es ist auf diese Weise die Freiheit oder der an für sich seiende Wille als das Objektive, Kreis der Notwendigkeit, dessen Momente die sittlichen Mächte sind, welche das Leben der Individuen regieren und in diesen als ihren Akzidenzen ihre Vorstellung, erscheinende Gestalt und Wirklichkeit haben.“
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Vieles an der konkreten Darstellung Hegels, das Modell der Gewaltenteilung, aber auch das Fehlen originär ausgewiesener Grundrechte erscheint uns heute befremdlich oder sogar freiheitswidrig (Honneth 2001, S. 17; Siep 1992, S. 285). Indes, Hegel verficht mit seiner Sozialtheorie des Geistes keine Verabsolutierung historisch wirksamer Beurteilungsstandards – vor allem darin unterscheidet er sich von den naturrechtlichen Staatsmodellen seiner Vorgänger –; wichtiger ist wohl sein Anliegen, die Gehalte und Manifestationen der Freiheit, insbesondere das Prinzip wechselseitiger Selbstbestimmung, auf die je geschichtlich gewordenen und deshalb auch veränderlichen Bedingungen des Staates zu beziehen (Böckenförde 1976, S. 60; McDowell 1998; Pippin 2005, S. 191; Siep 2004, S. 351). Gerade insoweit hat sein Verweis auf die Bindung freiheitlicher Lebensformen an die zeit- und konfliktangemessenen Institutionen einer Gesellschaft nichts an Plausibilität verloren. Im Gegenteil, man kann den modernen Demokratie- und Verfassungsstaat durchaus als Realisierung der hegelschen idée directrice, im Sinne einer handlungsgerichteten Zielbestimmung, eines institutionalisierten Leitgedankens, verstehen, wonach jede Epoche, jede Gruppe von Akteuren, ihre Formen der Autonomisierung und Freiheitsverwirklichung finden muss.
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Auf den Begriff gebracht ist insoweit auch Hegels Institutionenverständnis. Im Gegensatz zu späteren, vor allem durch die „positivistische Wende“ beeinflussten Modellen (Hariou 1965; Kelsen 1960, Weinberger 1987, kritisch Krawietz 1985), favorisiert Hegel ein normpragmatisches Konzept, in dem formale und materiale Aspekte vermittelt werden. Die Rede von einer stabilen Rechts-Ordnung, von einem Verwaltungs-Staat etc., verweist dann immer auch darauf, dass Strukturen der Institutionalisierung, wie Eigentum und Vertrag, Familie oder Rechtspflege, auf normativ gestützten Konventionen beruhen, die aber nur durch die performativ geäußerte Anerkennung der Menschen ihre praxisorientierende Bedeutung erhalten. In diesem Sinne versteht Hegel auch das positive Recht der bürgerlichen Gesellschaft, insofern es, trotz seiner notwendig formalen und verfahrensgeleiteten „Natur“ praktisch gewordene, wenngleich fallible Vernunft ist (MM 7, §§ 211 ff.).
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Zur Geltung kommt damit eine bestimmte Signatur des institutionell wirksamen Gewährleistungsparadigmas (Anter 2007; Luhmann 1965; Zabel 2008, S. 68). Nach Hegel verpflichten sich Staat und Gesellschaft, die elementaren Rechte, d.h. die Subsistenzbedingungen des Einzelnen, so effektiv wie möglich zu schützen. Im Gegenzug erkennen letztere das Gewalt- und Justizmonopol hoheitlicher Administrationen an. Das Verhältnis von Leistung und Legitimation wird hier unmittelbar an die, bei Hegel theoriekonstitutiven Selbstbestimmungspraxen des Menschen geknüpft. Verabschiedet wird damit nicht nur die Bürgerkriegsmetaphorik hobbesianischer Provenienz, der vernunftentkernte Leviathan, sondern auch die zugrunde gelegte Anthropologie eines homo homini lupus (Bartuschat 1981, S. 19; Berlin 1992, S. 37; Kersting 2005). Das Freiheitsargument behauptet sich so gegen paternalistische Vorstellungen gemeinschaftlichen Handelns und Urteilens und schafft damit die Basis für ein neues Selbst-Bild des Akteurs als handelndes Subjekt und Rechtsperson. Zugleich, und hier kommt das moderne Verantwortungsmodell zum Vorschein, können die Akteure als rechtlich identifizierbare Urheber ihres Handelns und Unterlassens, ihres Wissens und Unwissens bestimmt werden (Gerhardt 1999; Heidbrink 2003; Lübbe 1994; Zabel 2007, S. 138). So gelingt es Hegel nicht nur, Konflikte oder Verletzungshandlungen auf praxis- und wertbezogene Gründe zurückzuführen, sondern auch das Recht als rationale Macht-, Ordnungs- und Befriedungspraxis zu legitimieren.
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Anschaulich wird dieses Modell einer genealogischen Begriffsanalyse anhand der von Hegel entwickelten Strafphilosophie (Klesczewski 1991; Mohr 1997, S. 95; Schild 1998, S. 429; Seelmann 1995, S. 11, Stübinger 2007; Zabel 2010). Das Zurechnungs- und Sanktionskonzept repräsentiert die Struktur der Freiheitsverwirklichung als eigenständige Institution. Während das abstrakte Recht die formalen Verletzungs- und Zuschreibungsbedingungen formuliert und damit Logik und (Praxis-)Form des Verbrechens wie auch der Strafe begründet (MM 7, §§ 90 ff.), verweist die Rede von der Moralität darauf, dass wir von Verbrechen und Strafe im Rechtsinne nur sprechen können, wenn wir zugleich die handlungsleitenden Orientierungs- und Vergewisserungsstrategien des Subjekts fokussieren, d.h. wenn die Umstände und der Bedeutungsgehalt des Konflikts sowie die konkrete Kenntnis des (Un-) Rechts auf den je Einzelnen bezogen werden (MM 7, §§ 115 ff.). Die insofern zu Tage tretende Handlungsmacht neigt aber sowohl auf Seiten des Verletzenden als auch auf Seiten des Rächenden zu einem Extremismus des Willens. Denn ohne die Standards einer allgemein anerkannten Rechts-Kultur – der Sittlichkeit –, kann weder das Maß des Unrechts noch das der Sanktion angemessen bestimmt werden. Hegel betont mit seinem Verweis auf das Strafgesetz und dessen konsequente Anwendung im Strafverfahren, dass es gerade das institutionalisierte Recht ist, das durch verobjektivierte Normaneignung- und Selbstbewusstseinsprozesse Strafgerechtigkeit herstellt (MM 7, §§ 209 ff., 257 ff.).
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„Indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung einer subjektiv Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine feste und starke Existenz hat.“ (MM 7, § 218) Und weiter heißt es: „Durch die Festigkeit der Gesellschaft selbst erhält das Verbrechen die Stellung eines bloß Subjektiven, das nicht so aus dem besonnenen Willen als aus natürlichen Antrieben entsprungen schient […]. Wird ein Verbrechen begangen, so wird es dem besonnenen Willen nicht zugesprochen, sondern der Leidenschaft, der natürlichen Seite des Willens. Dadurch wird dem Verbrechen der Charakter genommen, in welchem es seine Zurechnung erhält.“ (Ilting 1974, Bd. 3, S. 663; zu den Problemen der hegelschen Strafbegründung Seelmann 1995, S. 63).
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Deutlich wird damit auch die immanente Logik der hegelschen Argumentation. Anders als Kant oder auch Fichte versucht Hegel seinen Rechtsbegriff nicht im Wege einer transzendentalen Deduktion, sondern auf der Basis eines topischen Verfahrens zu begründen. Die von Hegel so benannte spekulative Methode ist deshalb ihrer Struktur nach nicht konstruktivistisch, als vielmehr re- oder dekonstruktiv. Auch wenn die logische Analyse und ihre Anwendung auf die impliziten Formen unserer Praxis heute einige Schwierigkeiten bereitet, so lässt sich doch erkennen, worauf Hegel aufmerksam machen will. Unsere Rede über das Recht und die damit verbundenen Strategien der Orientierung und Verantwortung setzt immer schon bei je gegeben Praktiken und Beurteilungsmuster ein, man denke an die Selbstverständlichkeit mit der wir von Grundrechten, Schuldformen oder Strafen sprechen, freilich, so das seinlogische Argument, ist die jeweilige façon de parler regelmäßig auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen und – gegebenenfalls – den (praktischen) Realitäten anzupassen. Allerdings sollten wir dann darauf achten, so Hegels wesenslogische These, dass die Realitäten, d.h. die Normen und Regeln unsere Kultur, auf einen Wirklichkeits- und insoweit einen Vernunftkern bezogen sind, als sie auf anerkannten oder anerkennbaren Kriterien des Urteilen und Handelns, z.B. dem Würde- oder Freiheitskonzept des modernen Staates, beruhen. Dieser Wirklichkeits- und Vernunftkern unserer condition humaine ist schließlich in seiner doppelten Repräsentation zu fixieren. Insofern kann die begriffslogische Analyse zeigen, dass sich das je konkrete empirische und begriffliche Rechtswissen immer relativ zu den jeweiligen zeitgenössischen Situationen einer bis in die Gegenwart reichenden Entwicklung formiert, zugleich aber als Aktualisierung einer nachhaltigen, überzeitlichen Idee der Rechts- und Vernunftentwicklung zu verstehen ist (zur Beurteilung der hegelschen Logik und Dialektik Fulda 2004, S. 78; Gadamer 1971; Pippin 2002, S. 223; Theunissen 1980).
III. Perspektiven: zur gegenwärtigen Diskussion
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Die gegenwärtige Diskussion zu Hegels praktischer Philosophie ist durch kontroverse Positionen gekennzeichnet. Während auf der einen Seite die Historizität des hegelschen Konzepts und damit seine rein exegetische Bedeutung behauptet wird (Schnädelbach 2000 b, S. 75; Horstmann 1999 b, S. 275), versucht man auf der anderen Seite, seine Anschlussfähigkeit an moderne Debatten der Moral- und Rechtsbegründung zu betonen (Honneth 2001, S. 70; Pippin 2005; Siep 2004, S. 351). Im Kern geht es bei der Auseinandersetzung darum, ob und inwieweit sich der hegelsche Systemanspruch gegen eine „nach-metaphysische“ Lesart sperrt oder für reaktualisierende Interpretationen offen ist. Soweit eine Aktualisierung verneint wird, stehen die anspruchsvollen und nicht einlösbaren Voraussetzungen des Systems im Mittelpunkt; es handele sich hier um metaphysische Begründungsstrategien, die aufgrund des hegelschen Holismus nicht entfernt werden könnten, ohne dass das Gesamtprojekt – einer Philosophie des Geistes – entwertet würde. Dagegen wird gerade das Entdogmatisierungspotential der hegelscher Praxisformen- und Begriffsanalyse mobilisiert (dezidiert Stekeler-Weithofer 2000, S. 70). Angesprochen sind hier vor allem Hegels therapeutische Vorschläge zur Überwindung typischer Mystifizierungs- und Vereinseitigungstendenzen; das betrifft den epistemologischen Zugriff ebenso wie die normpragmatische Begründung unser Weltorientierung und folglich des Rechts als handlungsleitende Institution. Von Bedeutung ist hierbei der explikative Umgang mit unseren Konventionen und Traditionen, aber auch der Hinweis, dass die Rede über den Staat als „Raum der Freiheit“ den Blick aus Akteurs- und Teilnehmerperspektive nicht vernachlässigen darf. – Inwiefern Hegels Projekt einer Sozialtheorie des Geistes tatsächlich tragfähig ist, d.h. inwiefern es sich gegen individualistische, positivistische oder szientistische Rationalitäts- und Ordnungsmodelle wird durchsetzen können, muss die kommende Diskussion erweisen (zusammenfassend Quante 2010).
IV. Zusammenfassung
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Bei Hegels Rechtsphilosophie handelt es sich um eine Sozialtheorie des Geistes, die, ungeachtet ihrer spekulativen Einfassung, wesentliche Einsichten der (frühen) Moderne formuliert. Das betrifft vor allem Hegels Überzeugung, dass jede Theorie des Rechts die Strukturen und Gründe institutioneller Orientierung und praktischer Freiheitsgewährleistung liefern muss.
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Im Fokus stehen die damit einhergehenden Autonomisierungsstrategien der Akteure. Angesprochen sind hier Praktiken des Gebens und Nehmens von Gründen, der Evaluierung und Autorisierung von Normen; Praktiken der Freiheit, die tradierte Lebens- und Rechtsformen erst transparent und insoweit verstehbar machen. Thematisiert werden diese Formen der Freiheitsverwirklichung durch die Funktionsareale und Sprachspiele des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit.
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In einer zunehmend komplex organisierten, auf politischen und ökonomischen Disziplinierungsstrategien beruhenden Gesellschaft sind es für Hegel diese Aushandlungsprozesse, die unser Handeln und Urteilen, unsere Taten und Überzeugungen, nicht als entfremdete, sondern als je eigene und d.h. als zu uns gehörig behaupten.
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Die so konzipierte Sozialtheorie des Geistes verbindet das Prinzip der Autonomisierung individueller Orientierung mit kooperativ wirksamen Gewährleistungsparadigma. Danach verpflichten sich Staat und Gesellschaft, die elementaren Freiheitsrechte, d.h. die Lebensbedingungen des Einzelnen, so effektiv wie möglich zu schützen.
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Hegels rationale Konfliktanalyse, beispielhaft: sein Zurechnungs- und Sanktionsbegründungsprogramm, repräsentiert die Matrix von individueller Autonomie, Freiheitsgewährleistung und Institutionalisierung durch eine Verknüpfung genealogischer und begriffsanalytischer Aspekte. Expliziert werden so die Geltungs- und Erfüllungsbedingungen verfahrensgeleiteter Rechtsverwirklichung.
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Die Rede von personalen Rechten, deren Verletzung und darauf bezogenen (Straf-) Sanktionen impliziert keine willkürlich formulierten Definitionen, sondern Begriffe, die, je nach Perspektive, konfligierende Interessen und normative Deutungen artikulieren, aber erst im Vollzug staatlicher Institutionen, der Rechtspflege etc., ihren sozialen Status und ihren gesellschaftlichen Sinn erhalten.
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Anders als Kant oder auch Fichte versucht Hegel seinen Rechtsbegriff nicht im Wege einer transzendentalen Deduktion, sondern auf der Basis eines topischen Verfahrens zu begründen. Die von Hegel so benannte spekulative Methode ist deshalb ihrer Struktur nach nicht konstruktivistisch, als vielmehr re- oder dekonstruktiv. Auch wenn die logische Analyse und ihre Anwendung auf die impliziten Formen unserer Praxis heute einige Schwierigkeiten bereitet, lässt sich doch erkennen, dass es um eine kritische Analyse unseres Wissens und unserer Praxisformen geht.
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Die aktuelle Auseinandersetzung um die Bedeutung und Anschlussfähigkeit der hegelschen Rechtsphilosophie wird zeigen müssen, inwiefern Methode und Begriff mit den Ansprüchen der „unversöhnlichen Moderne“ (Wellmer) zu vermitteln sind.
V. Bibliographie
Die Zitation der hegelschen Werke erfolgt – soweit nichts anderes notiert ist – nach der von Moldenhauer/ Michel edierten Ausgabe und wird mit MM und dem dazugehörigen Band abgekürzt.
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Wood, Hegel’s Critique of Morality, in: Siep (Hrsg.), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997.
Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, Berlin 2007.
—, Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 120 2008.
—, Die Vernunft des Leviathan, in: Seelmann (Hrsg.), Gegenwärtige Strafbegründungstheorien im Lichte von Hegels Straftheorie (im Erscheinen) 2010.
VI. Verwandte Themen
Deutscher Idealismus | Eigentum | Fichte, Johann Gottlieb | Freiheit | Gewohnheitsrecht | Handlung | Hume, David | Kant, Immanuel | Leibniz, Gottfried Wilhelm | Lessing, Gotthold Ephraim | Marx, Karl | Naturrecht | Positives Recht | Rawls, John | Rousseau, Jean-Jacques | Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph | Schuld | Strafe | Straftheorien | Strafverfahren | Vertrag | Zurechnung