Handlung
Erstpublikation: 07.04.2011
- Handlungstheorie
- Die Handlung als Interpretationskonstrukt
- Handlungserklärungen
- Der Handlungsbegriff im Strafrecht
- Bibliographie
- Verwandte Themen
I. Handlungstheorie
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Der Begriff der Handlung ist in der Ethik wie auch im Recht Anknüpfungspunkt für die Zuschreibung von Verantwortung. Normen können nur durch Handlungen befolgt werden. Diese praktische Bedeutung macht den Handlungsbegriff zwangsläufig zu einem zentralen Gegenstand normativer Wissenschaftsdisziplinen. Besondere Bedeutung hat die Befassung mit dem Handlungsbegriff in jüngster Zeit vor allem durch den von Wittgenstein initiierten linguistic turn einerseits und die Renaissance der praktischen Philosophie andererseits erlangt, obgleich die Reflexion über menschliches Verhalten seit der Antike zum Bestand abendländischer Philosophie gehört. Zu denken ist insoweit nur an die Abgrenzung von praxis und poiesis, Handeln und Hervorbringen, bei Aristoteles, an die umfassende „Philosophia practica unversalis“ von Christian Wolff und an den für J. G. Fichtes System grundlegenden Begriff der Tathandlung. Die eigentliche Geburtsstunde eines den Namen „Handlungstheorie“ verdienenden genuinen Forschungsgebietes wird man aber vielleicht erst mit den bahnbrechenden Arbeiten von H. L. A. Hart (1948/49), G. E. M. Anscombe (1957) und D. Davidson (1963) veranschlagen können.
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Die Themen der Handlungstheorie sind vielfältig und werden teils durch die dem jeweiligen philosophischen Ansatz eigene Methode und das jeweils leitende Erkenntnisinteresse, teils durch die spezifischen Probleme, die das Befolgen von Normen – oder genauer: das als Normbruch zuzuschreibende und Verantwortlichkeit begründende Fehlverhalten – aufwirft, bestimmt. Für die moderne Handlungstheorie steht dabei zunächst die Frage im Vordergrund, was unter einer Handlung zu verstehen ist, unter welchen Voraussetzungen ein Vorkommnis als Handlung angesehen werden kann, welche Eigenarten Handlungsbeschreibungen aufweisen und wie sich Handlungen (sprachlich) identifizieren lassen (unten II.). Eng mit diesen Fragen hängt wiederum die breite Diskussion darüber zusammen, wie Handlungen zu erklären sind, namentlich ob hierfür kausale Modelle herangezogen werden können oder gar müssen (unten III.). Die Erörterung dieser Problemstellung führt zu den grundsätzlichen Fragen nach den Bedingungen freien Handelns, nach dem Selbstverständnis des Menschen als Person, nach der Zuschreibung von Rationalität, Verantwortlichkeit und – insbesondere strafrechtlicher – Schuld.
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In allen Bereichen der Handlungstheorie spielt das Verhältnis von Handlung und Grund eine Rolle: Handlungen sind Verhaltensweisen, die aus einem Grund geschehen. Gründe geben als Kriterien von Rationalität Antworten auf die Frage nach dem Warum eines bestimmten Verhaltens. Alltagspsychologisch dienen als Gründe vor allem Absichten, aber auch Wünsche, Überzeugungen, Gefühle und charakterliche Dispositionen. Die Angabe solcher Gründe ist im sozialen Leben u.a. ein effizientes Mittel der Verständigung, der Koordination von Interessen und Verhaltensweisen, der Abstimmung von Erwartungen und Erwartungserwartungen, der Abwicklung von Geschäften sowie der Benennung und Verarbeitung von Konflikten. Theoretisch ist dabei von Belang, ob das Handeln als Verhalten aus einem Grund auf einen kausalen Mechanismus verweist oder in einen genuin teleologischen Bezugsrahmen eingebettet ist. Diese unterschiedliche Art, menschliches Verhalten zu betrachten, lässt sich als spezifische Ausprägung des tradierten Gegensatzpaares von (geisteswissenschaftlichem) Verstehen und (naturwissenschaftlichem) Erklären begreifen (v. Wright [1971]).
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In der wissenschaftlichen Befassung mit dem Strafrecht, in dem menschliches Handeln eine zentrale Rolle spielt, steht nahezu völlig außer Streit, dass eine Straftat eine Handlung sein müsse. Dementsprechend wird die Straftat gewöhnlich als (delikts-)tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung definiert. Die seit Jahrzehnten bestehende Diskussion um die Frage, was unter einer Handlung im Sinne des Strafrechts zu verstehen ist, wurde und wird jedoch kaum vor dem Hintergrund der allgemeinen philosophischen Handlungstheorie geführt. In erster Linie geht es hierbei vielmehr um das deliktssystematische Problem, ob die Kriterien der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung an die Strukturen eines vorrechtlichen Handlungsbegriffs gebunden sind, ob sich also die Konstruktion der Straftat gewissermaßen aus der Natur der Sache ergibt, oder ob die Straftat als Handlung erst mit Hilfe einschlägiger Kriterien der Verantwortungszuschreibung konstituiert wird, so dass als Anknüpfungspunkt der dogmatischen Konstruktion ein noch nicht als spezifische Handlung gedeutetes menschliches Verhalten ausreicht. Ein Rückgriff auf die Resultate der Handlungstheorie könnte zu dieser Diskussion Erhellendes beitragen und sachdienliche Lösungen aufzeigen (unten IV.).
II. Die Handlung als Interpretationskonstrukt
1. Handlung und Verhalten
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Der Begriff des (menschlichen) Verhaltens kann als Oberbegriff für alle körperlichen Veränderungen eines Menschen in Raum und Zeit angesehen werden und umfasst neben aktiven Bewegungen auch Passivität. Insoweit lässt sich ein Verhalten stets unschwer identifizieren: Es sind die (nicht) vorgenommenen Bewegungen eines Menschen zwischen zwei Zeitpunkten. Es spielt hierbei keine Rolle, ob die Bewegung bewusst erfolgt; auch eine Bewegung im Schlaf, ein Zucken im Reflex oder das Schreien eines Neugeborenen kann als Verhalten bezeichnet werden. Menschliches Verhalten in seiner schieren raum-zeitlichen Dimension unterscheidet sich daher – so betrachtet – nicht von pflanzlichem oder tierischem Verhalten.
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Ein bestimmtes Verhalten lässt sich in unterschiedlicher Weise beschreiben. Die beiden Sätze „A läuft zum Bahnhof“ und „A flieht vor der Polizei“ mögen sich jeweils auf ein bestimmtes Verhalten der Person A zu einem bestimmten Zeitpunkt beziehen. Jedoch geben diese beiden Beschreibungen dem Verhalten einen unterschiedlichen Sinn. Dieser Unterschied resultiert nicht nur aus den differierenden Umständen, unter denen das fragliche Verhalten gesehen und geschildert wird. Vielmehr wird mit der unterschiedlichen Darstellung des Geschehens auch das Verhalten des A in jeweils spezifischer Weise gedeutet. Diese spezifischen Interpretationen des Verhaltens können jeweils als Handlungen bezeichnet werden. Insoweit haben in dem Beispiel zwei Handlungsbeschreibungen ein und dasselbe Verhalten zum Referenzobjekt.
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Es gibt Verben, die für Handlungs- wie auch für bloße Verhaltensbeschreibungen verwendet werden können, und Verben, die stets ein Verhalten als Handlung interpretieren. Zu letzteren Zählen vor allem Verben, zu deren Sinn geistige oder voluntative Einstellungen, das Befolgen von Regeln oder bestimme Fertigkeiten gehören, wie etwa „lügen“ oder „Klavier spielen“. Ferner können Verben, die auch auf bloßes Verhalten passen, durch adverbiale Ergänzungen zu Handlungsbeschreibungen werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Adverb eine notwendig bewusste, gewollte oder besondere körperliche Vorgehensweise impliziert, wie etwa „gezielt schlagen“ oder „höflich schweigen“. Auch moralische Charakterisierungen – wie „richtig“, „böse“ – führen notwendig zu Handlungsbeschreibungen.
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Das wesentliche Merkmal, das eine Handlungsbeschreibung implizieren muss, ist Intentionalität. Eine „ungewollte“ Bewegung ist keine Handlung. Die Intentionalität muss ausdrücklich oder unausgesprochen in der Handlungsbeschreibung enthalten sein. Hierbei ist die Intentionalität immer auf ein Ziel gerichtet, das über die bloße Bewegung hinausreicht: Eine Handlungsbeschreibung interpretiert ein Verhalten, indem sie es mit einem über das Verhalten hinausreichenden Gegenstand, der als Ziel oder Zweck fungiert, verbindet. Oder anders formuliert: Durch die Verbindung mit einem von einem Akteur verfolgten Zweck erhält das Verhalten seinen Sinn als Handlung.
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Ist Intentionalität ein wesentliches Merkmal von Handlungen, so gehört zu den Wahrheitsbedingungen einer Handlungsbeschreibung, dass der Handelnde selbst sein Verhalten in der fraglichen Weise interpretiert oder sich zumindest die entsprechende Interpretation seines Verhaltens durch einen Dritten zu eigen machen kann. So wäre im Beispielsfall die Handlungsbeschreibung, dass A vor der Polizei flieht, unzutreffend, wenn A gar nicht weiß, dass er von einem Polizisten verfolgt wird und daher sein Verhalten nicht als Fliehen vor der Polizei versteht. Handlungsinterpretationen durch Dritte sind daher notwendig hypothetisch; der Handelnde kann ihre Zuschreibung prinzipiell entkräften. Für den Handelnden selbst ist dagegen die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten in einer bestimmten Weise begrifflich zu deuten, konstitutiv für dessen Intentionalität und Bewusstheit.
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Als sprachabhängige Interpretationen von Verhalten sind Handlungen insoweit objektiv geprägt, als der Sinn der zur Beschreibung herangezogenen Ausdrücke auf den allgemeinen Regeln ihrer Verwendung beruht. Wie man nicht „a b c d e“ sagen und damit meinen kann „die Heizung ist zu warm“, so lässt sich auch nicht sagen „ich spiele Trompete“ und damit meinen „ich trinke Wein“. Handlungen sind irreduzibel sprachlich konstituiert; sie sind Interpretationskonstrukte.
2. Handlungstypen
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Die Deutung eines Verhaltens als Handlung bezieht sich auf eine Situation, die durch eine Relation zwischen zwei Zuständen (bzw. Prozessen), der Handlungsgelegenheit, gekennzeichnet ist. Exemplarisch: Unter der Bedingung, dass das Licht in einem Zimmer ausgeschaltet ist, hat die Person A Gelegenheit zum Vollzug zweier Handlungen. Sie kann die Veränderung vom Ausgeschaltet- zum Eingeschaltetsein des Lichts durch eine Bewegung (Drücken des Schalters) herbeiführen, und sie kann das Herbeiführen dieser Veränderung unterlassen. Diejenige Veränderung, die nicht stattgefunden hätte, wenn A die jeweils kontrafaktische Alternative ergriffen hätte, kann als Ergebnis (Resultat, Erfolg) der Handlung bezeichnet werden. Dieses Ergebnis ist zugleich das Ereignis, durch das die betreffende Handlung im Falle ihres Gelingens definiert wird (Anscombe [1957], 37 ff.; v. Wright [1963], 123 f.). So hat A nur dann das Licht in dem Zimmer eingeschaltet, wenn die Lampe brennt.
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Eine Handlungsbeschreibung impliziert die Hypothese, dass die als Ergebnis genannte Zustandsveränderung nicht eingetreten wäre, wenn das Getane unterlassen bzw. das Unterlassene ausgeführt worden wäre, und setzt daher die Möglichkeit der Alternative voraus (v. Wright [1979], 56 ff.). Getan werden kann nur, was auch unterlassen werden kann, und vice versa. Hierin unterscheidet sich die Interpretation eines Verhaltens als Handlung wesentlich von einer bloßen Beschreibung dieses Verhaltens.
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Systematisch lassen sich vier Konstellationen unterscheiden, die jeweils eine Gelegenheit für ein Tun oder Unterlassen bieten:
(1) Ein Zustand z besteht, vergeht aber, wenn er nicht aufrechterhalten wird.
(2) Ein Zustand z besteht und bleibt bestehen, wenn er nicht zerstört wird.
(3) Ein Zustand z besteht nicht und tritt nur ein, wenn er herbeigeführt wird.
(4) Ein Zustand z besteht nicht, tritt aber ein, wenn er nicht unterdrückt wird.
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Diesen Konstellationen entsprechen die vier Handlungstypen des Aufrechterhaltens, Zerstörens, Herbeiführens und Unterdrückens. Hierbei beziehen sich ein Tun und das ihm korrespondierende Unterlassen jeweils nur auf einen bestimmten Handlungstyp. So impliziert etwa das Unterlassen des Tötens eines Menschen als systematisches Gegenstück nur die Möglichkeit der Herbeiführung von dessen Tod, nicht die aber Möglichkeit, dessen Sterben zu unterdrücken (v. Wright [1979], 60 ff.)
3. Basis-Handlungen und Akkordeon-Effekt
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a) Die Zustandsveränderungen, die als Ergebnis in Handlungsbeschreibungen eingehen, sind als Ereignisse in der Welt ihrerseits mit weiteren Zustandsveränderungen kausal verbunden. Diese Veränderungen kommen ebenfalls als Ergebnisse weiterer Handlungsbeschreibungen in Betracht. Wenn ein Akteur x tut und dadurch y verursacht, wodurch wiederum z verursacht wird, kann man ihm die Herbeiführung von x, y oder z als Handlungsfolgen zuschreiben. Dementsprechend können sich die Sätze „A drückt auf einen Lichtschalter“, „A schaltet das Licht an“ und „A weckt die Schlafende S“ auf denselben kausalen Geschehensverlauf beziehen. Als Handlungsergebnisse kommen jedoch nicht nur auf geraden kausalen Linien liegende Ereignisse, sondern auch Verzweigungen in Frage: A kann durch das Einschalten des Lichts den Stromzähler in Bewegung setzen, den gerade durchs Fenster einsteigenden Dieb D verjagen usw. Diese Möglichkeit, Kausalsequenzen unter einer Handlungsbeschreibungen zu dehnen und zusammenzuziehen, bezeichnen verschiedene Autoren anschaulich als Akkordeon-Effekt von Handlungsbeschreibungen (Davidson [1971], 16 ff.; Feinberg [1965], 146). Ein Akkordeon-Effekt kann sich auf kurze Geschehensverläufe, aber auch auf ganze Lebensabschnitte erstrecken (etwa: „A studiert Jura“).
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Die als potenzielle Handlungsergebnisse von einem Akkordeon-Effekt erfassten kausalen Konsequenzen eines Verhaltens lassen sich mit Hilfe topologischer Handlungsbäume darstellen. Solch ein Handlungsbaum hat als Wurzel stets eine Veränderung, die der Akteur einfach dadurch bedingt, dass er in einer bestimmten Weise in den Geschehensverlauf eingreift (oder nicht eingreift). Im Beispielsfall weckt A die S, indem er das Licht einschaltet, und er schaltet das Licht ein, indem er die Stellung des Schalters verändert. Hinsichtlich der Veränderung des Schalters kann A jedoch nichts anderes tun, als mit einem Finger so auf den Schalter zu drücken, dass sich dessen Stellung verändert. Zwar ließe sich auch die Bewegung, die das Drücken des Schalters zum Ergebnis hat, in weitere Stadien zerlegen, aber eine solche Analyse wäre bedeutungslos, wenn die gesamte Bewegung als Bedingung der nachfolgenden Veränderung der Schalterstellung verstanden werden soll. Dieses als Bedingung eines möglichen Resultats relativ einfache Tun oder Unterlassen kann Basis-Handlung genannt werden.
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Basis-Handlungen sind insoweit relativ einfach, als sich ihre Gestalt allein aus ihrem Verhältnis zu dem in Frage stehenden Handlungsergebnis ergibt. Hierbei kann die Ausführung der Basis-Handlung durchaus ein gewisses Maß an Komplexität aufweisen. Auch kann der Vollzug einer Handlung eine Fülle von Basis-Handlungen erfordern, wie dies etwa beim Spielen einer Klaviersonate oder dem Schreiben eines Buches der Fall ist.
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b) Dem Akkordeon-Effekt potenzieller Handlungsresultate entspricht die Relativität der intentionalen Interpretation von Geschehensverläufen (Anscombe [1957], 37 ff.). Da sich jede Veränderung auf dem Handlungsbaum als durch eine vorangegangene Änderung verursacht darstellen lässt, hängt die Bestimmung des intentionalen Objekts der Handlung von der Wahl der Ergebniszuschreibung ab. Sprachlich lässt sich dies durch eine Transformation der kausalen Dadurch-dass-Relation in eine intentionale Um-zu-Relation ausdrücken. So kann die kausale Verhaltensbeschreibung „A hat S dadurch geweckt, dass er das Licht einschaltete“ in die Handlung „A hat das Licht eingeschaltet, um S zu wecken“ umformuliert werden. Zugleich ist mit dieser intentionalen Interpretation des Geschehens ein Grund genannt, warum sich A in einer bestimmten Weise – Einschalten des Lichts – verhalten hat. Wählt man dagegen eine andere Veränderung als intentionales Objekt aus, so erhält man auch eine abweichende Handlung, etwa: „A hat das Licht eingeschaltet, um den Dieb D zu vertreiben“.
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Damit ein Ereignis als intendiertes Objekt bezeichnet werden kann, muss es stets auch der Grund des Täterverhaltens sein. Es wäre sprachlich nicht nur ungenau, sondern falsch, dem A die Intention zuzuschreiben, den Dieb D zu vertreiben, wenn dieses Ereignis nicht der Grund des Lichteinschaltens war. Selbst wenn das Vertreiben des D für A ein höchst willkommener Nebeneffekt seines Verhaltens gewesen ist, erklärt doch die positive Einstellung zu diesem Erfolg in keiner Weise das konkrete Verhalten. Es kann freilich sein, dass ein Akteur für ein bestimmtes Verhalten mehrere Gründe hat.
4. Handlung und Verantwortung
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In der Umgangsprache ist die primäre Funktion von Sätzen, die Handlungen zum Gegenstand haben, nicht deskriptiv, sondern askriptiv (Hart [1948/49]). Deskriptive Elemente gehen in Handlungsbeschreibungen stets insoweit ein, als sich diese sowohl auf Verhaltensweisen beziehen als auch bestimmte Veränderungen als intentionale Objekte bezeichnen können. Jedoch impliziert eine Handlungsbeschreibung je nach Handlungstyp, dass der Akteur die Möglichkeit hatte, als intentionales Objekt statt des realisierten Zustands dessen kontrafaktische Alternative eintreten zu lassen. Damit wird der Eintritt eines mit einem Verhalten kausal verbundenen Ereignisses als vom Willen des Akteurs abhängig ausgewiesen. Insoweit ist die Deutung eines Verhaltens als Handlung der per se geeignete Weg, um Verantwortung für den Eintritt von Veränderungen zuzuschreiben. Freilich hat die Zuschreibung von Verantwortung nur in einem normativen Kontext Sinn, in dem es um Lob oder Tadel geht.
5. Identität von Handlungen
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Besonders umstritten ist in der Handlungstheorie die Frage, ob sich die Identität von Handlungen nach dem jeweiligen Verhalten oder nach dessen Interpretation als Handlung richtet, ob also bei mehreren (zutreffenden) Handlungsbeschreibungen, die sich auf ein und dasselbe Verhalten beziehen, nur eine Handlung oder mehrere nicht-identische Handlungen gegeben sind. Nach Davidson haben alle Veränderungen, die sich auf einem Handlungsbaum nach Maßgabe des Akkordeon-Effekts darstellen lassen, eine identische Handlung zum Gegenstand, sofern es zumindest hinsichtlich einer Veränderung eine intentionale Beschreibung des fraglichen Verhaltens gibt ([1971], 7 f., 16; [1963], 686). Die beiden Sätze „Ödipus erschlägt an einer Weggabelung einen ‚widerspenstigen’ Reisenden“ und „Ödipus erschlägt an einer Weggabelung seinen Vater Laius“ haben also eine identische Handlung zum Gegenstand, weil sie sich als Referenzobjekt auf ein und dasselbe Verhalten des Ödipus beziehen und weil dieses Verhalten hinsichtlich seiner Beschreibung als Tötung des Reisenden intentional gedeutet werden kann.
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Werden Handlungen dagegen als Interpretationskonstrukte definiert, so kann für ihre Identität lediglich der semantisch irreduzible Sinn der Beschreibung, ihr intensionaler Gehalt, maßgeblich sein. Nur unter diesem Aspekt lässt sich aufgrund der Abhängigkeit einer Intention von ihrer Beschreibung der Sinnzusammenhang aufzeigen, den ein Verhalten in Beziehung zu bestimmten Veränderungen in der Welt für eine Person hat. Die Wahl der Beschreibung kann zudem wesentliche Auswirkungen auf die (persönlichen oder sozialen) Konsequenzen haben, die mit dem Handeln verbunden sind. Insoweit können Handlungsbeschreibungen, die sich begrifflich in ihrem begrifflichen Sinn, ihren Intensionen, nicht decken, auch nicht als verschiedene Beschreibungen eines identischen Ereignisses verstanden werden. Die Tötung eines Reisenden ist eine andere Handlung als die Tötung des Laius, und auch nur diese haben die Götter Ödipus verübelt. Handlungen können demnach nicht mit bestimmten Zustandsveränderungen identifiziert werden, sondern ihre sprachliche Konstruktion gibt die Einstellung wieder, die eine Person kraft ihres Verhaltens zur Bedeutung bestimmter Veränderungen und ihrer kontrafaktischen Tatsachen hat (Kenny [1963], Kap. 8; Taylor [1964] 27 ff.; Warnock [1963] 69 ff.; v. Wright [1966], 121).
6. Sprechhandlungen
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Handlungen können auch durch sprachliche Äußerungen vollzogen werden. Sprechakte in diesem Sinne sind etwa Befehle, Drohungen, Versprechungen, Beleidigungen, Warnungen oder – im rechtlichen Kontext vor allem – Willenserklärungen. Wie bei den einfachen körperlichen Verhaltensweisen, die als bestimmte Handlungen gedeutet werden, lassen sich auch bei Sprechakten mehrere Aspekte voneinander unterscheiden. Der etwa von A gegenüber B geäußerte Satz „Ich werde morgen kommen“ vermittelt zunächst einen bestimmten Inhalt, der nach den grammatischen Regeln der deutschen Sprache eine bestimmte Beutung hat. Dieser Aspekt der inhaltlichen Bedeutungsvermittlung kann als „lokutionäre“ Rolle einer sprachlichen Äußerung bezeichnet werden (grundlegend Austin [1962]; Searle [1982]).
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Mit der Äußerung „Ich werde morgen kommen“ kann eine Vielzahl von Handlungen vollzogen werden. Der Satz kann u.a. als Versprechen, als Mitteilung, als Warnung oder als Drohung gedeutet werden, je nach den Bedingungen, unter denen nach den einschlägigen pragmatischen Konventionen die Äußerung erfolgt. Der Vollzug einer bestimmten Handlung durch eine sprachliche Äußerung betrifft deren „illokutionäre Rolle“. Während also durch die lokutionäre Rolle festgelegt wird, was der Sprecher sagt, wird mit Blick auf die illokutionäre Rolle mitgeteilt, was der Sprecher mit Hilfe der Aussage macht. Ob schließlich eine Handlung ihren genuinen Zweck erreicht, wird von ihrem „perlokutionären“ Aspekt erfasst: A kann durch die Äußerung B von seinem Kommen überzeugen, in ihm eine entsprechende Erwartung oder Hoffnung wecken, ihn einschüchtern oder ihn zum Ergreifen bestimmter Maßnahmen veranlassen. Anders als der lokutionäre und der illokutionäre Aspekt einer Äußerung gehört jedoch der perlokutionäre Aspekt nicht mehr zur Bedeutung der Sprechhandlung selbst; eine Warnung bleibt z.B. auch dann eine Warnung, wenn sie ihr Adressat in den Wind schlägt.
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Sprachliche Verlautbarungen, mit denen illokutionäre Akte vollzogen werden, sind in der Terminologie Austins performative Äußerungen. Die illokutionäre Rolle einer Äußerung kann sich aufgrund der Umstände, unter denen sie erfolgt, eindeutig ergeben. Sie kann aber auch durch die Äußerung selbst benannt werden; Austin spricht dann von explizit performativen Äußerungen. So kann etwa das Versprechen, morgen zu kommen, durch Äußerung „Ich verspreche Dir, dass ich morgen komme“ ausdrücklich gegeben werden.
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Im Recht haben performative Äußerungen eine große praktische Bedeutung. Dies gilt insbesondere für alle Erklärungen, deren Vollzug eine konstitutive Bedeutung hat, wie etwa das Ja-Wort bei der Eheschließung oder die Willenserklärung beim Vertragsschluss. Aber auch bei der Analyse von (betrügerischen) Täuschungen durch konkludente Erklärungen kann der Rückgriff auf die Bedingungen performativer Äußerungen hilfreich sein (Kindhäuser [2008]).
III. Handlungserklärungen
1. Der praktische Syllogismus
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Je nachdem, ob man die Beziehungen zwischen den Veränderungen im Kontext eines Handlungsbaumes mit Hilfe von Dadurch-dass-Relationen oder mit Hilfe von Um-zu-Relationen darstellt, erhält man zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Erklärung dieser Veränderungen. Bei Dadurch-dass-Relationen wird das spätere Ereignis durch ein vorangehendes kausal erklärt. So lässt sich im Beispielsfall (oben III. 3.) nach Maßgabe des deduktiv-nomologischen Modells der Erklärung (Hempel/Oppenheim [1965], 245 ff.) aus der Menge der gegebenen Fakten und aus den einschlägigen Naturgesetzen logisch ableiten, warum S durch das Einschalten des Lichts erwachte. Das Erkenntnisinteresse ist hier also auf die Beantwortung der Frage bezogen, warum die Veränderung, dass S zum Zeitpunkt t aufwachte, eintrat. Durch die Angabe einer Um-zu-Relation wird dagegen ein Grund dafür genannt, warum sich A so verhielt, wie er sich verhielt; sein Verhalten diente als Mittel zur Realisierung des jeweils angegebenen intentionalen Objekts.
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Die intentionale Deutung eines Verhaltens als Handlung kann daher als Ergebnis einer Deliberation verstanden werden, zu deren formaler Darstellung sich das auf Aristoteles ([2007], VII 5, 1147a, mit dem Beispiel, Süßes kosten zu müssen) zurückgehende Schema des praktischen Syllogismus heranziehen lässt (Broadie [1968/69]; Kenny [1966], 65 f.). In diesem Modell ist ein bestimmtes (als Basis-Handlung gedeutetes) Verhalten Mittel zum Zweck und damit Endpunkt eines Schlusses (Konklusion), dessen Oberprämisse das intendierte Ereignis nennt. Vermittelt werden Oberprämisse und Konklusion durch Angabe der epistemischen und kognitiven Einstellung des Handelnden, namentlich seiner Einschätzung der (kausalen) Bedingungen, mit denen sich die Intention realisieren lässt (Brennenstuhl [1980], 35 ff.; Bubner [1982], 238 ff.; Müller [1982]; v. Wright [1972]). Exemplarisch:
Oberprämisse: Eine Person P will e (zum Zeitpunkt ty) herbeiführen
Unterprämisse: P geht davon aus, dass sie e herbeiführen kann, wenn sie h (nicht später als zum Zeitpunkt tx) tut
Konklusion: Folglich macht sich P (nicht später als zum Zeitpunkt tx) daran, h zu tun.
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Im Gegensatz zu einem logischen Schlusssatz ist beim praktischen Syllogismus die Ableitung der Konklusion aus den Prämissen (vor Ausführung der dort genannten Handlung) nicht logisch notwendig. Es ist denkbar, dass die Person P eine Intention hat und um deren Realisierung durch das Ausführen von h weiß und dennoch h nicht tut. Insoweit vermittelt der Schluss nur eine praktische Notwendigkeit in dem Sinne, dass P h tun müsste, wenn sie e herbeiführen will. Hat P dagegen h ausgeführt, so folgt die Konklusion begrifflich aus den Prämissen.
2. Kausale Erklärungen
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Ein (äußeres) Verhalten, das Gegenstand einer Handlungsbeschreibung ist, kann als Ereignis ohne weiteres zu kausalen Erklärungen anderer (späterer) Ereignisse herangezogen werden. So kann etwa die Frage, warum das Licht in einem bestimmten Zimmer zum Zeitpunkt t brannte, mit dem Hinweis, dass A ceteris paribus auf den Lichtschalter zum Zeitpunkt t’ drückte, beantwortet werden. Hier sind das Verhalten des A (Drücken auf den Lichtschalter) und das Ereignis, dass das Licht angeht und brennt, zwei kontigente Fakten, die im Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen können.
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Will man dagegen das Verhalten selbst erklären, so kommen insbesondere zwei Arten der Erklärung in Betracht. Zunächst kann man die Ereignisse, die der Armbewegung empirisch wahrnehmbar vorangehen (Prozesse im Gehirn, Nervenimpulse, Muskelbewegungen usw.), als Antecedens-Bedingungen begreifen, die nach allgemeinen Gesetzen das Verhalten des A im Sinne des deduktiv-nomologischen Modells kausal erklären. Die praktische Durchführbarkeit einer solchen Erklärung hängt von hierzu hinreichenden empirischen Kenntnissen und technischen Voraussetzungen ab, welche die prinzipielle Möglichkeit einer solchen Erklärung nicht berühren.
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Als eine andere Art der Erklärung bietet sich der Praktische Syllogismus unter Rückgriff auf die Intention und den Wissensstand des A an. Auch diese Erklärung gibt eine Antwort auf die Frage nach dem Warum des Verhaltens, verweist aber nicht auf die kausalen Antecedens-Bedingungen, sondern auf den Zweck, den A seinem Verhalten selbst gibt, z.B. auf diese Weise die schlafende S zu wecken. Hierbei ist die Intention, die das Verhalten in seiner finalen Ausrichtung verständlich macht, kein kausales kontingentes Ereignis, sondern verbindet das Verhalten begrifflich mit dem beweckten Handlungsergebnis (Anscombe [1957], 19; Daveney [1966]; Melden [1961], 53; Taylor [1970]; White [1967], 147; Wittgenstein [1970], §§ 53 - 60; v. Wright [1971], 94).
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Insoweit kann man zur terminologischen Klarstellung der verschiedenen Arten, menschliches Verhalten zu explizieren, auf die tradierte Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen zurückgreifen. Ein Verhalten kann zur kausalen Erklärung eines (hierzu kontingenten) Ereignisses herangezogen werden, während eine Handlungsbeschreibung dem Verstehen eines Verhaltens durch dessen intentionale Interpretation dient. Das heißt aber auch: Handlungsbeschreibungen sind ungeeignet zur kausalen Erklärung von Ereignissen, auf die als intentionales Objekt sie begrifflich gerichtet sind, weil sie für die Erklärung des Ereignisses keine neue Information liefern. Sagte man im Beispielsfall, S sei aufgewacht, weil A sie habe wecken wollen, so gibt man damit keine Erklärung für das Aufwachen der S, sondern erläutert z.B. nur, dass A nicht aus Versehen auf den Lichtschalter gedrückt hat. Dass das Drücken auf den Lichtschalter gewollt war, um S zu wecken, trägt zur kausalen Erklärung, dass S aufgewacht ist, nichts bei; S ist durch das Einschalten des Lichts aufgewacht, unabhängig davon, ob das Drücken auf den Schalter gewollt war, um S zu wecken, oder versehentlich erfolgte. Durch die dem A zugeschriebene Intentionalität wird sein Verhalten final interpretiert, aber nicht kausal durch die Angabe der Intention erklärt.
3. Der neue Dualismus
a) Die Verträglichkeitsthese
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Für die Möglichkeit einer (prinzipiellen) Rückführbarkeit intentionaler Handlungsinterpretationen auf kausale Erklärungsmuster könnte jedoch sprechen, dass sich der Zusammenhang zwischen einer Veränderung auf einem Handlungsbaum und der Intention, durch welche ein Verhalten als entsprechende Basis-Handlung gedeutet wird, mit Hilfe eines kausalen „Weil-Satzes“ darstellen lässt. Etwa: „S ist aufgewacht, weil A sie durch sein Drücken auf den Lichtschalter aufwecken wollte“. Hier hat es den Anschein, als sei das Wollen ein von dem Betätigen des Lichtschalters unabhängiges Ereignis, also gewissermaßen ein dem körperlichen Verhalten vorausgehender Akt des Wollens, der seinerseits die Bewegung verursacht. Nun können zwar einem Verhalten Überlegungen vorausgehen, die dann zu einer Entscheidung führen, die A durch sein Verhalten in die Tat umsetzt. Aber weder die Überlegungen noch die Entscheidung als solche bewirken für sich eine Bewegung des Arms. Vielmehr kann A seine Entscheidung nur dadurch realisieren, dass er die Bewegung des Drückens auf den Lichtschalter vollzieht. Der Willensakt – wenn man diese Bezeichnung, die eine psychische Mechanik suggeriert, beibehalten will – ist also identisch mit dem als (Basis-)Handlung intentional interpretierten Verhalten. Und diese intentionale Charakterisierung des Verhaltens ist semantisch irreduzibel intensional. Ihre Bedeutung wird unabhängig davon festgelegt, ob der Bewegung eine bestimmte Neuronenerregung vorausgeht oder sie begleitet; eine solche Neuronenerregung gehört jedenfalls nicht zu den Voraussetzungen der sprachlich korrekten Zuschreibung einer Intention, die mit Hilfe einer „um-zu-Relation“ ausgedrückt wird (Sehon [1997], 225 ff.).
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Dass identische Verhaltensweisen sowohl kausal als auch intentional gedeutet werden können, ohne dass die eine Sprachverwendung auf die andere als die fundamentalere reduziert werden kann, hat bereits Wittgenstein ([1963], § 621) mit folgender Überlegung illustriert: „Aber vergessen wir eines nicht: wenn ‚ich meinen Arm hebe’, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt? (Sind nun die kinaesthetischen Empfindungen mein Wollen?)“.
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Es mag sich ein Experiment dergestalt durchführen lassen, dass ich infolge der Reizung einer meiner Gehirnregionen durch ein Gerät beobachten kann, wie sich mein zunächst herabhängender Arm noch oben bewegt. Vielleicht ist es sogar möglich, den kausalen Zusammenhang zwischen Neuronenerregung und Bewegung an einem Monitor zu verfolgen; die Beschreibung dieses Vorgangs lautete dann: „Mein Arm bewegt sich“. Dagegen wäre es sprachwidrig, in diesem Fall zu sagen: „Ich bewege meinen Arm“. Und dies wäre auch dann sprachwidrig, wenn ich auf meinem Monitor feststellen könnte, dass mein Gehirn bei meiner Bewegung in derselben Weise aktiv ist wie bei der mechanischen Reizung. Die beiden Sätze „Ich hebe meinen Arm“ und „Mein Arm hebt sich“ schließen sich – bezogen auf ein und denselben Sprecher – wechselseitig aus; sie haben einen miteinander unverträglichen Sinn. Diese Bedeutungsverschiedenheit beider Sätze hat offensichtlich nichts mit der Frage zu tun, was tatsächlich in meinem Körper vor sich geht. Denn es wäre ohne weiteres möglich, dass meine Hirntätigkeit von einem Dritten auf einem Monitor beobachtet werden könnte, mit der Folge, dass mein Satz „Ich hebe meinen Arm“ ebenso richtig wäre wie die Annahme des Dritten, dass sich mein Arm hebt. Wie derselbe Planet einmal als Morgen- und einmal als Abendstern bezeichnet werden kann, so ist es auch nicht logisch ausgeschlossen, dass ein und derselbe körperliche Vorgang in Ausdrücken mit unterschiedlicher Intension beschrieben werden kann. Ob im Bedeutungsumfang (extensional) eine faktische Identität im Referenzobjekt vorliegt, kann in diesem Kontext offen bleiben, da diese Frage den Sinn der Interpretation (intensional) nicht berührt.
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Vergleicht man nun mit Blick auf das Experiment die beiden Sätze „Ich hebe meinen Arm“ und „Mein Arm hebt sich“, so ist es möglich, dass in beiden Fällen das Geschehen auch mit dem Verb „verhalten“ umschrieben werden kann, nämlich „Ich habe mich in einer bestimmten Weise verhalten“ und „Mein Körper hat sich in einer bestimmten Weise verhalten“. Ein körperliches Verhalten kann also gleichermaßen aus der Ich-Perspektive und aus der Beobachter-Perspektive korrekt beschrieben werden. Mit dem Verb „handeln“ geht dies indessen nicht. Es lässt sich nur sagen, „Ich habe gehandelt, indem ich meinen Arm gehoben habe“, nicht aber „Mein Körper hat gehandelt, indem sich mein Arm gehoben hat“. Dies rechtfertigt die bereits eingangs vorgenommene begriffliche Differenzierung zwischen dem Begriff des Verhaltens, der gleichermaßen in kausalen und intentionalen Kontexten verwendet werden kann, und dem engeren Begriff des Handelns, der ein Verhalten nach Maßgabe einer bestimmten Interpretation zum Gegenstand hat (II.1.).
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Unter der Hypothese, dass der kausale und der intentionale Zugriff auf ein Verhalten zwar miteinander verträglich, aber nicht aufeinander rückführbar sind, sind Geist und Körper nicht als zwei verschiedene Entitäten anzusehen; vielmehr wird der Mensch als Einheit erfasst. Jedoch spiegelt sich einerseits seine Selbsterfahrung als eines geistbegabten, der Reflexion fähigen Wesens in der Sprache wider, mit der er sein Handeln und seine seelischen Vorgänge interpretiert, während andererseits eine hiervon logisch verschiedene Sprache den Rahmen bietet, mit dem sich die neurophysiologischen Prozesse menschlichen Verhaltens kausal erklären lassen. Insoweit könnte man – in sprachlich gewendeter Fortführung der Kantischen Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon – mit Landesman ([1965], 329 f.) von einem „neuen Dualismus“ in der Erfassung des Menschen sprechen.
b) Monistische Reduktion
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Die Annahme, dass das Verstehen von Handlungen irreduzibel teleologisch sei, ist in der Handlungstheorie gleichwohl auf Widerspruch gestoßen. Namentlich Davidson ([1963], 685 ff.) besteht auf dem Primat nomologischer Erklärungen und verteidigt die Möglichkeit einer Rückführung teleologischer Deutungen auf kausale Explikationen (Davidson’s challenge). Er hält einen Grund nur dann für handlungserklärend, wenn dieser Grund auch als Ursache der Handlung anzusehen ist. Sonstige Gründe können zwar als Rechtfertigungen für ein Handeln herangezogen werden, erklären dieses aber nicht tatsächlich. Ein handlungserklärender Grund – Davidson spricht auch von einem primären Handlungsgrund – setzt sich aus zwei Elementen zusammen: einem (motivbildenden) Wunsch und der Überzeugung, dass ein bestimmtes Handeln zur Zielverwirklichung geeignet ist. Exemplarisch: A schenkt sich eine bestimmte Flüssigkeit in ein Glas und trinkt diese. Für dieses Verhalten kann es mehrere Gründe geben: A will seinen Durst löschen, er will den Geschmack der ihm bislang unbekannten Flüssigkeit kennen lernen, er will einem drohenden Hustenanfall vorbeugen, er will verhindern, dass B die Flüssigkeit trinkt. Unter diesen Wünschen, die alle mehr oder weniger zutreffen mögen, soll nun derjenige der maßgebliche Teil des primären Grundes sein, der das Verhalten des Trinkens kausal erklärt. Und das heißt wiederum, dass der Grund über seine kausale Funktion zu identifizieren ist. Hierfür lässt sich jedoch allenfalls die Versicherung des A anführen, dass einer dieser Wünsche für ihn tatsächlich handlungswirksam war, so dass noch kein über die alltagspsychologische Plausibilität hinausgehendes substantielles Identifikationskriterium gefunden ist.
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Ferner sind Intentionen gerade auf Künftiges und nicht auf die Vorgeschichte eines Verhaltens bezogen. Mit der Angabe einer Intention wird das Verhalten als Mittel zur Erreichung eines Ziels gedeutet. Daher setzt eine kausale Erklärung notwendig voraus, dass sich das teleologische Vokabular mit Hilfe geeigneter Brückengesetze in eine (retrospektive) nicht-intentionalistische Sprache transformieren lässt. Eine der bei der Suche nach solchen Brückengesetzen auftretenden (und kaum überwindbaren) Schwierigkeiten dürfte darin bestehen, dass Kausalgesetze allgemeine Regelmäßigkeiten zum Gegenstand haben, während sich für handlungsleitende Gründe keine allgemeingültigen Gesetzeshypothesen auffinden lassen. Eng damit hängt das semantische Problem zusammen, das sich dem kausalen Ansatz stellt: Bestimmt man mit Davidson die Identität von Handlungen extensional, so ist es gleichgültig, ob man ein und dasselbe Verhalten des Ödipus als Tötung eines Reisenden oder als Tötung des eigenen Vaters beschreibt. Auch die herangezogenen Gesetze beziehen sich unabhängig davon auf bestimmte neuronale Vorgänge und darauf, wie diese beschrieben werden. Dann kann aber das bloße kausale Geschehen auch keinen Beitrag dazu leisten, ob die Tötung des Reisenden oder die Tötung des eigenen Vaters die maßgebliche Intention war.
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Ein weiteres Gegenargument gegen den kausalen Ansatz lässt sich mit Blick auf sog. abweichende Kausalketten formulieren, bei denen die Absicht des Handelnden unter Bedingungen realisiert wird, unter denen das Geschehen nicht mehr als intentionale Handlung interpretiert werden kann. Exemplarisch: A will, um den B zu schädigen, dessen wertvolle Vase mit seinem Arm umstoßen, wird wegen dieses Vorhabens aber so nervös, dass er die Vase durch ein Zucken des Arms umstößt. In diesem Fall wird – akzeptiert man die kausalistische Prämisse – durch die Intention eine Kausalkette initiiert, die zu dem gewünschten Schaden führt, obgleich das Verhalten mangels Kontrolle nicht die sonstigen Voraussetzungen einer Handlung erfüllt (Frankfurt [1978], 157 ff.). Davidson begegnet diesem Einwand mit der Forderung, die Kausalkette müsse in der richtigen Weise verlaufen ([1973], 78 f.; auch Mele [2004], 279 ff.). Damit wird freilich eine normative Betrachtung eingeführt, die mit einem rein empirischen Ansatz unverträglich ist.
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Die Schwierigkeit der Kausalisten, abweichende Kausalketten adäquat zu erklären, ist auch mit dem tiefer liegenden Problem verwurzelt, das bereits im Kontext der Basis-Handlungen angesprochen wurde (II. 3.). Während Ursachen ceteris paribus Wirkungen erzeugen, beschreiben Intentionen keine Ereignisse, die aufgrund gegebener Rahmenbedingungen notwendig zu einem bestimmten Verhalten führen. Wenn A seinen Durst mit einem Glas Wasser löschen möchte und auch davon überzeugt ist, dass eine Flasche Mineralwasser samt Glas in der Küche steht, dann ist damit keineswegs gesagt, dass sich nun A „automatisch“ in Bewegung setzt, sich ein Glas Wasser einschenkt und dieses austrinkt. Vielmehr muss A, damit es zum gewünschten Erfolg kommt, jeden weiteren Schritt intentional gesteuert ausführen (Frankfurt [1978], 157 ff.). Die Realisierung der Intention qua Verhalten ist zu keinem Zeitpunkt etwas, das von selbst abläuft; vielmehr ist Handeln kontrolliertes Verhalten unter einer intentionalen Beschreibung. Gründe bewirken als solche gar nichts, sondern sind nur Deutungen eines Verhaltens, das eine Person unter einer Beschreibung vollzieht. Insoweit ist auch an die Möglichkeit zu denken, dass eine Person aus einem bestimmten Grund mit der Ausführung einer Handlung beginnt, sich aber dann anders entscheidet und sich nun anders als ursprünglich intendiert verhält (Wilson [1997], 65 ff.). A will z.B. mit B telefonieren, entscheidet sich aber während des Wählens um und ruft C an.
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Schließlich sieht sich ein kausaler Ansatz mit dem Problem konfrontiert, dass die normativen Wertungen, mit denen Gründe gegeneinander abgewogen und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, nicht in einer rein empirischen Sprache berücksichtigt werden können. Gründe werden handlungsleitend, wenn sie vom Handelnden als sinnvoll, lohnend, zwingend usw. angesehen werden und ggf. in eine das Leben bestimmende Wertorientierung eingebettet sind (Schueler [2001]; Sehon [1997]).
4. Intentionen höherer Ordnung
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In Kontexten, in denen ein Akteur für den Eintritt eines Ereignisses lobend oder tadelnd verantwortlich gemacht wird, impliziert die Zuschreibung einer entsprechenden Handlung zwei kontrafaktische Hypothesen: Dass das fragliche Ereignis nicht eingetreten wäre, wenn der Betreffende sich in einer Weise verhalten hätte, die als ein dem jeweiligen Handlungstyp korrelierendes Unterlassen anzusehen wäre, und dass der Betreffende diese Verhaltensalternative um der Vermeidung des fraglichen Ereignisses willen hätte ergreifen können. Sofern eine Person für ein Unterlassen zur Verantwortung gezogen wird, gelten die beiden Hypothesen in entsprechender inhaltlicher Umkehrung. Mit diesen kontrafaktischen Annahmen kommt das entscheidende Kriterium der Zuschreibung von Handlungen und Unterlassungen zum Ausdruck: die Kontrolle des Geschehens nach Maßgabe normativer Präferenzen. Die Kontrolle wiederum ist abhängig von den Fähigkeiten einer Person, die Realität in der Orientierung an ein Sollen zu gestalten, insbesondere sich normativen Handlungsanforderungen gemäß zu verhalten.
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Ein analytisches Modell, das die Strukturen der Zuschreibung von Verantwortung adäquat erfassen will, muss die beiden kontrafaktischen Annahmen und die relevanten Kriterien ihrer Verifikation auf zwei Ebenen darstellen (grundlegend Frankfurt [1981], 287 ff.). Verdeutlichen lässt sich dies unschwer mit Blick auf die Befolgung einer Verhaltensnorm. Auf einer ersten Ebene des Modells kommen die Fähigkeiten zur Realisierung einer der eigenen Steuerung unterliegenden Intention in Ansatz; man kann insoweit von Handlungsfähigkeit sprechen. Auf einer zweiten Ebene, die sich gestuft auf die erste Ebene bezieht, sind die Kriterien zu lozieren, welche die Fähigkeit zur Realisierung der jeweils alternativen Intention um der Normbefolgung willen zum Gegenstand haben.
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Exemplarisch: A verspricht seiner Freundin F, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Bahnhof abzuholen und nach Hause zu bringen (zum Sprechakt des Versprechens Searle [1982], 84 ff.). Die hier relevante Norm ist das moralische Gebot, Versprechen zu halten, bzw. das Verbot, sie zu brechen. Die von A in Aussicht gestellte Handlung ist die Verwirklichung der Intention, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Bahnhof zu begeben, dort auf F zu warten und sie sodann nach Hause zu begleiten. Um diese Intention realisieren zu können, muss A zumindest zwei Voraussetzungen erfüllen: Er muss die erforderlichen Kenntnisse (Ort des Bahnhofs, Zeitpunkt usw.) besitzen, und er muss physisch fähig sein, die nötigen körperlichen Bewegungen zu vollziehen. Fehlen dem A aktuell die erforderlichen Kenntnisse, ergibt sich aus dem Versprechen die weitere Anforderung, sich diese Kenntnisse rechtzeitig zu verschaffen. A wird sich für sein Nichterscheinen nicht mit dem Hinweis entlasten können, ihm sei der Weg zum Bahnhof unbekannt gewesen. Das Versprechen setzt mithin voraus, dass A aktuell handlungsfähig ist, also das nötige Wissen und physische Können zur Einhaltung des Versprochenen tatsächlich besitzt, oder dass er dafür Sorge trägt, sich das nötige Wissen und physische Können rechtzeitig zu verschaffen. Der Ausdruck „Fähigkeit“ kann zweierlei bedeuten: Er kann sich auf eine generelle Disposition (z.B. das Können, mit einem Auto zu fahren), aber auch auf die Manifestation des Könnens in einer konkreten Situation (z.B. das Steuern eines Autos in einer bestimmten Kurve) beziehen; mit aktueller Handlungsfähigkeit ist im Beispielsfall nur die situative Manifestation des Könnens gemeint.
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Handlungsfähigkeit allein genügt jedoch zur Einhaltung des Versprechens nicht. Damit A die Intention, zum Bahnhof zu gehen, realisieren kann, muss er diese Intention auch zu einem bestimmten Zeitpunkt bilden und rivalisierenden anderen möglichen Intentionen handlungswirksam vorziehen (zur Selbstbindung Gutmann [2001], 23 ff.). A darf jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem er sich auf den Weg zum Bahnhof machen müsste, nicht Einkäufe tätigen, einen Freund besuchen oder einfach nur zu Hause bleiben wollen, um zu schlafen. Insoweit impliziert das Versprechen, eine bestimmte intentionale Handlung zu vollziehen, zugleich die Fähigkeit, die Intention zur versprochenen Handlung zu bilden und dominant zu realisieren. Es wäre ein Selbstwiderspruch, die Verwirklichung einer bestimmten Intention zu versprechen, hierbei aber offen zu lassen, ob man zur Realisierung dieser Intention überhaupt willens und in der Lage ist. Man kann die Intention, aus einem mehr oder minder großen Kreis möglicher intentionaler Handlungen eine bestimmte Handlung nach Präferenzgesichtspunkten auszuwählen, zu bilden und konkurrierenden Intentionen handlungswirksam vorzuziehen, eine Intention höherer Ordnung nennen. Und die Fähigkeit, Intentionen höherer Ordnung zu bilden und zu realisieren, sei in Abgrenzung zur Handlungsfähigkeit als Motivationsfähigkeit bezeichnet.
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Im Beispielsfall wird von A erwartet, dass er die Intention, F vom Bahnhof abzuholen, gerade deshalb rivalisierenden Wünschen vorzieht, weil er die Realisierung dieser Handlungsintention versprochen und damit als für ihn verbindlich und vorzugswürdig anerkannt hat. Die Motivationsfähigkeit ist die entscheidende Voraussetzung, um Normen befolgen zu können. Und wiederum gilt: Durch das Versprechen bindet sich A nicht nur, genau zu dem Zeitpunkt, zu dem er F abholen müsste, die entsprechende Intention anderen Intentionen handlungswirksam vorzuziehen. Vielmehr muss er auch dafür Sorge tragen, zum fraglichen Zeitpunkt motivationsfähig zu sein. Es würde ihn gegenüber F nicht entlasten, wenn er sein Nichterscheinen am Bahnhof zur fraglichen Zeit mit dem Hinweis erklären würde, er sei eingeschlafen oder sinnlos betrunken gewesen.
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Nach Frankfurt (1981) vermag das Modell gestufter Intentionen auch einen Beitrag zum Begriff der Willensfreiheit zu liefern: Eine Person sei dann in ihrem Willen frei, wenn die Intention erster Stufe, die sie handlungswirksam realisiert, ihrer entsprechenden dominanten Intention zweiter Stufe entspricht. Willensfrei ist nach dieser rein subjektiven Theorie also derjenige, der die Intention realisiert, die er auch haben will. Dementsprechend ist nur derjenige nicht frei, dem bewusst ist, dass er die von ihm gewünschte Intention – aus internen (z.B. Sucht) oder externen Gründen (z.B. Nötigungsdruck) – der tatsächlich realisierten Intention nicht handlungswirksam vorzuziehen vermag.
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Eine solche Sicht der Dinge entspricht jedoch kaum der intuitiven Vorstellung, auch Hindernisse, die dem Handelnden nicht bewusst sind, als Einschränkung seiner Willensfreiheit zu sehen (Kane [1996], 64 ff.). Dieser Einwand ist jedenfalls dann plausibel, wenn man an die Möglichkeit denkt, einen Menschen dergestalt extern zu manipulieren, dass der Betreffende genau die Intentionen für vorzugswürdig hält, die ihm der ihn Kontrollierende suggeriert. Dagegen berührt der Einwand nicht die Erklärungskraft des Modells, mit dem die für die Zuschreibung von Verantwortung maßgeblichen Kriterien rekonstruiert werden. Denn in diesem Kontext geht es nicht um die Frage, welche Intention der Handelnde selbst haben will, sondern um die Frage, ob der Handelnde in der Lage ist, die von der Norm vorgegebene – und damit als vorzugswürdig ausgewiesene – Intention einer beliebigen anderen und insbesondere der tatsächlich realisierten Intention handlungswirksam vorzuziehen. Pointiert: Wenn es darum geht, den A wegen der Tötung des B zur Verantwortung zu ziehen, so betrifft das Problem der Freiheit nicht die Frage, ob A es für richtig gehalten hat, die Intention, den B zu töten, zu bilden und zu realisieren, sondern um die Frage, ob es A möglich gewesen wäre, die Intention, den B nicht zu töten, um der Befolgung des Tötungsverbots willen handlungswirksam zu bilden. Damit stellt sich – für die Moral wie für das Recht gleichermaßen – das Problem, welche positiven oder negativen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um auf der Ebene der Motivationsfähigkeit hinreichende Freiheit zur Begründung von Verantwortung bzw. hinreichende Unfreiheit zum Ausschluss von Verantwortung zu bejahen.
IV. Der Handlungsbegriff im Strafrecht
1. Problem und Lösungsansätze
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Im Recht spielt der Handlungsbegriff vor allem im Strafrecht eine bedeutsame Rolle, da die Straftat nach allgemeiner Ansicht als Handlung definiert wird, die einen (Delikts )Tatbestand verwirklicht, nicht gerechtfertigt ist und dem Handelnden zur Schuld zugerechnet werden kann. In dieser Konstruktion ist die Handlung das Basiselement eines Delikts, dem die Prädikate tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft zugeordnet werden. Die „Handlung“ wird damit als eine Entität angesehen, die unabhängig von ihren deliktischen Charakterisierungen bereits existiert. Doch ein solches Verständnis ist ersichtlich nicht mit einem intentionalen Handlungsbegriff im Sinne der analytischen Handlungstheorie zu vereinbaren. Wenn eine Handlung ein beschreibungsabhängiges Interpretationskonstrukt ist, so wird eine strafbare Handlung überhaupt erst durch die begrifflichen Elemente des Tatbestands und der weiteren Deliktsstufen konstituiert. Vor dem Tatbestand kann folglich als factum brutum nur ein Verhalten existieren, das erst durch die Prädikate des jeweils einschlägigen Delikts als eine bestimmte Straftat gedeutet wird.
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Aber selbst wenn man als Basisbegriff einer Straftat nicht die Handlung setzt, sondern das Verhalten, das erst durch die Zuschreibung der begrifflichen Deliktselemente die Qualität einer bestimmten Handlung erlangt, stellt sich das weitere Problem, ob das Resultat einer solchen Zuschreibung stets als Handlung angesehen werden kann. Die Antwort fällt eindeutig verneinend aus, wie folgendes einfache Beispiel zeigt: A, der auf einem hohen Gerüst eine Hauswand anstreicht, tritt aus Unachtsamkeit gegen einen Farbeimer, der herabfällt und einen Passanten auf der Straße verletzt. Das in diesem Fall fraglos gegebene Delikt einer fahrlässigen Körperverletzung basiert ersichtlich nicht auf der Zuschreibung einer Handlung. In der Körperverletzung liegt nicht die Realisierung einer Intention: weder war die Verletzung des Passanten intentionales Objekt des A noch hat A bedacht, dass sein Verhalten für die Verletzung kausal werden könnte. Ganz im Gegenteil: A hätte, wovon auszugehen ist, die zum Herabfallen des Eimers führende Bewegung unterlassen, wenn er die potenziellen Schadensfolgen bedacht hätte.
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Der sog. kausale (naturalistische) Handlungsbegriff bestimmt die Handlung als willensgetragenes Verhalten, wobei das Verhalten aktive Bewegungen wie auch deren Unterlassen umfasst (Beling [1906], 9; v. Liszt [1884], 104 ff.; Mezger [1931], 91 ff.). Mit dem Ausdruck „willensgetragen“ wird hierbei nur das Vorhandensein intentionaler Kontrolle gefordert, nicht aber eine finale Ausrichtung auf das deliktische Geschehen. Dabei wird allerdings übersehen, dass das Kriterium intentionaler Kontrolle ohne Angabe eines intentionalen Objekts wertlos ist: Eine Person kann z.B. stürzen, aber bei dieser Bewegung, die unter ihrer Beschreibung als Sturz keine intentionale Steuerbarkeit impliziert, durchaus in der Lage sein, ihren Arm noch so gezielt zur Seite zu reißen, dass sie das Umstoßen einer Vase verhindert. Da die inhaltliche Bestimmung intentionaler Steuerbarkeit notwendig ist, um überhaupt einen Vorwurf begründen zu können, muss sie an irgendeiner Stelle im Deliktsaufbau zur Sprache kommen. In der tradierten Verbrechenslehre ist dieser Ort nach Maßgabe der Kriterien von Vorsatz und Fahrlässigkeit die Schuld.
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Im Beispielsfall des Anstreichers müsste nach diesem Ansatz bei der Schuldprüfung eine intentionale Kontrolle des Schadensverlaufs verneint werden. Der Tritt gegen den Eimer erfolgte weder bewusst noch gewollt und damit nicht vorsätzlich. Und der Fahrlässigkeitsvorwurf beruht auf der Verifikation des irrealen Konditionalsatzes, dass A den Tritt gegen den Eimer hätte vermeiden können, wenn er den situativen Sorgfaltsanforderungen gemäß aufmerksam gewesen wäre; er war aber nicht aufmerksam und hatte das Geschehen ex hypothesi eben nicht unter seiner intentionalen Kontrolle. Das Verhalten wiederum, das von A bei Aufbietung sorgfaltsgemäßer Aufmerksamkeit zu erwarten war, ist keine bloß willensgetragene Bewegung, sondern ein intentionales Handeln: sich gezielt so zu verhalten, dass der Passant nicht verletzt wird, also ein intentionales Unterlassen vom Handlungstyp des Herbeiführens. Das aber heißt: Die kausale Handlungslehre propagiert einen Handlungsbegriff – bloßes willensgetragenes Verhalten –, der den Kern des strafrechtlichen Vorwurfs, die Vermeidbarkeit des Schadens bei normgemäßem Handeln, nicht trägt. Lediglich willensgetragenes Verhalten reicht nicht aus, um eine Norm zu befolgen; die Norm muss vielmehr, um realisiert werden zu können, ein inhaltlich bestimmtes Motiv sein und verlangt damit zu ihrer Befolgung ein intentional kontrolliertes Verhalten.
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Der sog. finale Handlungsbegriff sieht das Proprium strafbaren Handelns in der finalen Steuerung des Geschehens und wendet sich damit gegen das inhaltsleere Handlungsverständnis der Kausalisten, deutet aber wie diese die Straftat selbst als eine Handlung (Welzel [1931], 711 ff.; [1969], 129 ff.). Damit setzt sich diese Lehre nicht nur allen Einwänden aus, die gegen den kausalen Ansatz sprechen, sondern muss obendrein noch die Deliktselemente in eine intentionale Struktur pressen. Dass dies bei Fahrlässigkeitsdelikten nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Hier verfolgt der Täter ein Ziel, das die deliktische Schädigung nicht in einer Zweck-Mittel-Relation erfasst. Der Ausweg, für Fahrlässigkeitsdelikte eine Handlung mit einem beliebigen intentionalen Objekt zu verlangen, wäre ein Widerspruch zur eigenen Prämisse. Wenn im Beispielsfall das Verhalten des A als eine Körperbewegung zur intentionalen Ausführung des Anstreichens gedeutet werden kann, lässt es sich nicht zugleich als intentionale Verletzung des Passanten interpretieren; beide Kausalstränge verlaufen auf verschiedenen Zweigen des topologischen Handlungsbaumes. Daher ist die Straftat – also das Verhalten, auf das sich die deliktischen Elemente der Körperverletzung als Referenzobjekt beziehen – keine finale Handlung; die Verletzung war nicht der Grund des Verhaltens.
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Auch für den Vorsatz, der neben der Absicht den sog. dolus directus (sicheres Wissen) und den sog. dolus eventualis (konkrete Möglichkeitsvorstellung) umfasst, lassen sich allenfalls solche Schadensfolgen als intendiert begreifen, die mit dem intentionalen Objekt des Handelnden auf einer kausalen Linie nach Maßgabe von Dadurch-dass-Relationen verbunden sind. Seitenzweige des Handlungsbaums liefern dagegen selbst dann keinen Handlungsgrund, wenn sie der Handelnde als sichere Folge seines Verhaltens prognostiziert.
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Die Lehre vom sog. sozialen Handlungsbegriff versucht zum einen, die von Radbruch (1904) behauptete Unmöglichkeit, Tun und Unterlassen unter einen gemeinsamen Oberbegriff der Handlung zu verbinden, zu umgehen, indem sie die soziale Erheblichkeit eines aktiven oder passiven Verhaltens zum (disjunktiv definierten) Basisbegriff macht. Zum anderen will sie einen Handlungsbegriff anbieten, auf den Vorsatz- wie Fahrlässigkeitsdelikte gleichermaßen rekurrieren können (Jescheck [1961], 140 f.; Maihofer [1953]). Eine solche Begriffsbildung ist jedoch nicht nur wegen der Uferlosigkeit und Unbestimmtheit des Prädikats „sozialerheblich“, das sich auch auf Naturvorgänge anwenden lässt, kaum brauchbar, sondern füllt ebenso wenig wie der kausale Handlungsbegriff die vom Schuldvorwurf implizierte Fähigkeit zu alternativem normgemäßen Handeln mit Inhalt.
2. Die Straftat als Normwiderspruch
a) Vermeidbarkeit
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Daraus folgt als ein erstes Zwischenergebnis für den strafrechtlichen Deliktsaufbau: Sofern der Tatbestand eines Delikts eine Schadensverursachung verlangt und sich nicht auf die Inkriminierung einer bloßen Tätigkeit beschränkt, ist der Rückgriff auf ein menschliches Verhalten notwendig, aber auch hinreichend. Anders als es der kausale Handlungsbegriff als Mindestvoraussetzung fordert, ist hierbei sogar ohne Belang, ob das Verhalten überhaupt willensgetragen ist. Anknüpfungspunkt von Kausalität ist mithin das Ereignis, dass sich ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Weise (nicht) bewegt hat. Denn die strafrechtlichen Zurechnungsregeln erlauben durchaus, die Verantwortung für eine Schadensfolge an ein Verhalten zu knüpfen, das temporär keinerlei intentionaler Steuerung unterliegt; jemand verschläft zum Beispiel die Vornahme einer Rettungshandlung. In einem solchen Fall ist der Pflichtige zur Ausführung der gebotenen Handlung zum Tatzeitpunkt nicht fähig, jedoch kann er sich nicht auf seine Unfähigkeit berufen, wenn er die Obliegenheit hatte, durch geeignete Maßnahmen für seine Fähigkeit zur Pflichterfüllung zu sorgen.
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Geht man davon aus, dass die Zuschreibung von Verantwortung eine kontrafaktische Relation zwischen einem Geschehen und dem Ausbleiben dieses Geschehens bei normgemäßem Handeln ist, so impliziert eine Straftat nur den Vorwurf, dass der Täter das von ihm verursachte Geschehen nicht durch normgemäßes Handeln vermieden hat. Dagegen beinhaltet der Vorwurf nicht, dass der Täter das Geschehen durch ein (hierauf abzielendes) Handeln realisiert hat – sofern nicht das spezifische Unrecht eines Delikts gerade eine solche Absicht verlangt. Exemplarisch: Das Tötungsverbot erfordert, dass der Pflichtige die Tötung eines anderen Menschen durch sein Verhalten gezielt unterlässt. Gegen das Tötungsverbot verstößt also, wer – auf welche Weise auch immer – durch sein Verhalten den Tod eines anderen Menschen (unmittelbar) verursacht, obgleich er hinreichend fähig war, dieses Verhalten um der Vermeidung des Todes willen gezielt zu unterlassen. Insoweit setzt jeder strafrechtliche Vorwurf die Fähigkeit des Täters zur Verwirklichung der normgemäßen Intention qua Handlung voraus. Dass auch die Realisierung des normwidrigen Geschehens als Handlung, gar als intentionale Handlung, zu interpretieren wäre, ist zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit dagegen nicht vonnöten.
b) Schuld
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Aus diesen Überlegungen lassen sich folgende Konsequenzen für einen auf einem intentionalen Handlungsbegriff basierenden strafrechtlichen Deliktsaufbau ziehen: Ausgangspunkt ist das Schuldprinzip, dem zufolge jemandem nur die für ihn intentional vermeidbare Verwirklichung tatbestandlichen Unrechts bei Strafe vorgeworfen werden kann (zur einschlägigen Rechtsprechung BVerfGE 20, 323; 95, 96, 131; BGHSt 2, 194, 200). Schuld bedeutet hierbei, dass durch die Tat ein strafwürdiges Defizit an Rechtstreue zum Ausdruck gekommen sein muss, woraus wiederum mit Blick auf die Vermeidbarkeit folgt: Strafe darf nur verhängt werden, wenn der Täter die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes hätte gezielt vermeiden können und müssen, falls er in dem durch Strafe zu sichernden Maße hinreichend rechtstreu gewesen wäre. Der Schuldvorwurf setzt mit anderen Worten die Verifikation der Hypothese voraus, dass der Täter bei Aufbietung der von ihm erwarteten Rechtstreue die Verwirklichung des betreffenden Unrechtstatbestands hätte vermeiden können und müssen. Wäre der Täter dagegen auch bei Aufbietung hinreichender Rechtstreue zur gezielten Vermeidung des tatbestandlichen Unrechts nicht in der Lage gewesen, so kann ihm kein mit Kriminalstrafe zu ahndender Vorwurf gemacht werden.
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Der Schuldbegriff ist bei diesen Vorgaben insoweit normativ, als er keinen empirischen Nachweis der tatsächlichen individuellen Fähigkeit zur Aufbietung hinreichender Rechtstreue verlangt (Binding [1914], 210 f.; Rudolphi [1969], 22 ff.). Vielmehr geht der Schuldvorwurf – als normative Hypothese – von der Fähigkeit zu rechtstreuer Motivation aus, sofern nicht bestimmte Defizite (z.B. Alter, biologisch fundierte psychische Unfähigkeiten) als Schuldausschließungsgründe oder bestimmte (typisierte) psychische Zwangslagen (z.B. Notstand) als Entschuldigungsgründe eine normgemäße Motivation nicht erwarten lassen.
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Die Verwirklichung eines Deliktstatbestands ist, empirisch gesehen, ein Geschehen unter einer spezifischen Beschreibung. Hierbei hat der Täter bestimmte Vorstellungen und Motive, führt bestimmte Bewegungen aus und agiert unter bestimmten äußeren Rahmenbedingungen. Die Zuschreibung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für dieses Geschehen wird jedoch dogmatisch in einzelnen analytisch ausdifferenzierten Schritten vollzogen. Es werden Einzelaspekte des Geschehens herausgegriffen und nach Maßgabe der einschlägigen Normen und Zurechnungsregeln beurteilt.
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Wie die Einlösung eines Versprechens (oben III. 4.) setzt auch die handlungswirksame Anerkennung strafrechtlicher Normen die Fähigkeit des Normadressaten voraus, das Gesollte als Gewolltes in die Tat umzusetzen. Exemplarisch: Damit der Vater V sein am Strand spielendes, von einer Welle erfasstes Kind K vor dem Ertrinken retten und damit dem Gebot aus §§ 212, 13 StGB nachkommen kann, muss er zunächst aktuell in der Lage sein, die lebensgefährliche Situation, in der sich K befindet, zu erfassen und ihm zur Verfügung stehende Möglichkeiten zur Rettung zu erkennen. Ferner muss er fähig sein, die Intention, K zu retten, anderen Intentionen – z.B. dem Wunsch, sich ungestört zu sonnen – als die für ihn rechtlich verbindliche vorzuziehen. Hinsichtlich der Normbefolgung muss also der Normadressat zum einen physisch und intellektuell in der Lage sein, das Gesollte – die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung – zu realisieren. Sodann muss er die Verhinderung des tatbestandlichen Todeseintritts von K als das von ihm rechtlich Gesollte erkennen und psychisch zum dominanten Motiv seines Handelns machen können.
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Die Differenzierung zwischen Handlungs- und Motivationsfähigkeit im analytischen Modell gestufter Intentionen dient in diesem Kontext nicht nur der Strukturanalyse normgemäßen Verhaltens, sondern bietet auch und vor allem einen schematischen Rahmen zur Feststellung eines schuldhaften Normverstoßes. Mit Hilfe der beiden Kriterien der Normbefolgungsfähigkeit lässt sich ermitteln, ob ein tatbestandsverwirklichendes Geschehen einem Täter als schuldhaftes Unrecht zuzurechnen ist. Im Ergebnis muss dem Täter vorgeworfen werden können, er habe bei hinreichend rechtstreuer Motivation die Tatbestandsverwirklichung intentional vermeiden können und müssen.
c) Deliktsaufbau
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Zur Begründung dieses Vorwurfs muss zunächst auf der ersten Zurechnungsstufe festgestellt werden, dass der Täter in hinreichendem Maße intellektuell und physisch handlungsfähig war, um die Intention zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung bilden und realisieren zu können. Hat etwa der Vater V im Beispielsfall seine Brille abgesetzt, um sich am Strand zu sonnen, und daher die lebensbedrohliche Situation des K nicht erkannt, so fehlt eine wesentliche kognitive Voraussetzung zur Bildung der Intention, K zu retten. Selbst wenn V zufällig aktuell bedacht hätte, dass Väter rechtlich verpflichtet sind, ihre in Not geratenen Kinder aus dem Wasser zu ziehen, und zudem bereit gewesen wäre, zur Befolgung dieser Norm auch das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, hätte er keinen Anlass gehabt, sich anders zu verhalten, als er sich tatsächlich verhielt. Die Tatbestandsverwirklichung – Kausalität des eigenen Verhaltens für den Todeserfolg – war hier aktuell nicht erkannt und daher, auch bei unterstellter rechtstreuer Motivation, aktuell nicht vermeidbar.
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Kann dagegen dem Täter die erforderliche intellektuelle und physische Handlungsfähigkeit zur Bildung und Realisierung der auf die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung gerichteten Intention zugeschrieben werden, so kann ihm das Unrecht seiner Tat subjektiv als Pflichtverletzung zugerechnet werden. Es stellt sich dann, auf einer zweiten Zurechnungsstufe, die Frage, warum der Täter die Intention zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung nicht gebildet und realisiert hat, obwohl er hierzu doch in hinreichendem Maße handlungsfähig war. Auf dieser Zurechnungsstufe ist zu prüfen, ob es Gründe gibt, welche es – nach Maßgabe der strafrechtlichen Wertungen – hinreichend erklären (Schuldausschließung) oder verständlich machen (Entschuldigung), dass der Täter die normgemäße Intention nicht handlungswirksam gebildet hat. Hierbei wird also unterstellt, dass jeder Normadressat in hinreichendem Maße zur handlungswirksamen Bildung des Normbefolgungsmotivs fähig ist, sofern dem nicht im Allgemeinen oder situativ ganz bestimmte Gründe, zu denen auch die unvermeidbare Normunkenntnis gehört, entgegenstehen.
d) Surrogate
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Das bislang skizzierte zweistufige Zurechnungsmodell stellt darauf ab, dass der Täter im entscheidungsrelevanten Zeitpunkt aktuell zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung handlungs- und motivationsfähig ist. Es müssen alle Voraussetzungen zur Normbefolgung erfüllt sein, mit Ausnahme des Umstands, dass der Täter – ohne akzeptablen Grund – die Intention zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung nicht gebildet hat. Genau dies – die mangelnde handlungswirksame Bildung des Vermeidemotivs eines Normadressaten, dem hinreichende Handlungs- und Motivationsfähigkeit zuzuschreiben ist – bildet den Gegenstand des den Schuldvorwurf rechtfertigenden Mangels an Rechtstreue. Dagegen greift bei Defiziten der Handlungs- und Motivationsfähigkeit zunächst der Grundsatz „impossibilium nulla est obligatio“ ein; niemand ist über sein Können hinaus verpflichtet.
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Wie es jedoch bereits bei der Analyse des Versprechens (oben III. 4.) anklang, entlastet fehlende aktuelle Handlungs- und Motivationsfähigkeit nicht per se. Auch die aktuelle Unfähigkeit, die Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden, kann als Ausdruck mangelnder Rechtstreue angesehen werden, und zwar dann, wenn der Täter die Situation einer zu vermeidenden Tatbestandsverwirklichung prognostizieren konnte, aber keine Sorge dafür getragen hat, im erforderlichen Maße handlungsfähig zu sein. Denn für einen rechtstreuen Normadressaten wäre es ein Selbstwiderspruch, eine Norm befolgen zu wollen, ohne auch in der Lage sein zu wollen, dies physisch und intellektuell zu können. Nahezu durchgängig sieht deshalb das Strafrecht haftungsbegründende Ausnahmeregelungen für den Fall vor, dass der Täter zwar die Tatbestandsverwirklichung aktuell nicht vermeiden kann, bei Aufbringung der von ihm erwarteten Rechtstreue aber in hinreichendem Maße zur Sicherung der aktuellen Handlungsfähigkeit hätte Sorge tragen können und müssen (vgl. §§ 16 Abs. 1 S. 2, 17 S. 2, 35 Abs. 2 StGB). So ist im Beispielsfall von einem rechtstreuen Vater zu erwarten, dass er in Anbetracht der Risiken, die mit einem Strandaufenthalt für sein Kind verbunden sind, seine Fähigkeit zur Abwendung von Schäden nicht etwa durch ein Abnehmen der Brille mindert. Oder: Ein Täter, der mit seinem PKW nicht mehr rechtzeitig zu bremsen vermag, kann sich nicht auf seine physische Unfähigkeit zur Vermeidung eines Unfalls mit Verletzungsfolgen berufen, wenn er bei Einhaltung der gebotenen Geschwindigkeit hätte bremsen können. Solche Konstellationen werden mit der Zurechnungsfigur der Fahrlässigkeit (Toepel [1992], 23 ff.) erfasst und finden auf der Schuldebene u.a. mit dem vermeidbaren Verbotsirrtum oder der (umstrittenen) actio libera in causa ihre Entsprechungen.
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VI. Verwandte Themen
Freiheit des Willens | Hart, Herbert Lionel Adolphus | Irrtum | Schuld | Strafe | Strafverfahren | Rechtdogmatik, systematisch | Rechtsgefühl | Rückwirkung | Welzel, Hans | Zurechnung