Die Rezeption der deutschsprachigen Rechtsphilosophie in Korea
Erstpublikation: 8. Mai 2013
- Einleitung
- Begriff der Rezeption und deren Gegenstandskonstitution
- Kolonial- und Nachkriegszeit
- Aufstieg der Naturrechtslehre in Korea: Von der 60er bis Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts
- Rezeption G. Radbruchs
- Rezeption der nachkriegszeitlichen Naturrechtslehre
- Fortgesetzte Rezeption des Rechtspositivismus
- Zeit der Diversifikation: Seit Mitte der 80er Jahre
- Zunahme des Interesses an der juristischen Methodenlehre
- Rezeptionen im Bereich der Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft
- Schlussbemerkung
- Bibliographie:
I. Einleitung
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Einen Überblick über die Rezeption der Rechtsphilosophie in einem Land zu geben, dessen Geschichte sowohl in allgemein-politischer wie auch in wissenschaftlicher Hinsicht gekennzeichnet ist durch zahlreiche Umbrüche, fällt insoweit nicht ganz leicht, als dass rechtsphilosophische bzw. rechtstheoretische Strömungen, in ihrer praktischen Relevanz als qualité negligeable durchaus stolz, in Korea schwierig zu identifizieren sind. Eine weitere Schwierigkeit tritt hinzu: Neben der unvermeidlichen Frage nach „der“ Rechtsphilosophie, welche einer Rezeption offen stehen könnte, muss vorab festgehalten werden, dass die Rezeption von Rechtsphilosophie wohl nicht als ein richtiger Kommunikationsprozess zwischen Theorie und Praxis, wie dies für die Rechtswissenschaft prägend ist, dargestellt werden kann. Diese Feststellung betrifft die Rechtsphilosophie, die als sogenanntes Orchideenfach von Haus aus versucht, ein eher distanzierteres Verhältnis zur Rechtspraxis zu bewahren – wenn sie sich nicht als ideologische Waffe zur Erhaltung eines politischen Systems versteht. Damit einhergehend mag das Verlangen einer eingehenderen Reflexion über die eigenen Methoden hinsichtlich ihrer Herkunft und Reichweite geringer ausfallen, als bei den dogmatischen Fächern der Rechtswissenschaft. Mit dieser Entkopplung von Theorie und Praxis erledigt sich gleichsam als logische Konsequenz auch die spezifische Gefahr einer Ablösung der rezipierten „Waren“ durch den Rezipienten von seinem ursprünglichen Verwendungszusammenhang und der Intention des „Herstellers“. Salopp gesagt, ist die Rezeption der Rechtsphilosophie von Anfang an dazu verurteilt, „radikal-konstruktivistische Züge“ aufzuweisen.
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Dieser unvermeidbare Konstruktivismus kommt noch deutlicher zum Zuge, wenn man die gesamte Rezeptionsgeschichte Revue passieren lassen will. Obwohl die Rechtsphilosophie in Korea weitab von den ausgetretenen Hauptpfaden der übrigen Disziplinen der Rechtswissenschaft stets gegrünt hat und noch heute grünt, ist es verfehlt zu behaupten, dass die Rechtsphilosophie hierzulande eine klare und deutlich bestimmbare Entwicklungslinie erkennen lässt oder gar eine etwaige Responsivität auf den gesellschaftlichen Wandel. Dies muss wohl dem Umstand zugeschrieben werden, dass die Rezeption insoweit stets fragmentarisch erfolgte, als sie meistens an persönlichen Interessen von Rechtswissenschaftlern gebunden blieb. Diskontunität stellt sich vor diesem Hintergrund als prägendes Charakteristikum der koreanischen Rezeptionsgeschichte dar. Immerhin spielte die deutschsprachige Rechtsphilosophie insoweit eine Hauptrolle, als sie aufgrund der Kolonisierung des Landes durch Japan, welches selbst starke rechtswissenschaftliche und rechtsphilosophische Einflüsse aus Deutschland erhielt, Anfang des 20. Jahrhunderts nach Korea importiert wurde.
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Als weitere Erschwernis einer koreanischen Rezeptionsgeschichte mit einem rekonstruktiven Interesse tritt mangelnde operative Autonomie als Fachdisziplin hinzu, denn es fehlt – überspitzt formuliert – an einem dem deutschen Vorbild institutionell als auch personell entsprechenden koreanischen Pendant. Bis vor zehn Jahren gab es nur an einigen großen Universitäten einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie. Vor diesem Hintergrund eines ostasiatischen Landes leidet auch der folgende Beitrag unausweichlich unter einer radikal-konstruktiven „Krankheit“, die darin besteht, Verstehen und Missverstehen nicht deutlich unterscheiden zu können. In dieser Hinsicht soll die dem Beitrag zugrunde liegende chronologische Darstellung als ein Versuch verstanden werden, solche methodologischen Schwierigkeiten zu meiden oder wenigstens in erträglichem Maße zu mindern. In demselben Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass eine kurze Reflexion über den Begriff der Rezeption vorausgeschickt werden muss, bevor Einzelheiten in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte dargelegt werden.
II. Begriff der Rezeption und deren Gegenstandskonstitution
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An der Frage, was unter dem Begriff der Rezeption verstanden werden soll, scheiden sich Geister. Zum einen wird behauptet, dass die Übertragung eines Rechtssystems bzw. -institute von einer auf eine andere Rechtskultur eine hinreichende Bedingung für die Anwendung des Rezeptionsbegriffs sei. Davon gehen z.B. die rechtsvergleichenden Studien aus. Zum anderen wird der Begriff enger gefasst und es wird die freiwillige Aufnahme seitens des Rezipienten in den Vordergrund gestellt, womit die Zwangsimplantation begrifflich bereits ausgeschlossen wird. Auch wenn man von dem letzteren, engen Begriff ausgeht, kann man sich weiterhin streiten, ob der Rezeptionsbegriff erst dann anzuwenden ist, wenn es dem Rezipienten gelingt, ein fremdes Rechtsinstitut nicht bloß zur Nachahmung, sondern darüber hinaus auch zur Transformation in die eigene Kultur aufzunehmen. Falls man diese Frage bejaht, folgt daraus für die Rezeption einer rechtsphilosophischen Lehre, dass sie nicht nur korrekt verstanden wird, sondern vielmehr fruchtbar gemacht wird zur Analyse und Beurteilung des eigenen positiven Rechts vor dem politischen und kulturellen Hintergrund des Rezipienten und seines Landes. Rezeption bedeutet insofern eine angemessene Verwertung, unter Einschluss von Modifikationen, so dass sie zum Fundament und Ausgangspunkt für eine begleitende Analyse der Entwicklung des Rechtssystems wird.
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Außer von diesem begrifflichen Problem im Hinblick auf die Rezeption herrscht Unsicherheit auch bezüglich des Begriffes der Rechtsphilosophie, die den Gegenstand der Rezeption bildet. Ob man sich dabei z. B. nur auf die Rechtsethik konzentriert und damit die Rechtstheorie oder die juristische Methodenlehre außer Acht lässt oder auch die letzteren in die Rechtsphilosophie als Teil derselben miteinschließt, ist eine offene Frage. Darüber hinaus lässt sich darüber streiten, ob auch die sachbereichsspezifischen Rechtsphilosophien, d.h. diejenigen Philosophien, die sich in enger Anbindung an die Rechtsdogmatiken des Straf-, Verfassungs- und Zivilrechts entwickelten, im Zusammenhang mit der Rezeption berücksichtigt werden sollten. Carl Schmitt liefert dafür ein Beispiel. Seine Rechts- und Staatsphilosophie lässt sich zwar innerhalb der fachlichen Grenze der Rechtsphilosophie diskutieren, doch erfolgte die Rezeption in Korea hauptsächlich im Verfassungsrecht und erstreckte sich deshalb nur auf Bruchteile seines Werks. Demnach ist zweifelhaft, ob unter diesem Gesichtspunkt für Carl Schmitt vom adäquaten Ort in der Rezeptionsgesichte gesprochen werden kann.
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So gesehen hängt die Sichtweise einer Rezeptionsgeschichte der deutschsprachigen Rechtsphilosophie in Korea maßgeblich davon ab, welcher Rezeptionsbegriff zugrunde gelegt und welcher Gegenstandsbereich dabei einbezogen wird. Angesichts der bereits erwähnten Fragmentarität und Diskontinuität der „Rezeption“ gehen wir den einfachen Weg, bei einer chronologisch-kaleidoskopische Darstellungsweise die in Korea bekannten und wichtigen rechtsphilosophischen Schulen und Autoren in die Darstellung einzubeziehen.
III. Kolonial- und Nachkriegszeit
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Die Rezeption der deutschsprachigen Rechtsphilosophie in Korea datiert in die Zeit der Annexion des Landes durch Japan (1910), die zur Einführung des westlichen Rechtssystems und der modernen Rechtswissenschaft führte. Wegen ihrer Abstraktheit und ihrer dadurch resultierenden schwierigen Zugänglichkeit ist die Rechtsphilosophie allerdings im Vergleich mit dem zwangsweise eingepflanzten Rechtssystem selbst und anderen dogmatischen Fächern etwas verzögert als universitäre Disziplin etabliert worden. Die erste rechtsphilosophische Vorlesung wurde Mitte der 1920er Jahre von dem japanischen Rechtswissenschaftler Domo Otaka (1899-1956) an der Seouler Imperialuniversität veranstaltet. Otaka hatte während seines Studienaufenthaltes in Europa unter Betreuung von Hans Kelsen und Edmund Husserl sich die zeitgenössische Rechtsphilosophie angeeignet. Die erste Generation der Rechtsphilosophie in Korea rekrutierte sich aus dem Schülerkreis von Otaka, zu dem u.a. Jin-oh Yu, San-duk Hwang und Hang-nyung Lee gehörten. Da Otaka stark durch die Reine Rechtslehre von Kelsen beeinflusst war, kann man bei seinen koreanischen Schülern von Anfang an einen starken Einfluss der deutschen Rechtsphilosophie und deren Methode erkennen. Diese erste Generation hat nach dem ihrerseits unerwarteten Untergang des japanischen Imperialismus Lehrstühle für Rechtsphilosophie gegründet, allerdings ohne akademische Titel an renommierten Universtäten im entkolonialisierten Korea. Hwang z.B. lehrte Rechtsphilosophie zuerst an der Korea-Universität und anschließend an der Seouler National-Universität und setzte seine Kelsen-Forschung fort. Seiner eigenen Bekundung zufolge hat er sich deshalb auf Kelsen konzentriert, weil er den Entwicklungsstand der japanischen Rechtsphilosophie, deren Hauptaugenmerk damals auf der Reinen Rechtslehre lag, überwinden wollte. Demnach hat er in den 50er Jahren einige Werke von Hans Kelsen ins Koreanische übersetzt („Reine Rechtslehre“, „Allgemeine Staatslehre“) und so einen Grundstein für die Kelsen-Forschung gelegt. Anders als Hwang hat sich Lee an der Korea-Universität eher für die neukantianische Methodenlehre interessiert, die er sicherlich durch die Reine Rechtslehre kennengelernt hatte. Letztlich entwickelte er eine klimaorientierte Rechtsphilosophie, die an Montesquieu erinnert. Aus heutiger Sicht scheint sich sein Versuch zwar in einem naiven Determinismus zu erschöpfen, der den Charakter der Rechtsentwicklung nach klimatischen Bedingungen bestimmt. Aber in Anbetracht dessen, dass die Rechtsphilosophie unter dem nachkriegszeitlichem Chaos kaum Fuß fassen konnte, lässt sich die Rechtsphilosophie von Lee durchaus als fruchtbar und originär würdigen.
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In den 50er Jahren erschienen noch einige koreanische Ausgaben kelsenscher Werke, wie z. B. „The Communist Theory of Law“, „Peace through Law“. Dass Hans Kelsen die erste Kontaktadresse für die Entstehung der Rechtsphilosophie in Korea war, hört sich sicherlich seltsam an, zumal der Exilant Kelsen und sein Rechtspositivismus nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland zu Unrecht verfemt und als Mitläufer der nationalsozialistischen Diktatur stigmatisiert wurden. Das rege Interesse an Kelsen in Korea hatte allerdings vor allem mit der Zeitgeschichte zu tun. Als Japan Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts die europäische Rechtswissenschaft importierte, dominierten auf deutschem Boden der Neukantianismus und der darauf basierende Rechtspositivismus. Freilich wurde die Wechselbeziehung von Rechtspositivismus und Demokratie nicht richtig erkannt, und damit die gesamte rechtspositivistische Denkweise bereits auf dem Importweg halbiert und der politischen Lage angepasst. Unter der Militarisierung und Imperialisierung seit den 1920er Jahren in Japan stellte sich nunmehr der „trockene“ Positivismus politisch als ungefährlicher dar und dispensierte von einer möglichen Zensur. Daneben erfüllten die Allgemeinheit und der Formalismus, für die die Reine Rechtslehre plädierte, die Sehnsucht der japanischen Intellektuellen nach der „Wissenschaftlichkeit“. Gleich nach dem langsamen Beginn der Verwestlichung haben alle Wissenschaften sich an europäischen Maßstäben orientiert. Die überräumliche und überzeitliche formale Allgemeingültigkeit fungierte für sie insoweit nicht nur als Schutz vor politischer Verdächtigung, sondern auch als Markenzeichen für Wissenschaftlichkeit schlechthin. Auch die erste Generation der koreanischen Rechtsphilosophie prägte dieser zeitgeschichtliche Umstand. Für diejenigen, die unter der kolonialen Herrschaft die neue Mode unfreiwillig lernen mussten, blieb natürlich kein Raum für eine kritische Reflexion auf diesen Umstand. Nach der Befreiung des Landes veränderte sich die Lage nicht grundsätzlich. Die koreanischen Rechtsphilosophen, die man an einer Hand abzählen konnte, setzten einfach das fort, was sie während der Kolonialzeit gelernt hatten, und fügten einige unwesentliche Modifizierungen hinzu. Die Frage, ob dies von der personellen Kontinuität, die der fehlenden Vergangenheitsbewältigung nach dem Ende der kolonialen Herrschaft zugrunde lag, bedingt war oder mit der andauernden Diktatur des scheindemokratischen Regimes zu tun hatte, erfordert eine eigenständige Studie.
IV. Aufstieg der Naturrechtslehre in Korea: Von der 60er bis Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts
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Mit der langsamen Etablierung einer koreanischen Rechtswissenschaft und mit der Herausforderung einer desolaten politischen Lage in Korea, die in dem militärischen Putsch im Jahre 1961 gipfelte, gewannen die Stimmen langsam an Gewicht, die sich dafür einsetzten, über die rein logischen Studien über die formale Struktur des Rechts hinaus Rechtsidee und Gerechtigkeit zu einem Gegenstand der Rechtsphilosophie zu erheben.
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Bei den damaligen Forschungsrichtungen, die die Rechtsidee und ggf. die Rechtsethik in den Blick zu rücken versuchten, lassen sich im Großen und Ganzen zwei Arten der Herkunft feststellen: Einerseits die Rezeption G. Radbruchs (unter 1.), die ungeachtet der Einbeziehung der Gerechtigkeit in die Rechtsbegriffslehre noch den neukantischen Relativismus verhaftet blieb, andererseits die unmittelbare Rezeption der abendländischen Naturrechtslehre (unter 2.). In diesem Zeitraum wurde zugleich auch die Rezeption des klassischen Rechtspositivismus, wenn auch vereinzelt, fortgesetzt (unter 3.).
1. Rezeption G. Radbruchs
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Zwar stellt sich die Positionierung Radbruchs als Rechtspositivist oder Nichtpositivist als keine einfache Frage dar, für deren Antwort es einer gründlichen Auseinandersetzung mit seinen Werken bedarf. Es ist jedoch kaum zu leugnen, dass sich das zunehmende Interesse an Radbruch in Korea nicht seiner klassisch-positivistischen Konzeption, sondern seiner Lehre über die „Natur der Sache“ oder seiner auch die Gerechtigkeit umfassende Rechtsideenlehre verdankte. Spuren von wissenschaftlichem Interesse an Radbruch finden sich schon in den 50er Jahren, in denen die Übersetzungen von nicht wenigen Werken Radbruchs unternommen wurden. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit Radbruch, über das Niveau einfacher Übersetzungen hinausgehenden, lässt sich jedoch erst seit Mitte der 60er Jahre beobachten, insbesondere durch diejenigen, die in Deutschland mit Themen über die Radbruchsche Rechtsphilosophie promoviert wurden und heimkehrten. Bemerkenswerterweise haben alle drei koreanischen Juristen, die nach dem Krieg im rechtsphilosophischen Bereich in Deutschland promovierten, G. Radbruch zum Thema ihrer Dissertation gewählt (Yungback Kwun, 1963; Jisu Kim, 1966; Zong-uk Tjong, 1967). Ein Blick auf die Betreuer dieser drei Koreaner ist sehr aufschlussreich, weil sie alle Vertreter einer deutschen nicht-positivistischer Rechtsphilosophie in der Nachkriegszeit waren: dies waren Arth. Kaufmann, E. Wolf, H. Welzel. Die Rechtsphilosophie Radbruchs hat auch in den folgenden 70er bis 80er Jahren einen der Haupforschungsbereiche der koreanischen Rechtsphilosophen dargestellt, von deren Schülergeneration die Radbruchforschung derzeit immer noch fortgesetzt wird. Dank derartiger fortgesetzter Radbruchforschung erfolgten bis zum Anfang der 80er Jahre auch Übersetzungen der meisten bedeutenden Werke Radbruchs, einschließlich seines Hauptwerkes „Rechtsphilosophie“ im Jahre 1975. So ist Gustav Radbruch ein Dauerthema der Rechtsphilosophie in Korea geworden.
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Als mögliche Gründe für ein solch hohes Interesse koreanischer Juristen an Radbruch werden häufig die folgenden genannt: Zum ersten war unter dem, die politische Landschaft in Korea lange Zeit überschattenden, militärischen Regime die Sehnsucht nach einer rechtsphilosophischen Theorie, welche einerseits das rein gesetzesstaatliche Rechtsverständnis zu überwinden im Stand war, aber andererseits die explosive Revolutionsgefahr eines „kritischen Konformismus“ und eines stillen Unmuts gegenüber der Diktatur bannen sollte, prägend. Zum zweiten war die Radbruchsche Rechtsphilosophie für junge koreanische Wissenschaftler, die traditionell eine hohe Präferenz für Orthodoxien und abstrakte Ideale aufwiesen, sehr attraktiv, auch weil die Radbruchsche Rechtsphilosophie im damaligen rechtsphilosophischen Diskurs in Deutschland die Hauptrolle spielte und ihr Ansehen weltweit sehr hoch war. Zum Dritten weist die Radbruchsche Rechtsphilosophie Affinitäten zur relationalen Denkweise auf, wie sie in der ostasiatischen Philosophie verbreitet ist, ein Umstand auf den bereits Arth. Kaufmann hingewiesen hatte. Die eher an die „holistische“ Denkweise gewohnten koreanischen Rechtswissenschaftler faszinierte die Philosophie Radbruchs als solche, die einerseits „Gerechtigkeit“ als eine Rechtsidee für wichtig hält, andererseits abweichend von der klassischen Naturrechtslehre die Positivität des Rechts und die Rechtssicherheit nicht zu übersehen versucht. Das ist in seiner Überbrückungsbemühung zwischen Sein und Sollen gut zu erblicken. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der wichtigste Grund, denn ein solcher Versuch wird diejenigen als Vorbild darstellen, die die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft nicht zu verlieren versuchen, jedoch zugleich die Ideen des Rechts in den Blick rücken möchten.
2. Rezeption der nachkriegszeitlichen Naturrechtslehre
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In der Rechtswirklichkeit einer sich verhärtenden Diktatur und einer sich vor ihr verbeugenden Rechtspraxis drängten diejenigen, die sich mit einer relativistischen Rechtsphilosophie nicht zufrieden fühlten, langsam in Richtung einer direkten Rezeption westlicher Naturrechtslehren, in der sich die Idee der Menschenrechte, ggf. auch Argumente für das Widerstandsrecht oder den zivilen Ungehorsam finden ließen. Die Herausbildung einer in der klassischen ostasiatischen Philosophie wurzelnden Naturrechtslehre wäre damals zwar keineswegs ausgeschlossen gewesen, aber unter der damalig vorherrschenden Auffassung für eine Präferenz auf Einführung einer als überlegen betrachteten westlichen Rechtswissenschaft und Philosophie kaum zu realisieren. Zumeist waren es diejenigen Koreaner, die sich in Deutschland mit großem Interesse am damaligen nichtpositivistischen Rechtsdenken beschäftigt hatten, die die Erforschungen der Naturrechtslehre vorantrieben. Neben Tae-jae Lee, der in Belgien die Thomistische Naturrechtslehre aufgenommen hatte und schon seit Ende der 50er Jahren deren Rezeption intensiv unternahm, sind die Rechtsphilosophien von Zai-woo Shim und Un-zong Pak besonders hervorzuheben.
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Shim, der als einer der wichtigsten Figuren in der koreanischen Naturrechtslehre zu positionieren ist, hat unter der Betreuung von W. Maihofer mit dem ideengeschichtlichen Thema „Widerstandsrecht und Menschenwürde (1973)“ promoviert. Nach seiner Heimkehr übernahm er sogleich den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie an der Korea-Universität, eine Position, die in Korea mit Einfluss im rechtsphilosophischer Bereich verbunden ist. Bis zu seiner Emeritierung beeinflusste er viele Schüler, die derzeit an vielen anderen Universitäten den Ansatz ihres akademischen Lehrers weiterentwickeln. Der Rechtsphilosophie Shims liegt die Idee zugrunde, basierend auf der Erörterung der Rechtsphilosophie von Hobbes, Rousseau und Kant die Grundstruktur und Idee des Rechtsstaats gemäß dem modernen Verfassungsstaat zu rekonstruieren, aufgrund dessen sich die Idee des „Naturrechts der Aufklärung“ etablierte. Zugleich stellte er die Naturrechtslehre Maihofers in Südkorea vor. Insoweit kann von einer Forschungsströmung des existenziellen Naturrechts gesprochen werden. Die zweite Hälfte seiner Forschungskarriere widmet er der Beziehungssetzung von ostasiatischer und europäischer Rechtsphilosophie durch eine Neuinterpretation der klassischen ostasiatischen Philosophie, vor allem des Konfuzianismus. Dieser Versuch wurde in letzter Zeit von seinen Schülern fortgesetzt, womit mit einer gewissen Berechtigung von einer klaren Richtung hin zu einer koreanischen Rechtsphilosophie gesprochen werden kann (er hat somit eine klare Spur in der Richtung der koreanischen Rechtsphilosophie hinterlassen).
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Die naturrechtlichen Forschungen erhielten noch aus einer anderen Richtung einen wichtigen Impuls. Un-jong Pak, z. B., versuchte basierend auf ideengeschichtlicher Lektüre die bestehende Naturrechtslehre zu verfeinern und zugleich mit Bezug auf aktuelle – teils hoch umstrittene – Rechtsprobleme fruchtbar zu machen. Ihre theoretischen Auseinandersetzungen, die mit den rechtsontologischen Studien unter Betreuung von A. Hollerbach begonnen hatten, wurden fortgesetzt, und sodann in der Monographie „Naturrechtslehre“, Konzeption „einer allgemeinen Theorie für die Praxis“ zusammengefasst. Dies trug ebenso zur Vertiefung der Radbruch-Forschung in Südkorea bei, die sich insbesondere an der Publikation eines Sammelwerks mit weltweit renommierten Beiträgen über Radbruch niederschlug.
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Neben den Auseinandersetzungen mit der Naturrechtslehre der eben dargestellten, diesen Bereich vertretenden Rechtsphilosophen findet sich ab den 60er Jahren vereinzelt, aber immer beständiger, auch eine Fülle kleinerer Beiträge, die allesamt in den Bereich des Naturrechts einzuordnen sind. Es wurde deutlich, dass die Naturrechtslehre trotz ihrer Verknüpfung mit der damaligen dunklen Rechtswirklichkeit, eine nicht geringe Resonanz bei koreanischen Juristen gefunden hat, als deren Folgen scheinbar Beiträge nicht nur bei der Bekämpfung des Unrechts-Regimes im eigenen Land, sondern auch bei der späteren Vergangenheitsbewältigung geleistet wurden. Aufgrund dieser beinahe überbordenden Bedeutung, die der Naturrechtslehre zukam, wurde freilich die mögliche Diskussion um den ideologischen Charakter des Naturrechts und dessen erkenntnistheoretische Fragwürdigkeit weitgehend außer Acht gelassen.
3. Fortgesetzte Rezeption des Rechtspositivismus
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Die Rezeptionsgeschichte der deutschen Rechtsphilosophie in den 60er und 70er Jahren zeigt trotz der naturrechtlichen Dominanz eine fortgesetzte Rezeption des klassischen Rechtspositivismus, die über die einfache Kelsen-Rezeption aus der vorangegangenen Zeit hinausging. Im Zentrum dieser Fortentwicklung stand Hun-seop Shim an der Seouler National-Universität, der bis heute als eine der einflussreichsten Figuren in der koreanischen Rechtsphilosophie betrachtet wird. Seine Positivismusforschung reicht von Kelsen über H.L.A. Hart bis zu O. Weinberger. Dank der Bemühungen von Shim fand sich die koreanische Rechtsphilosophie davor bewahrt, einen der wichtigsten Bestandteile aus der Gesamtheit der überkommenen rechtsphilosophischen Traditionen, nämlich den Rechtspositivismus, als vermeintliche Altlast beiseite geschoben zu haben. Er hat bereits am Ende der 70er Jahre eine Konzeption des „kritischen Rechtspositivismus“ entwickelt, der als wissenschaftlicher Ertrag des „inclusive legal positivism“ anzusehen ist. Shim, geschult bei einem Pioneer der Kelsen-Rezption in Korea, Hwang, führte einer seiner Forschungsaufenthalte in den 70er Jahren nach Freiburg i. Br., wo er unter Betreuung von E. Wolf, der keineswegs als Positivist gelten kann, seine Forschungen vertiefte. Diese Spektrumsvielfalt in seiner wissenschaftlichen Genealogie stellte ein Fundament dar, auf dem seine umfassenden rechtsphilosophischen Erforschungen aufbauen konnten, die sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet beschränkten, sondern vielmehr in vielfältigen Bereichen der Rechtsphilosophie zumeist aufgrund von Erträgen aus der deutschen Rechtsphilosophie zu offenen Anschlussdiskussionen führten. Dieses breite Spektrum seiner Forschungsbereiche und -methoden ermöglichte, dass aus seinem Schülerkreis verschiedenste wissenschaftliche Positionen vertreten werden und keinen unwesentlichen Beitrag zu einer ebenso vielfältigen Weiterentwicklung der koreanischen Rechtsphilosophie geleistet haben und weiterhin leisten.
V. Zeit der Diversifikation: Seit Mitte der 80er Jahre
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Bis vor den 80er Jahren stellte die Rezeption der deutschen Rechtsphilosophie hauptsächlich auf die Rechtsbegriffslehre ab. Aber wie die historische Entwicklung der Rechtsphilosophie im Ursprungsland zeigt, hat der rechtsphilosophische Diskurs mit der Etablierung des demokratischen Verfassungsstaates ihr Hauptaugenmerk auf die Frage nach der Rechtsverwirklichung im konkreten Einzelfall gerichtet, was nicht zuletzt zur Entstehung einer Teildisziplin „Rechtstheorie“ geführt hat. Es ist unleugbar, dass damit die Frage nach dem gerechten Recht im Rahmen der Rechtsethik langsam in den Hintergrund trat. Aus der Sicht des Rezipienten wäre diese Entwicklung eher rezeptionshinderlich gewesen, vor allem deshalb, da die demokratische Verfassung in Korea damals weiterhin nur auf dem Papier stand. Die vorschnelle Rezeption rechtstheoretischer Strömungen hätte den politischen status quo im Land rechtfertigen oder das Elend der Diktatur kaschieren können. Ohne diesen sozio-politischen Zusammenhang gebührende Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, wurden die deutschen „Neuwaren“, wenn auch mit etwaiger Zeitverschiebung, bereitwillig importiert und haben sich überraschend gut verkauft. Dies verdankt sich besonders denjenigen Rechtswissenschaftlern, die Ende der 70er Jahren und Anfang der 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts in Deutschland promoviert haben und nach ihren Heimkehr Universitätsprofessoren wurden. Bereits Mitte der 80er Jahre wurde „die“ Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart von Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer quasi zur Pflichtlektüre für die an der Grundlage des Rechts interessierten Studenten an den Graduate-Schools der juristischen Fakultäten in Korea.
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So wurde das rechtsethische Interesse am richtigen Recht und der Rechtsidee mit der Zeit um das rechtstheoretische erweitert, welches sich in der Form von juristischer Hermeneutik, juristischer Topik, juristischer Rhetorik, Rechtslogik, und Rechtsinformatik konkretisiert. Selbstverständlich stellt sich immer noch die Frage, ob die Rezeption der deutschsprachigen Rechtsphilosophie in Korea die allgemeinen Entwicklungslinien, die vor allem Deutschland erfährt, widerspiegelt. Ohne sich auf diese grundlegende Frage einzulassen, soll indessen unsere kartographische Umschau fortgesetzt werden.
1. Zunahme des Interesses an der juristischen Methodenlehre
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Wie bereits erwähnt, wirkte das militärische Regime, das bis Mitte der 80er Jahren in Korea herrschte, als ein Verhinderungsfaktor, der eine derartige Wende des Forschungsschwerpunktes erschwerte. Ein zeitgeschichtliches Moment wurde allerdings mit der, wenn auch unvollständigen, demokratischen Revolution in der zweiten Hälfte der 80er Jahre (Juni 1987) gegeben. Damit begann sich eine langsame Veränderungstendenz im Bereich der Rechtsphilosophie Bahn zu brechen. Dabei kann die Rolle einiger junger Rechtsphilosophen bei der Beschleunigung dieser Wende nicht unerwähnt bleiben, die in Deutschland promoviert hatten und damals gerade heimgekehrt waren. Young-hwan Kim, der unter der Betreuung von Arth. Kaufmann in München promovierte (1986), ist als bedeutender Kopf anzusehen, der zur rechtsphilosophischen Reflexion über juristische Methodenlehre in Korea beigetragen hat. So wie sich das Forschungsinteresse Kaufmanns vom geschichtlichen Naturrecht hin zur juristischen Hermeneutik entwickelte, versuchte Kim über Auseinandersetzungen mit der klassischen Rechtsbegriffslehre (Naturrecht oder Rechtspositivismus?) hinaus Forschungserträge der damaligen deutschen juristischen Hermeneutik und Methodenlehre in Korea fruchtbar zu machen. Weiterhin wird er als derjenige angesehen, der auch das Interesse an der juristischen Argumentationslehre in Korea erweckt und eine theoretische Basis dafür bereitgestellt hat, wobei er sich stark an Ulfrid Neumann, ebenso Kaufmann-Schüler, anlehnte .
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Zu denjenigen, die einen Versuch der Rezeption der deutschen juristischen Hermeneutik in Korea unternahmen, zählen auch Jong-dae Bae und Sang-don Yi, die unter der Betreuung von W. Hassemer in Frankfurt mit strafrechtstheoretischen Themen promovierten. Vor allem Yi versucht, von der hermeneutischen Grundposition ausgehend, deren Grenze anhand der Diskurstheorie à la Habermas zu überwinden. Darüber hinaus bemüht er sich um weitere Konkretisierung und Entfaltung der Diskurstheorie in einzelnen Rechtsbereichen. Aufgrund einer solchen Rezeption konnte die juristische Methodenlehre in Korea auf eine Stufe gelangen, auf der sich akademische Diskussionen auf angemessenem Niveau führen lassen. Es ist auch bemerkenswert, dass Kim und Yi zwar die Gemeinsamkeit haben, in ihrem eigenen Ansatz wichtige Einsichten der juristischen Hermeneutik aufgenommen zu haben, sich etwa beim Verständnis der Wortlautgrenze allerdings Meinungsdivergenzen herausstellen, welche eine produktive Anschlussdebatte ermöglichen und damit als Anreiz zur Weiterentwicklung der koreanischen juristischen Methodenlehre gewirkt zu haben scheinen. Dieser Beginn einer intensiven Rezeption der deutschen Methodenlehre seit der ersten Hälfte der 90er Jahre führte – mit dem damaligem Interesse der im anglo-amerikanischen Raum studierten Rechtsphilosophen am legal reasoning verzahnt – zu einer großen Konjunktur der methodologischen Forschung in Südkorea. Dieses wachsende Interesse fungierte anscheinend als Basis für eine große Debatte über eine höchstgerichtliche Entscheidung zur Auslegung des Paragraphen über die „fahrlässige Brandstiftung“ im kStGB Mitte der 90er Jahre.
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In den letzten Jahrzehnten nahmen die Versuche zu, die Erträge der jüngsten deutschen Methodenlehre auf die gerichtlichen Entscheidungen in Südkorea anzuwenden, um daraus methodologische Implikationen zu ziehen. Als Beispiel dient „die qualitative Abwägungslehre“, die sich beim Versuch entwickelt hat, die Abwägungslehre R. Alexys zur Analyse der koreanischen gerichtlichen Entscheidungen nutzbar zu machen. Es wird auch der Versuch unternommen, zur Analyse und Kritik der Argumentationsstruktur von koreanischen Gerichten von Werkzeugen der rhetorischen Rechtstheorie (etwa Enthymeme) oder der der pragmatischen Rechtstheorie (etwa Abduktion) Gebrauch zu machen.
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Konkrete Rezeptionsinhalte und -vorgänge in einzelnen Rechtsbereichen lassen sich in folgender Weise grob zusammenfassen: Im Bereich des Strafrechts wurden zumeist die in der Linie Kaufmanns stehende Hermeneutik, jüngst auch die diskurstheoretische Perspektive von Habermas und K. Günther eingeführt und diskutiert. Im Bereich des Privatrechts wurde auf Grund der Übersetzung des Standardlehrbuches von Larenz/Canaris zumeist ihre rechtstheoretische Position vorgestellt, vor allem durch Beiträge von denjenigen, die unter Canaris promovierten (etwa Bong-kyoung Choi und Dong-jin Park) und denjenigen, die sich als Rechtspraktiker zur Analyse schwieriger Fälle an die Methodologie von Larenz/ Canaris anlehnten (Dae-hui Kim und Chul Park). Auch die Teilübersetzung der „Topik und Jurisprudenz“ Th. Viehwegs und eine detailierte Besprechung über die Methodenlehre E. Cramers von Chang-soo Yang sind in dem Sinne erwähnungswert, insoweit sich damit auch das Interesses an der Nicht-Larenz‘schen Methodologie aufzeigen lässt. Bei alledem werden die Grenzen einer adäquaten Weiterentwicklung der Methodenlehre, bei der begrenzten Zahl der Privatrechtslehrer, die sich an der rechtstheoretischen Diskussion beteiligen, offenbar.
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Im Bereich des Verfassungsrechts sind die bedeutenden deutschen Beiträge zur Verfassungsinterpretation in die koreanische Sprache übersetzt und herausgegeben worden. Nebenbei wurde einem bedeutenden Lehrbuch zum Verfassungsrecht ein langes Kapitel über deutsche Verfassungsinterpretation hinzugefügt, welches zum profunderen Verständnis der deutschen Sichtweise beigetragen hat. Außerdem darf die Übersetzung von einigen Büchern M. Krieles, wie „Theorie der Rechtsgewinnung“, nicht unerwähnt bleiben, wodurch eine Chance dafür geschaffen wurde, dass die auf juristische Hermeneutik und Topik beruhende Methodologie der Verfassungsinterpretation in Korea vorgestellt werden konnte. Jüngst wurde die auf der Diskurstheorie beruhende Verfassungs¬inter¬pretationslehre eingeführt und deren fruchtbare Anwendung unternommen, und zwar durch die Schüler von R. Alexy, wie z.B. Do-kyun Kim und Joon-il Lee. Nichtsdestoweniger stellt sich eine erfolgreiche Rezeption im Bereich des Verfassungsrechts immer noch als schwierig dar, was wohl doch auf die besondere Tradition der koreanischen juristischen Fakultäten zurückzuführen ist: Aus personeller Sicht sind die Disziplinen Rechtsphilosophie und Verfassungsrecht gegeneinander klar abgegrenzt. Dies führt dazu, dass sich Verfassungsrechtler weniger für abstrakte und theoretische Themen, wie einer Verfassungsinterpretationslehre selbst, als für typische verfassungsdogmatische Themen interessieren.
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Im Bereich des Strafrechts lässt sich insgesamt ein höheres Interesse an der juristischen Methodenlehre feststellen als im Bereich des Verfassungsrechts oder des Privatrechts, was einerseits auf das etablierte Prinzip des „Analogieverbots“, dessen Normschärfe unausweichlich mit seiner rechtstheoretischen Erläuterung im Zusammenhang steht (von seiner theoretischen Erläuterung begleitet wird), andererseits auf die personelle Überschneidung von Strafrechtlern und Rechtsphilosophen zurückzuführen ist, wodurch institutionelle und persönliche Anreize dafür entstehen, dass dogmatische Forschungen angemessen mit methodologischen Überlegungen verzahnt bleiben. Dieser Befund verstärkt sich derzeit zusätzlich durch die – auch in Deutschland feststellbare – Tendenz des Rechtsprechungspositivismus.
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Neben dieser Rezeption der deutschen Methodologie findet sich auch die der anglo¬amerikanischen Interpretationslehre. Wegen der strukturellen Affinität des koreanischen Rechtssystems als eines kontinentalen Rechtssystems zum deutschen Recht ist, zumindest bei der theoretischen Diskussion über konkrete Rechtsprobleme, die Rolle der deutschen Methodologie überlegen. Abgesehen von der vorangehenden Befundanalyse ist zumindest hervorhebungsbedürftig, dass mit der zunehmend stärkeren Tendenz des sog. „Rechtsprechungspositivismus“ in Korea – nicht weniger als in Deutschland – den Juristen, vor allem den Rechtsphilosophen, die methodologische Reflexion notwendig scheint, die eine kritische Betrachtung der Rechtspraxis ermöglicht.
2. Rezeptionen im Bereich der Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft
1) Diskurstheoretischer Ansatz
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Gründliche Auseinandersetzungen mit der juristischen Methodenlehre sehen sich der Problematik der „Objektivierbarkeit der Wertmaßstäbe“ gegenüber, und treten somit unausweichlich in den Bereich der Meta-Ethik oder der Wissenschaftstheorie des Rechts ein. Die Bemühungen der Vertreter einer diskurstheoretischen Position, ihren eigenen Ansatz in Korea wissenschaftstheoretisch durchzusetzen, haben seit Mitte der 90er Jahre deutliche Spuren hinterlassen. Von denjenigen, die ihre eigene Position nicht gerne mit einem bestimmten Ansatz in Verbindung bringen wollen, wird nicht selten ein Methodenpluralismus vertreten und damit auch die Aufnahme des diskurstheoretischen Ansatzes erleichtert. Alexys Werke, wie z. B. „Theorie der juristischen Argumentation“ und „Theorie der Grundrechte“, sind schon übersetzt. Auch mehrere Werke Habermas‘ in den Bereichen der Philosophie oder der Sozialwissenschaft sind bereits seit den 70er Jahren aufgrund von Übersetzungen dem koreanischen Intellektuellenkreis gut bekannt. Neben denjenigen, die dem Ansatz Alexys folgen, spielen diejenigen, die mit K. Günther eng verbunden sind, eine bestimmende Rolle bei der Verbreitung der diskurstheoretischen Konzepte in Korea. Die Verbreitung des diskurstheoretischen Ansatzes ist nicht nur mit dem überkommenen hohen Interesse der koreanischen Sozialwissenschaftler an Habermas, sondern auch mit dem zunehmenden Interesse der in letzter Zeit die angloamerikanische Rechtsphilosophie Erforschenden an R. Dworkin eng verbunden. Denn die Grundrechtstheorie R. Alexys ist als eine Fortentwicklung der Prinzipienlehre Dworkins anzusehen, und Habermas/Günther haben ihre Konzeption, wie Anwendungsdiskurse im Recht, in Auseinandersetzung mit der Kohärenztheorie Dworkins weiterentwickelt.
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Bei der Analyse von Rezeptionsvorgängen des diskurstheoretischen Ansatzes ist es bemerkenswert, dass die Rezeption der ihr zugrunde liegenden Konsensustheorie der Wahrheit zumeist unter der passiven Verteidigung erfolgt, dass man im Zeitalter des Wertpluralismus bei der Begründung einer Norm einen anderen, alternativen Weg als den eines auf Überzeugung abzielenden Diskurses schwer finden könne. Die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der Berechtigung der Konsensustheorie der Wahrheit als solcher tritt eher in den Hintergrund.
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Soweit mit der Ausdifferenzierung der sozialen Systeme die Kritik an der den Habermasschen Theorien zugrunde liegenden Konzeption der „diskursiven Rationalität“ zunimmt und die Stimme des Berücksichtigungsbedarfs an der jedem sozialen System eigenen Rationalität bei der Regulierung der Gesellschaft immer stärker wird, wird auch der Versuch unternommen, auf diese Kritiken durch die Ergänzung der Habermas‘schen Theorie mit dem Ansatz G. Teubners zu reagieren. Er wurde vor allem von Sang-don Yi und dessen Schüler vorangetrieben; die Tendenz, dass dem Teubnerschen Ansatz immer mehr Gewicht zukommt, ist bis heute spürbar. Zugleich wurde von dieser Gruppe eine ergänzende Rezeption angloamerikanischer postmoderner Rechtstheorien unternommen.
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Ungeachtet aller möglichen Kritik ist der positive Beitrag dieser Gruppe zur Entwicklung der koreanischen Rechtsphilosophie nicht zu leugnen. Vor allem angesichts der an die koreanischen Rechtsphilosophen immer häufiger gestellten Forderung, Rechtsphilosophie und konkrete Rechtsprobleme stärker zueinander in Beziehung zu setzen, stellen die rechtstheoretischen Bemühungen dieser Gruppe ein Vorbild dar. Diese Bemühungen werden vor allem unter dem Titel „Erforschungen des Sonderbereichsrechts", etwa im Bereich von Medizin-, Umwelt-, Wissenschafts-, Sport- und Biotechnologierecht, intensiv vorangetrieben.
2) Systemtheoretischer Ansatz
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Seit Anfang der 90er Jahre lässt sich das Phänomen beobachten, dass Wissenschaftler, welche bei der Erläuterung der juristischen Interpretation und Anwendung derselben weder im Ansatz des klassischen Rechtspositivismus noch des Rechtsmoralismus eine theoretische Heimat finden konnten, zu einem metakritischen Ansatz gelangten. Dieser neue Ansatz im koreanischen Diskurs fußte zum Teil auf der Inkommensurabilität der juristischen Interpretation und Argumentation, angeregt und vorangetrieben durch die Rezeption der Critical Legal Studies, die in den 70er bis 80er Jahren im angloamerikanischen Raum große Resonanz fanden. Diese Tendenz verstärkte sich damals gleichlaufend mit dem Anwachsen des postmodernen Gedankens, der nach dem Untergang des Realsozialismus aufgrund des Misstrauens gegenüber großen Narrativen das Wesen des Metacodes, die Welt zu erklären, ablehnte und ihre Vielfältigkeit anzuerkennen versuchte. Es gab allerdings auch Stimmen für die Notwendigkeit einer Einsicht in die „Gleichzeitigkeit des Ungleich¬zeitigen“ in der koreanischen Gesellschaft, nach der neben der Überwindung der Grenze, der sich die westliche Moderne ausgesetzt sieht, auch die konsequente Aufnahme der weltweit akzeptierten Errungenschaften der westlichen Moderne (etwa des demokratischen Verfassungsstaates) erforderlich sei. Diese Stimmen förderten eine philosophische Grundstimmung, die einer Anerkennung der postmodernen Rechtstheorie als allgemeine rechtswissenschaftliche Forschungsmethode in Korea hinderlich war.
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In dieser Lage setzten sich diejenigen, die sowohl dem überkommenen positivistischen Ansatz, also auch der Realisierbarkeit einer ethischen Jurisprudenz im Sinne von Habermas oder Dworkin skeptisch gegenüberstehen, der Frage aus, ob es denn keine anderen Ansätze geben könnte, die sich, über eine einfache Dekonstruktion des Rechtssystems hinausgehend, als angemessene Werkzeuge für eine dynamische Erfassung des Rechtssystems erweisen lassen könnten. Vor dem Hintergrund dieser Problematik begann seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre in Korea die langsame Rezeption der Systemtheorie N. Luhmanns, die sich in Deutschland seit den 80er Jahren schon als eine gewichtige Achse der deutschen Rechtstheorie etabliert hatte. Wegen ihrer Komplexität waren die Rezeptionsvorgänge der Luhmannschen Theorie auch einigen Missverständnissen ausgesetzt. Ein Beispiel dafür ist die These, der rechtstheoretische Ansatz Luhmanns stehe dem klassischen Rechtspositivismus nahe. Anfangs lagen die Hauptwerke Luhmanns, deren Lektüre eine Voraussetzung für das präzise Verständnis seiner Theorie ist, noch nicht in koreanischer Übersetzung vor, und die Zahl der Luhmann-Forscher blieb sehr gering. Unter diesen widrigen Umständen musste man sich noch damit begnügen, anhand einiger Aufsätze bruchstückhafte Informationen über die Systemtheorie zusammen zu tragen.
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Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Systemtheorie von Luhmann kann insoweit erst auf Anfang des neuen Jahrtausends mit der Übersetzung seiner Hauptwerke datiert werden. Das Umfeld der Luhmann-Rezeption hatte sich in eine günstige Richtung verändert, was sich besonders darin zeigte, dass die Zahl der Luhmann-Forscher in den letzten zehn Jahren merklich zunahm und die erste Dissertation, die Luhmanns Systemtheorie zum Hauptthema erhob, im Jahre 2009 eingereicht wurde. Ein Grund dafür liegt vermutlich darin, dass junge Akademiker, die während ihres Aufenthalts in Deutschland mit dem Ansatz Luhmanns in Berührung gekommen waren und von ihm angeregt wurden, in ihr Land heimkehrten. Auch das bereits vorhandene Interesse am Ansatz von G. Teubner, der von der Systemtheorie ausgehend jedoch daneben ebenso normative Kriterien und kritische Maßstäbe zur gesellschaftlichen Regulierung zu explizieren versucht, trägt zu Luhmann-Rezeption bei. Dieser Beitrag ist, wie bemerkt, auf den Versuch zurückzuführen, dass früher am Ansatz Habermas‘ Interessierte die Grenze, der er gegenübersteht, anhand des Ansatzes Teubners zu überwinden versuchten. Es bleibt abzuwarten, welche Rolle die Rezeption der Systemtheorie von Luhmann noch spielen und welchen Einfluss sie auf die hiesige Rechtswirklichkeit nehmen wird.
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Erst Ende 2012 ist die koreanische Ausgabe der „Gesellschaft der Gesellschaft“ in der Übersetzung durch einen Fachphilosophen erschienen. Auch das rechtssoziologische opus magnum von Luhmann, „Das Recht der Gesellschaft“, wird mit der Übersetzung von Zai-wang Yoon noch im Jahre 2013 der koreanischen Leserschaft zugänglich gemacht. Damit wird die Rechtsphilosophie sicherlich die Anschlussfähigkeit an die Systemtheorie des Rechts erlangen. So gesehen, steckt der systemtheoretische Ansatz in Korea noch in den Kinderschuhen, beinhaltet jedoch ein hohes Potential zur weiteren Entwicklung, nicht zuletzt weil die Systemtheorie Luhmannscher Prägung anders als stark normative Ansätze wie z.B. von Habermas noch im universalistisch-evolutionstheoretischen Sinne rezipiert werden kann, ohne des Orientalismus verdächtigt zu werden. Daneben scheint ihre Nähe zur juristischen Praxis als ein großer Vorteil für die weitere Entwicklung in der koreanischen Rechtsphilosophie angesehen zu werden. Dafür muss zuerst die sprachliche Barriere, auf die die Systemtheorie im Ganzen stößt, überwunden werden.
3) Kritische Würdigung
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In den vorangehenden Kapiteln wurde der Rezeptionsprozess der deutschen Rechtsphilosophie unter einer diachronischen Perspektive auf einige wichtige theoretische Positionen konzentriert betrachtet. Aber seine vollständige Analyse sollte nicht nur anhand der Darstellung dessen, „welche rechtsphilosophische Position wann vorgestellt wurde“ zum Ende kommen. Sie sollte auch die Würdigung umfassen, ob die Rezeption auf richtige Art und Weise durchgeführt wurde. Dies setzt freilich eine eigenständige Antwort auf die Frage voraus, worin die richtige Rezeption besteht. Dieser Beitrag geht von der folgenden Ansicht aus: Als erstes Kriterium für die richtige Rezeption gilt, ob die betreffende rechtsphilosophische Position „inhaltlich korrekt“ und dem „theoriegeschichtlichem Kontext (der betreffenden Position) konform“ vorgestellt wird. Erst wenn dies der Fall ist, kommt das zweite Kriterium zum Tragen: Wird die eingeführte Theorie bereichsspezifisch (sei es im konkreten Rechtsbereich oder sei es in besonderer Rechtswirklichkeit bzw. der bestehenden eigenartigen Diskussionslage im Ursprungsland) konkretisiert und spielt sie dadurch eine kreative Rolle in der neuen Umwelt?
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Davon ausgehend ist zu fragen, ob die jeweils eingeführten deutschen rechtsphilosophischen Ansätze richtig vorgestellt wurden. Dies ist damit zu beantworten, dass sie Schritt für Schritt in die Richtung des richtigen Verständnisses verbessert werden. So wurden etwa bei der Rechtslehre H. Kelsens seit jeher zwar Versuche der Studien ihres Inhalts (schon seit der japanischen Besatzungszeit) unternommen, aber es ist schwer zu leugnen, dass sie nicht selten in unvollständiger Weise, oder sogar in einer mit der ursprünglichen Intention Kelsens unvereinbaren Weise interpretiert wurde. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass ein nicht geringer Teil des rechtsphilosophischen Wissens in Südkorea wegen der eingeschränkten Zahl der Rechtsphilosophen seit Beginn der Rezeption von den Rechtsdogmatikern in anderen Bereichen oberflächlich vorgestellt wurde. Ein Beispiel stellt die Gleichsetzung der Reinen Rechtslehre mit dem vulgären Gesetzespositivismus dar, mit der Kelsens rechtspositivistischer Gedanke als Diener jedweder politischen Herrschaft verzerrt wird. Diese irreführende Gleichsetzung führt nicht selten zum Missverständnis, dass die Ansicht Kelsens über die juristische Entscheidung für einen Subsumtionspositivismus gehalten wird, auch wenn man in Deutschland unschwer umgekehrte Stimmen finden kann, nämlich dass er sich eher der Freirechtslehre annähere. Bei der (unter dem koreanischen militärischen Regime unausweichlich) zeitbedingten Konzentration in Korea auf die Frage, ob der Rechtspositivismus fähig sei, gesetzliches Unrecht zu überwinden, konnte seine Demokratietheorie, mit der sein positivistischer Ansatz eng verknüpft ist und worin er eine starke Stütze seiner These findet, nicht ausreichend in den Blick genommen.
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Diese unzureichende Rezeption verstärkte sich noch dadurch, dass in konkreten Rechtsbereichen, auf deren Dogmatik man die Grundannahme Kelsens oder seinen staatstheoretischen Gedanken anzuwenden versucht, seine Gedanken mit einigen unberechtigten Modifizierungen vorgestellt wird. Als Beispiel soll die verfassungsrechtliche Diskussion in Korea dienen: Die drei Arten der Verfassungstheorie, die in Deutschland nur bis Anfang der 70er Jahre als Grundansatz fungierten - Rechtspositivismus (etwa von Kelsen oder Jellinek), Dezisionismus (Schmitt-Schule) und Integrationslehre (Smend-Schule) - wurden seit den 80er Jahren als Grundmuster aufgenommen, und dabei wurde von den bald dominanten Vertretern der Integrationslehre der Ansatz Kelsens als etatistisch überholt abgeschrieben, oft begleitet von der Vernachlässigung der ursprünglichen Intentionen Kelsens. Zwar ist inzwischen ein Umdenken erkennbar, vor allem im Zuge einer exakten Lektüre von Kelsens Texten, aber eine richtige Rezeption der Reinen Rechtslehre scheint aber nicht nur inhaltlichen, sondern auch personalen Erweiterung der Kelsen-Studien und deren Vertiefung zu bedürfen.
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Ein weiteres Beispiel liefert die Rezeption der Diskurstheorie. Wie erwähnt, wird die Habermas-Rezeption in Korea bis jetzt zumeist von einigen Forschungskreisen intensiv unternommen, deren Arbeit zwar viele fruchtbare Ergebnisse erzeugt, jedoch durch ihre eigene Forschungsrichtung stark geprägt ist. Dabei ist u. a. die Tendenz spürbar, dass der begründungstheoretische Charakter der Diskurstheorie eher in den Hintergrund tritt und die Spannung zwischen Faktizität und Normativität zugunsten einer faktischen Demokratietheorie aufgelöst wird. Damit verengt sich der Raum für die wissenschaftstheoretische Beschäftigung mit der der Diskurstheorie zugrunde liegenden Wahrheitstheorie. Und somit wird die Rezeption von rechtsphilosophischen Ansätzen erschwert, die zwar der Notwendigkeit des argumentativen Dialoges in der demokratischen Gesellschaft zustimmen, jedoch der Wahrheitstheorie von Habermas skeptisch gegenüberstehen (etwa der institutionelle Rechtspositivismus oder die Rhetorische Rechtstheorie Mainzer Schule).
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Wichtig ist, dass es sich bei diesen Beispielen nicht um Ausnahmen handelt, was sich an der Rezeption anderer deutscher Rechtsphilosophen zeigen ließe. Richtiges Rezipieren setzt eben die geistige Verarbeitung der Grundbegriffe und des theoretischen Vorverständnisses voraus. Dafür sei die Rezeption der deutschen Methodenlehre herangezogen. Immerhin erlaubt die Diskussion hier inzwischen den Transfer auf konkrete Rechtsprobleme. Gleichwohl muss man noch diagnostizieren, dass die Vertrautheit mit den der juristischen Methodenlehre zugrunde liegenden Schlüsselbegriffen noch nicht genügt, wie die Handhabung des Analogieverbots demonstriert, bei der die darauf bezogenen Schlüsselbegriffe wie „Wortlautgrenze“, „gesetzesimmanente Rechtsfortbildung“, „Gesetzeslücke“, „Rangordnung der einzelnen Auslegungsmethoden“ nicht selten ohne eine systematische Einbettung erfolgt, so dass die feinen rechtsphilosophischen Diskussionen etwa von J. Esser, K. Larenz und M. Kriele nicht angemessen erfasst werden. Gleiches gilt für die deutsche Debatte zwischen dem normenlogischen und hermeneutischen Lager. Das ist zum Teil auf die Vermischung der in der Diskussionen eingesetzten deutschen methodologischen Begriffe mit den angloamerikanischen zurückzuführen, deren Einsatz bei civil-law-System häufig einiger Modifikationen bedarf.
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Gleiches gilt für die deutsche Debatte zwischen dem normenlogischen und hermeneutischen Lager. Die Rezeption von neuen Entwicklungsvarianten der juristischen Methodenlehre, etwa der juristischen Argumentationstheorie, setzt ebenso die exakte Erfassung des theoretischen Kontexts der traditionellen juristischen Methodenlehre voraus. Ohne eine solche allgemein geteilte Wissensreserve würden sich methodologische Bemühungen um konkrete Rechtsprobleme und abstrakte theoretische Auseinandersetzungen über Grundprobleme der Methodenlehre somit nicht zu einer Theorieeinheit vereinigen, sondern voneinander divergieren. Wie vorab bei der diachronen Betrachtung dargestellt, wurden zwar methodologische Studien teilweise, etwa im Bereich des Strafrechts erheblich vorangetrieben, aber ein festes Fundament zum Verarbeiten des Grundwissens über juristische Interpretation und Fortbildung (etwa methodologisches Lehrbuch) liegt anscheinend nur bruchstückhaft vor (Eine Ausnahme stellen das Lehrbuch von Young-hwan Kim und einige Übersetzungen von deutschen Lehrbüchern). Ob dies generell das Schicksal für die Rezeption der Theoriekomplexe ist, sei hier dahingestellt.
VI. Schlussbemerkung
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Für die koreanische Rechtsphilosophie wäre eine richtige Rezeption der westlichen Rechtsphilosophie schon deshalb wichtig gewesen, weil die das moderne Recht in Korea auf rezipiertes westliches Recht aufbaut. Immerhin hat unter den vielfältigen Strömungen der abendländischen Rechtsphilosophie die deutsche Rechtsphilosophie bei der Entwicklung einer koreanischen Rechtsphilosophie besonders deutliche Spuren hinterlassen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, in dem die auf der Rezeption der westlichen Rechtsordnung beruhende Etablierung des koreanischen Rechtssystems zumindest in formal-institutioneller Hinsicht ins richtige Gleis gekommen ist, kann ein schlichter, buchstabengetreuer Import neuer rechtsphilosophischer Konzeptionen nicht genügen.
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In letzter Zeit werden daher die Stimmen lauter, die eine originär koreanische Rechtsphilosophie fordern. Damit eng verbunden sind die Versuche der Rekonstruktion des in der antiken ostasiatischen Philosophie verwurzelten rechtsphilosophischen Gedankens. Daneben wächst die Ausrichtung an der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, nachdem mit Beginn der 80er Jahre die Zahl derjenigen, die in den USA in der Rechtsphilosophie promovierten und zurückkehrten, kontinuierlich gewachsen ist. Mit Blick darauf wird das Bild der rechtsphilosophischen Forschung in Korea komplexer. Auch die Reform des Juristenausbildungssystems und die darauf basierende Einführung der „Law School“ im US-amerikanischen Stil seit dem Jahre 2009 wird die rechtsphilosophische Diskussion in Korea stark verändern. Eine auch im deutschsprachigen Raum zu beobachtende Amerikanisierung der Rechtsphilosophie lässt sich nicht bestreiten. Die koreanische Rechtsphilosophie, die in den letzten 100 Jahren der deutschen Diskussion mit zeitlichem Abstand sowohl gut- als auch bösgläubig gefolgt war, steht damit vor einer neuen Ära.
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