Subsidiarität
Erstpublikation : 06.04.2011
- Definition(-en) und Erfahrungsorte des Subsidiaritätsprinzips
- Struktur des Subsidiaritätsprinzips
- Ideengeschichtliche Übersicht
- Bedingungen der Möglichkeit des Subsidiaritätsprinzips
- Die Struktur des Subsidiaritätsprinzips
- Unterteilungen des Subsidiaritätsprinzips
- Funktionen des Subsidiaritätsprinzips
- Wo wir dementsprechend nicht von Subsidiarität sprechen sollten
- Das Verhältnis des Subsidiaritätsprinzips zu anderen Sozialprinzipien
- Die Kritik am Subsidiaritätsprinzip und Stellungnahme zu dieser Kritik
- Schlussteil
- Bibliographie
- Verwandte Themen
I. Definition(-en) und Erfahrungsorte des Subsidiaritätsprinzips
1. Definition(-en)
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Das „Deutsche Universalwörterbuch” definiert das Subsidiaritätsprinzip als „gesellschaftspolitisches Prinzip, nach dem übergeordnete gesellschaftliche Einheiten (besonders der Staat) nur solche Aufgaben an sich ziehen dürfen, zu deren Wahrnehmung untergeordnete Einheiten (besonders die Familie) nicht in der Lage sind” (Duden 1983, S. 1273). Im Wort steckt das lateinische „subsidium”, was Hilfe, Unterstützung und ursprünglich wohl die Hilfstruppe meinte, die erst bei Erschöpfung oder Dezimierung der vor ihnen kämpfenden Truppen tätig wurde. Die französische Sprache unterscheidet zwischen „principe de suppléance” (Ersatz, Lückenbüßer) und „principe de subsidiarité” (Hilfe für die untere Einheit) (Nell-Breuning 1962, S. 827) und vermeidet damit Missverständnisse (Rz. 27). Im Englischen bedeutet „subsidiary” Hilfe, dementsprechend steht das Adjektiv für „als Hilfe dienend”, „ergänzend” und „unterstützend”. „Subsidy” bezeichnet „Hilfe”, „Beihilfe” und „Zuschuss”; „Subvention” hängt eng mit subsidiarity zusammen. Im Spanischen spricht man vom „principio de subsidiaridad”.
2. Heutige Erfahrungsorte des Subsidiaritätsprinzips
a) Das Entschädigungsrecht im Katastrophenfall
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Eine Überschwemmung richtete in der Bundesrepublik erhebliche Beschädigungen an Privathäusern an. Die Geschädigten verlangten nach Staatshilfe. Die Antwort des Staates im Februar 2009 verwies darauf, dass nach der Aufgabenverteilung in einem Gemeinwesen wie der Bundesrepublik zuerst einmal der einzelne sich gegen solche Schädigungen versichern müsse; erst wenn trotz Versicherung Härtefälle auftreten oder aus verschiedenen Gründen Versicherungen nicht zahlen oder sehr spät, müsse der Staat helfen. Grundsätzlich jedoch sind die Eigentümer der Eigenheime zur Vorsorge verpflichtet. Diese Auskunft wirkt hart; rechtfertigt sich jedoch durch das Subsidiaritätsprinzip (Süddeutsche Zeitung v. 05.02.2009).
b) Das Jugendhilferecht
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Kindsmisshandlungen und Kindermissbrauch in Familien, ja die echte oder unterstellte Unfähigkeit von Müttern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder, werfen Fragen auf, welche das Subsidiaritätsprinzip betreffen: Soll der Staat sich noch tiefer in das Familienleben einmischen, als Beobachter, als Helfer und als Institution, die unter Umständen sogar Kinder den Eltern wegnehmen darf, oder muss er den Freiheitsbereich der unteren Einheit Familie achten, auch um den Preis bleibender Beschädigung kindlichen Lebens? Nun, jedes Prinzip hat hintan zu stehen, wenn es um Menschenleben geht, wobei hier sogar noch die Schwächsten der Gesellschaft betroffen wären. Trotzdem ist unter dem Gesichtspunkt der Würde der Person nach einer genauen wirkungsvollen Feinabstimmung verlangt, welche einerseits den Familien ihre Verantwortung zeigt und ihnen sagt, dass in aller Regel niemand sie so gut wahrnehmen kann wie sie selbst; und dass andererseits eine Gesellschaft die relative Häufigkeit schlechten Umgangs mit Kindern ab einem gewissen Gefährdungsgrad zum Anlass nehmen muss, die Kinder vor ihren Erziehern und Eltern zu schützen. Die Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz 1953 führt aus: „Das Jugendamt hat auf den einzelnen Gebieten der Jugendhilfe zunächst vorhandene Einrichtungen freier Träger zu fördern, sodann die freie Jugendhilfe anzuregen, notwendige neue Einrichtungen zu errichten, die aus öffentlichen Mitteln zu fördern sind, und schließlich eigene behördliche Einrichtungen zu schaffen, wenn der Weg der Anregung und Förderungen erfolglos geblieben ist” (in: Utz 1958, S. 281). Was für Einrichtungen gilt, trifft auch auf den einzelnen Menschen zu. So lautete das Leitwort aus der Sozialreform der fünfziger und sechziger Jahre der Bundesrepublik, dass erst nachdem der einzelne seine persönlichen Kräfte angespannt und seine eigenen Reserven erschöpft hat, gesellschaftliche Hilfeleistung in Anspruch genommen werden soll.
c) Die Europäische Union und ihr Verhältnis zu den Nationalstaaten
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Seitdem man darangeht, aus einer losen Wirtschaftsgemeinschaft eine staatsähnliche Konstruktion zu errichten, taucht auch die Forderung nach Subsidiarität auf. Das heißt, dass der Nationalstaat in einer subsidiären Position zum entstehenden „Europa” mit seinen Gemeinschaftsstrukturen zu stehen habe (Vorläufer: EGKSV Art. 5 I und III: EWG-Vertrag: Art. 5, 235). Die Europäische Union verlangt jedoch nicht, dass das Subsidiaritätsprinzip auch die nationale Rechtsordnung präge.
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Erwähnenswert sind bereits die zehn Münchener Thesen zur Europapolitik vom 23. Oktober 1987, welche die Ministerpräsidenten der deutschen Länder verfasst haben. Dort heißt es: „Die Europäische Gemeinschaft soll neue Aufgaben nur übernehmen, wenn ihre Erfüllung auf europäischer Ebene im Interesse der Bürger unabweisbar notwendig ist und ihre volle Wirksamkeit nur auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann. Den Ländern der Bundesrepublik Deutschland muss neben dem Verwaltungsvollzug ein Kern eigener Aufgaben verbleiben wie beispielsweise die Kultur-, Erziehungs- und Bildungspolitik, die regionale Strukturpolitik, die Gesundheitspolitik. Auch künftig sollen die Länder alle Fragen regeln, die von ihnen sachgerechter, bürgernäher und besser gelöst werden können” (Abgedruckt in: Das Parlament v. 01.01.1993). Auch wenn nicht direkt von Subsidiarität die Rede ist, das Prinzip selbst ist angesprochen und eingefordert. Interessant, welche Aufgaben sich hier die kleinere Einheit zurechnet! Man kann weitere Schritte zum Subsidiaritätsprinzip finden in der Entschließung des Europäischen Parlaments v. 12. 07. 1990 und vom 18. 11.1992.
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Alles, was der Nationalstaat sachgerecht könne, dürfe und müsse er selbst machen. Die entstehende übergeordnete Struktur „Europa” sei nur mit jenen Aufgaben zu belasten, welche der einzelne Staat gar nicht anzupacken vermöge, also mit der militärischen Sicherheit Europas oder dem Güter- und Arbeiter-, Wissenschaftler- und Studentenaustausch innerhalb Europas, um nur zwei Beispiele nennen (Zur Kritik am Begriff „Subsidiaritätsprinzip”, wie ihn EG-V. Art. 198 III verwendet, siehe unten IV: Schlussteil).
d) Das Verhältnis von Geber- und Empfängerländern im Rahmen der so genannten „Dritten Welt”
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Die Entwicklungshilfe denkt sich seit geraumer Zeit vom Subsidiaritätsprinzip her. Empfängerländern ist demnach souveräne Selbstverwaltung zu garantieren, darf die Hilfe nur ihre eigenen Anstrengungen ergänzen, nicht überflüssig oder gar auf Dauer unmöglich machen. Nicht sind die Empfängerländer in dauernder Abhängigkeit zu halten, so sehr dies dem Spenderland auch nützen mag. Die Hilfe so zu geben, dass sie Unrechtsstrukturen, ausbeutende Regierungen des Empfängerlandes und dessen Abhängigkeiten vom Ausland eher bloßstellt als unberührt lässt oder gar stärkt, ist jedoch eine zusätzliche Aufgabe, welche dem Subsidiaritätsprinzip begrifflich nicht auferlegt ist. Wobei nicht erst die geleistete Hilfe Selbstverwaltung einbüßen lassen kann, sondern es vermögen bereits die bürokratischen Verordnungen von Instanzen, etwa internationalen, mit Entwicklungshilfe befasste Institutionen, das Entwicklungsland in einem unmündigen Zustand festzuhalten. Die Außenkontrolle kann lähmen, in der Entwicklung zurückwerfen und doch nicht zu einer Verbesserung der ökonomischen, gesundheitlichen oder Bildungssituation führen.
II. Struktur des Subsidiaritätsprinzips
1. Ideengeschichtliche Übersicht
a) Antike und Mittelalter
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Mag es auch an der Formulierung fehlen, so finden sich doch bereits Elemente in der griechischen Antike.
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1. Platon fordert nämlich, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen (Politeia, IV, 433a-434c), wenn er ausführt: „Tue das Deinige!”; Gerechtigkeit sei, das Seinige tun und nicht die Geschäfte anderer Menschen miterledigen zu wollen (433a). Umgangssprachlich sagen wir: „Schuster, bleib' bei deinem Leisten!” und meinen: Dasjenige, was der einzelne gut und ohne Überforderung zu verrichten vermag, hat er auch zu erledigen; es ist seine zu respektierende Angelegenheit und sie hat es zu bleiben (434b). Wobei zu bestimmen bleibt, welche solche Angelegenheiten sind.
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2. Aristoteles untermauert, wie unerlässlich für das menschliche Leben die Selbstwirksamkeit ist: „[...] das Sein (ist) allen Wesen wünschbar und liebenswert [...] und dass wir insofern sind, als wir tätig sind, nämlich im Leben und Handeln. Durch seine Tätigkeit ist also der Schöpfer gewissermaßen sein Werk. Er liebt also sein Werk, weil er auch das Sein liebt” (IX, Kap. 7, 1168a 6-9). Wer ihn dabei hindert, lässt ihn verkümmern. Nachhaltiger als im fünften Buch der „Nikomachischen Ethik”, welches thematisch meist von der Gerechtigkeit handelt, spricht Aristoteles in deren achten und neunten Buch von der „freundschaftlichen Beziehung”, welche sich als Hilfe äußern kann (Nikomachische Ethik, VIII, Kap. 1, 1155a 3-24).
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3. In der „Politik” des Aristoteles bleiben Familie, Haus (Oikos) und Dorfgemeinschaft nicht nur zufällig bestehen und schon gar nicht müssen sie der Polis weichen, sondern sie alle vier bilden lebendige aufeinander aufbauende Verantwortungszentren, ebenso wie der einzelne Mensch. Die Natur macht nichts vergeblich (1. Buch, 2. Kapitel, 1252b 9-35)!
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4. Das Gerechtigkeitsprinzip “Einem jeden ist das Seine zuzuteilen” (beispielsweise: Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, qu. 58, art. 11) liefert eine Leitlinie für das Subsidiaritätsprinzip: Das „Seine” bestimmt sich von den Verpflichtungen her, welche man zu erfüllen hat und auch erfüllen kann.
b) 19. Jahrhundert: Pierre-Joseph Proudhon, Alexis de Tocqueville und John St. Mill
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Der Föderalismus als staatsphilosophische Idee, welche besonders im 19. Jahrhundert die Theoretiker anzog, suchte den einzelnen und den Staat zum beiderseitigen Wohl zu vermitteln, mit Vorrang des einzelnen und seiner Lebenskreise. Ich will nur auf Pierre Joseph Proudhons (1809-1865) „Du principe fédératif” von 1863 verweisen: „Die Föderation [...] ist ein Vertrag [...], ein Zusammenschluss und ein Bündnis [...], durch welches mehrere Familienhäupter, eine oder mehrere Gemeinden, eine oder mehrere Gruppen der Gemeinde oder sogar Staaten sich wechselseitig auf gleicher Ebene - die einen gegenüber den anderen - engagieren, um ein oder mehrere besondere Projekte zu verwirklichen” (übersetzt aus Lacroix [Hrsg.], Œuvres t. VIII, S. 47).
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Im Liberalismus ist unser Prinzip angedacht, sowohl in Alexis de Tocquevilles (1805-1859) „Über die Demokratie in Amerika” (1835 und 1840) und John Stuart Mills (1806-1873) „Über die Freiheit” (1859) (Gräfrath 1996, S. 132 f.).
c) 20. Jahrhundert: „Quadragesimo anno ” (1931)
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Der Basistext findet sich in der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno” des Papstes Pius XI. vom 15. Mai 1931 in den Nrn. 78 bis 80: Der Papst beklagt zuerst, dass die mittleren Einheiten der Gesellschaft zerstört wurden, welche im Verhältnis von Individuum und Staat vermittelnd, abfedernd und die Machtausübung hemmend gewirkt hätten. Nach deren Verschwinden seien sich Individuum und Staat beidseitig schutzlos gegenübergestanden; der Staat habe sich in der Folge sehr viele, ja zu viele Aufgaben aufgebürdet. In der Folge ruft (Nr. 79) der Papst den Grundsatz in Erinnerung:
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„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.” (Acta Apostolicae Sedis 23 [1931], S. 202 f.)
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Die Nr. 80 hebt noch einmal hervor, dass die Staatsgewalt den kleineren Gemeinwesen Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung überlassen solle, denn wenn deren Besorgung die obere Einheit vornähme, würde die gesellschaftliche Ordnung verwirrt und dadurch geschwächt werden. Es kann auch sein, dass die obere Einheit wichtige Aufgaben unerledigt ließe, doch ist dies nicht das Hauptargument. Wir sehen, dass es dem Papst eben so sehr um den einzelnen Menschen wie um die Gesellschaft, bzw. den Staat geht! Er unterstreicht die Eigenlogik und das Potenzial der kleineren sozialen Institutionen wie der Familien, Gemeinschaften, Kommunen; sie bringen sich so in die Gesellschaft ein und fördern sie.
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„Quadragesimo anno” geht meines Erachtens von einem Gegenüber von Staat und Mensch aus und trotz zahlreicher Verknüpfungen beider sollen die zwei zu ihrem, je eigenen Recht kommen. Daher kann ich Tatjana Sedova nicht zustimmen, welche der Enzyklika eine starke antistaatliche Tendenz unterstellt (2005, S. 114). Dass in der Enzyklika eine essentialistische Fassung vorliege, welche die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in das Grundgesetz hinausgezögert habe, behaupten Baumgartner / Korff (1998, 3. Bd. S. 410 f.); dagegen halte ich: Einerseits wurde doch das Prinzip in wichtigen Gesetzesvorhaben in der Zeit des Grundgesetzes von 1949 an berücksichtigt, wie dem Jugendhilfe- und dem Sozialrecht (siehe oben I.2.b))! Andererseits gab es Gründe, welche aber nichts mit der Fassung des Prinzips zu tun haben, so z. B. der irrtümliche „Ruf”, dass es sich um ein römisch-katholisches Prinzip (und nicht um ein allgemein-menschliches) handele, und dass „Quadragesimo anno” der Staatslehre des Korporatismus anhänge (dazu Nell-Breuning 1962, 826-833), was, selbst wenn es der Fall wäre, nicht das Subsidiaritätsprinzip in seiner Geltung berühren würde. Wenn Herzog behauptet, dass Nell-Breuning aus dem Subsidiaritätsprinzip heraus für eine berufsständische Ordnung eintrat (Herzog 1998, 484), so mag es für die von Herzog angegebene Schrift von 1950 gelten, nicht jedoch für den Nell-Breuning der sechziger Jahre und später. Er vertritt in seinem Beitrag zum Subsidiaritätsprinzip im „Staatslexikon” die klare Position, dass aus dem Subsidiaritätsprinzip gerade keine gesellschaftliche Ordnung gewonnen werden könne (1962, 833) (s. II.3. Rz. 23).
2. Bedingungen der Möglichkeit des Subsidiaritätsprinzips
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Es verlangt eine Gesellschaft, in der es eine Vielfalt an Ämtern, Aufgaben, Verantwortungen und verschiedener, jedoch auf einander zugeordneter Lebenskreise gibt; die von dem Prinzip erforderte Definition von „Ordnung” ist die einer „pluralitas in unitate” oder „unitas in diversitate”.
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Es verlangt eine Gesellschaft, in der kein Gesellschaftsmitglied alles tun muss. Der Initiative des einzelnen, d. h. seiner naturwüchsigen Anlage und ihrer Entfaltung ist der Vorrang vor der Tätigkeit des künstlichen, von Menschen erst geschaffenen Apparates, etwa der politischen Gemeinde, zu geben. Anders wäre es eine nicht leicht zu rechtfertigende Umkehrung, nämlich, der Vorrang der Wirkung über ihre Ursache.
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Es verlangt eine Gesellschaft, in welcher der Mensch darum weiß und es bejaht, dass es zu seiner Würde gehört, sich selbst zu helfen, eigentätig zu werden und selbstverantwortlich zu handeln. Auch wenn der Staat eventuell - sicherlich nicht in jedem Falle - schneller und wirkungsvoller helfen würde, soll der einzelne oder die kleine Gemeinschaft (die sich darüber verständigen müsste!) gerade darauf verzichten. Der Natur, so antwortet Thomas von Aquin, liege es nicht immer daran, auf schnellstem Wege und unter geringstem Aufwand das Ziel zu erreichen, sondern wolle sich ihm oft unter möglichst hoher Beteiligung von Betroffenen nähern, damit die Intelligenz und Opferbereitschaft vieler mobilisiert werden, was ja einen eigenen und hohen Wert bedeute (Sth II-II 183, art. 2 ad secundum). Der Mensch ist eben nicht nur Mittel, sondern selbst ein Ziel. Das Subsidiaritätsprinzip sucht nicht das Ziel mit dem geringstmöglichen, sondern mit menschenwürdigen Aufwand zu erreichen, um die Anlage zur Selbsttätigkeit zu achten und zu stärken.
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Es verlangt eine Gesellschaft, in der Selbstverantwortung gefördert, jedoch niemand dadurch überfordert werde.
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Auf der Erkenntnisebene wird deutlich, dass der bisherige Diskurs des Subsidiaritätsprinzips es als dem Menschen und der politisch-rechtlichen Gestaltung vorgegeben versteht, und dass nur seine Ausgestaltung der Verständigung der Gesellschaftsteilnehmer unterliegt. Wer fragt, ob es eher oder nur einen normativen Charakter oder den eines sozialmetaphysischen Prinzips habe, so halte ich letzteres für richtig. Erst ein solches liefert das Fundament für Rechte und Pflichten. Es ist erst im nächsten Schritt bei der Umsetzung eine Handlungsverpflichtung, die einzelnen und Institutionen auferlegt ist. Beides, das Prinzip wie die Verpflichtung, leiten sich letztlich aus dem Prinzip des Guten ab, dem bonum transcendentale.
3. Die Struktur des Subsidiaritätsprinzips
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Dieses Prinzip weist demnach nicht vorrangig den Menschen an, wie er handeln soll, sondern macht auf einen Handlungsrahmen, also eine Struktur, aufmerksam, innerhalb derer zu handeln ist. Dieses Strukturprinzip wendet sich somit nicht unmittelbar an ein Einzelhandeln, wie die Prinzipien von Gerechtigkeit, Solidarität und Personalität, sondern fordert, eine bestimmte Ordnung zu errichten. Nell-Breuning weigerte sich zu sagen: „Strukturprinzip”; die Struktur sei jeweils sachgerecht und vernünftig zu finden und erst, innerhalb der gefundenen Struktur, sollte dann das Subsidiaritätsprinzip für die Verteilung der Pflichten und Rechte u.a. sorgen (1962, 833). Nach der von mir vertretenen Ansicht ist das Prinzip im Gegenteil bestimmend auch und maßgeblich für die Struktur; es findet sich eben nicht mit jeder Struktur ab. Und was heißt „sachgerecht”? Sachgerechtigkeit wäre nach allem zuvor Gesagten erst dann gegeben, wenn das Subsidiaritätsprinzip berücksichtigt ist.
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Das Prinzip besteht zwischen einer unteren und einer oberen Einheit. Erst innerhalb dieser Struktur entstehen Rechte und Pflichten. Mit unterer Einheit ist die einzelne Person, aber auch eine jede Institution, etwa die Familie, die eigenständigere Stadtteilverwaltung, die Kommune, die regionale Verwaltung, das Land, der Bundesstaat, ein noch weitgespannterer Verbund, wie z.B. die Europäische Union gemeint. Außer dem einzelnen Menschen können diese unteren Einheiten dann aber auch wiederum obere Einheiten sein, so die Familie, die politische Gemeinde etc..
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Die drei Unterprinzipien, die zu Handlungsregeln werden sollen, lauten für die untere wie die obere Einheit verschieden, ergänzen sich aber. Aus der Perspektive der unteren Einheiten besteht die Forderung: Selbsttätig zu sein und sein zu dürfen, zweitens, unterstützende Hilfe zu erhalten und leisten zu dürfen, und drittens nach erfolgreicher Hilfe der oberen Einheit unverzüglich wieder in die Selbständigkeit entlassen zu werden.
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Es ist schließlich nicht nur an wirtschaftliche oder soziale Not als Anlass der Hilfe zu denken, sondern auch an sonstige Mängel, welche eine sinnvolle Entwicklung der unteren Einheit verzögern oder rückgängig machen würden. Hilfe kann auch geschuldet sein, wenn es sich nahelegt, den Rahmen bisheriger Aufgaben zu überschreiten und neue anzupacken, immer vorausgesetzt, dass die untere Einheit für eine solche Aufgabe ursprünglich zuständig ist.
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Die je obere Institution hilft, nicht aus einer zeitweiligen oder dauernden Über- und Ansichnahme der Kompetenz der unteren Einheit, sondern aus eigener Kompetenz, nämlich der der Hilfe; sie ist somit im strengen Sinn auch nicht stellvertretend für die untere tätig! Es kommt also nicht auf den Einsatz der je größeren Sachkompetenz an, sondern auf Selbstentfaltung und -gestaltung der unteren Einheit. Die obere Einheit springt auch nicht streng genommen in eine Lücke ein, der sie gewahr wurde, sondern hält sich aus eigener Verantwortung für die untere Einheit bereit, ihr über ihr „Schwächeln” oder Versagen so zu helfen, dass sie möglichst bald wieder ihrem Aufgabenkreis wieder gerecht zu werden vermag. Die obere Einheit zieht sich zurück, sobald die untere Einheit wieder kräftig genug ist, ihrem Aufgabenkreis gerecht zu werden.
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Im Beispiel: Wenn der Staat die Familie in ihren Aufgaben unterstützt, so nicht aus einer Superkompetenz heraus, welche auch die Erziehung und die Familienfürsorge miteinschließen würde, sondern aus seiner ihm und nur ihm zustehenden Pflicht, der Familie als unterer Einheit zu helfen. Es sind so nah wie möglich am Menschen die Hilfe leistenden Instanzen zu errichten. Ein Staat darf auch nicht an den Zwischeninstitutionen vorbei direkt auf den Einzelnen zugreifen, wenn diese im Gegensatz zum Staat vertrauter sind, mit Kenntnis der Not die Hilfe einrichten und unkompliziert leisten können.
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Ebenso wenig darf die untere Einheit sich die genuinen Aufgaben der oberen Einheit aneignen und miterledigen wollen.
4. Unterteilungen des Subsidiaritätsprinzips
a) Allgemeine und besondere Subsidiarität
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So gibt es für Arthur F. Utz (1958, S. 285 f.) zweierlei Subsidiaritätsprinzip: Eines allgemeiner Art und das besondere Prinzip der Subsidiarität: Einerseits existiert - hoffentlich - eine meist gesetzlich geregelte, d. h. allgemeine Hilfeleistung der Gesellschaft an die Adresse einzelner und ihrer kleinen Gemeinschaften. Sodann ist für ein spezielles Helfen zu sorgen, dort, wo ein Gesetz fehlt, und sein Fehlen eben keine Entschuldigung für die Hilfe sein kann.
b) Das horizontale und vertikale Subsidiaritätsprinzip
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Diese Unterteilung findet sich bei verschiedenen Autoren (Höffe 1999, S. 134-140; Duret 2000, S. 95-143; Rosa - Baggio 2006, S. 11241-43). Während die vertikale Subsidiarität die Handlungen und die Handlungsebenen von Oben nach Unten errichte und stabilisiere, stelle die horizontale Subsidiarität einen Maßstab für Hilfen dar, welche zwischen gesellschaftlichen Gruppen erbracht werden, ohne den Staat mit herein zu ziehen. So weit scheint mir die Unterteilung auf eine echte Aufgabe hinzuweisen. Auch bei dieser Hilfe zwischen Menschen und Institutionen, die jedenfalls nicht nach- und vorgeordnet sind, sind die Regeln des Subsidiaritätsprinzip zu beachten, z. B. keine Abhängigkeit aufkommen zu lassen und sich beizeiten zurückzuziehen. Ob man aber vom Subsidiaritätsprinzip sprechen muss, wenn man der vertikalen Subsidiarität auferlegt, für ihr Handeln die jeweilige Macht zu suchen, welche ihr zur Verfügung stehe, wohingegen die horizontale Subsidiarität zu prüfen habe, wie diese Macht zu gebrauchen sei? (so aber Rosa-Baggio 2006, S. 11242). Um diese Unterscheidung noch geschichtlich zu verorten, greife ich ihren Hinweis auf, dass die „Federalist Papers” das Subsidiaritätsprinzip vertikal, Turgot und Condorcet es eher horizontal denken.
c) Die negative und die positive Subsidiarität
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Erstere wehrt sich vorwiegend gegen „erstickende” Staatsangebote und schafft dadurch den Freiraum für Hilfen, die aufhelfen: die positive Subsidiarität versucht hingegen den Aufbauaspekt zu betonen, und muss vorsichtiger gegenüber den Staatshilfen oder durch anderen nähere Gremien sein. Präsident Abraham Lincoln hat z. B. verkündet: „Die Regierung hat für die Bevölkerung zu besorgen, wonach die Leute ein Bedürfnis haben, was sie aber selbst überhaupt nicht tun können oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebenso gut tun können. In all das, was die Leute ebenso gut selber tun können, hat die Regierung sich nicht einzumischen” (zitiert in: Nell-Breuning 1962, S. 828). Der Staat ist auch für Lincoln alles andere als ein Lückenbüßer!
d) Vorleistende, sich enthaltende und nachhelfende Subsidiarität
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Diese auch von Baumgartner / Korff besprochene Form (1998, 410) weist mit Recht darauf hin, dass es der Vorleistungen bedarf, damit ein Mensch oder auch eine Institution wie die Ehe und die Familie beispielsweise zu wachsen vermag.
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Damit ist sicherlich ein wichtiger Aspekt in diese Diskussion hereingebracht, welcher sich nicht in „Quadragesimo anno” fand.
5. Funktionen des Subsidiaritätsprinzips
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Die einzelnen Unterteilungen sind aufeinander bezogen.
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1. die Hauptfunktion ist der Schutz von Selbstverwaltung und Sicherung des Selbststandes; sei es des einzelnen, einer Gemeinschaft, wie der Familie. Es geht also nicht in erster Linie um Sach- oder Personenhilfe, sondern darum, Selbstständigkeit zu erhalten und nicht zu schwächen; schon gar nicht darum, die untere Einheit aufzusaugen, aufzuheben und sich an deren Stelle zu setzen, für den Menschen hieße das, ihn völlig zu entmündigen.
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2. Die obere Einheit hat Unterstützung zu leisten, ihr steht jedoch aus dem Subsidiaritätsprinzip kein eigentliches hoheitliches Maßnahmenrecht oder Eingriffsrecht bei Hilfsbedürftigkeit zu. Ein solches wäre eigens wie die konkrete Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips zu regeln. Dieses Prinzip macht seine Unterstützung ebenfalls nicht davon abhängig, ob bei dem Hilfsbedürftigen Schuld vorliegt oder nicht. Unerheblich ist es für das Subsidiaritätsprinzip auch, ob die empfangene Hilfe sofort oder später zurückgezahlt werden soll. Es kommt ihm auf darauf an, dass die untere Einheit die ihr ureigene Aufgabe erfüllen kann.
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3. Die Pflicht zum Rückzug aus der Hilfe ist der oberen Einheit auferlegt, wenn sie dem Selbststand der unteren Einheit geholfen hat. Dies ist ebenso wie die Hilfe eine echte Funktion der oberen Einheit, nämlich ihr zu planender, geordneter Rücktritt, dessen Zeitpunkt ebenso viel Takt und Überlegung verlangt, wie die Art der geleisteten Hilfe selbst.
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4. Das Subsidiaritätsprinzip hat damit auch eine integrierende Funktion, selbst in komplexen Systemen (Mainzer 1994); es drängt nicht die schwachen Einheiten zum Aufgeben, sondern stärkt sie. Es stärkt damit auch die Bottom-Up-Ansätze gegenüber den Top-Down-Ansätzen.
6. Wo wir dementsprechend nicht von Subsidiarität sprechen sollten
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Das Subsidiaritätsprinzip hat nichts mit der Delegation von Staatsaufgaben zu tun. Bei einer Delegation würde der Staat die einzelne Person oder die kleinere Gemeinschaft nicht in ihrer Selbsttätigkeit achten, sondern zum Erfüllungsgehilfen seiner Tätigkeit machen und damit entfremden. Der Staat würde die Erziehung der Kinder an die Familie delegieren. Was gemäß des vorher Gesagten absurd wäre. Eine Delegation kann auch die delegierende Macht je nach ihrem Gutdünken zurücknehmen oder belassen, nicht aber aus Gründen, welche in der delegierten Einheit liegen.
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Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht mit Dezentralisierung zu verwechseln. - Dezentralisierung dient dazu, die umfassendere Struktur, also die obere Einheit, zu entlasten. Dem Subsidiaritätsprinzip kommt es hingegen darauf an, dass sich die untere Einheit möglichst entfalte. Das Prinzip liefert keine Rechtfertigung dafür, dass Gestaltungsaufgaben auf kleinere kleinräumige Lebenskreise und Institutionen übertragen werden, wenn diese Träger bei der Lösung dieser Gesellschaftsprobleme überfordert sind.
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Gleichfalls hat das Subsidiaritätsprinzip nichts mit der Privatisierung von Staatsaufgaben zu tun. - Mag sein, dass Privatfirmen bestimmte, ehedem staatliche Aufgaben hervorragend erledigen können. Doch ist das Subsidiaritätsprinzip mit solchen Privatisierungen aus Effektivitätsgründen nicht in Verbindung zu bringen. Bei Privatisierungen geht es um den schlankeren, billigeren Staat (in Form der Kommune z. B.) und nicht um den Schutz der Sphäre des einzelnen oder der je kleinen Gemeinschaft.
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Vom Interventionsrecht unterscheidet sich das Subsidiaritätsprinzip dadurch, dass Interventionen in außergewöhnlichen Situationen stattfinden, meist unter Verletzung oder jedenfalls Hintanstellung bestimmter Prinzipien, wie der Souveränität. Die Intervention hat ihre Gründe, andere Gründe hat das Subsidiaritätsprinzip; die Intervention legitimiert ein eher einmaliges Handeln in Situationen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen; das Subsidiaritätsprinzip verlangt hingegen eine für die normale Lage geltende strukturelle Regelung der Zuständigkeit, welche in schweren wie leichten Zeiten gelten soll.
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Die Sozialphilosophie von John Rawls (1921-2002) kennt das Subsidiaritätsprinzip nicht. Sollte das nicht zu denken geben? - Rawls entwirft ein Modell, welches einem jeden Bewohner die Grundrechte garantiert, Chancengleichheit zusichert und sozial-ökonomische Differenzen mindestens, was die schlechtest gestellte Position betrifft, durch geeignete Maßnahmen korrigieren will. Nun zeigt sich, dass eine jede, ausschließlich vom Einzelnen ausgehende Staatsphilosophie in der europäisch-amerikanischen Tradition diesen Einzelnen dem Staat ausgesetzt sieht. Daher wird es notwendig, den Staat zu bändigen oder gar zu schwächen und die Staatsgewalt zu teilen. Personalität und Gerechtigkeit, jedoch nicht Solidarität und Subsidiarität, sind die Prinzipien der Rawlsschen Theorie. Das Anliegen von Abraham Lincoln griff Rawls nicht auf (siehe II.4.d)). Auch Wolfgang Kersting (2006) spricht das Subsidiaritätsprinzip in seiner Darstellung und Beurteilung der Rawlsschen Theorie nicht an - eben weil es bei John Rawls nicht vorkommt und in seinen Aufbau des Gemeinwesens nicht passt.
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Und wie ist das Verhältnis von Subsidiaritätsprinzip und Kommunitarismus? Muss die Gesellschaft kommunitaristisch werden? Dem Subsidiaritätsprinzip ist es fremd, die “kleine Gemeinschaft” als solche zu der Lebensform zu erklären. Kein “small is beautifull”! Auch ist subsidiärem Handeln das antiuniversalistische und antiaufklärerische Moment des Kommunitarismus fremd (Höffe 1999, S. 134).
7. Das Verhältnis des Subsidiaritätsprinzips zu anderen Sozial- prinzipien
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Während das Personalitätsprinzip in der Sozialethik fordert, die Personenwürde zu achten, Selbstgestaltung und Selbstverantwortung zu gewährleisten, und das Solidaritätsprinzip in der Sozialethik Freiräume für solidarisches Handeln verlangt und Institutionen die Pflicht auferlegt, solches solidarisches Handeln zu respektieren, fällt dem Subsidiaritätsprinzip die Aufgabe zu, eine Struktur der Zuständigkeiten zu errichten (und ich würde daran festhalten und nicht wie Höffe eine hochgradige moralische Erneuerung vom Subsidiaritätsprinzip erwarten (2009, S. 295). Weder darf das Subsidiaritätsprinzip der Person schaden, noch gerechte Verhältnisse, sei es der Distribution oder der kommutativen Gerechtigkeit beschädigen. Man kann sämtliche der genannten Prinzipien mit dem Gemeinwohl vermitteln. Dann würde gelten, dass wer das Subsidiaritätsprinzip verletzt, zugleich das Bonum commune verfehlt. Damit ist auch der Einwand zurückgewiesen, dass das Subsidiaritätsprinzip rein formal sei. Es ist um Freiheit und Selbstorganisation besorgt, und es erklärt den Staat für unabdingbar nötig.
III. Kritik am Subsidiaritätsprinzip und Stellungnahme zu dieser Kritik
1. Vorwurf, es gehe von einem Oben-Unten-Aufbau der Gesellschaft aus
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Formal und inhaltlich sind hier zu unterscheiden. Formal gilt: Auch in Demokratien gibt es einen Stufenbau zwischen oder unter den Institutionen, zwischen Stadtteilen, Kommune, Regionen als politischen Einheiten etc. Eine Oben-Unten-Struktur ist unentbehrlich. Inhaltlich gesehen darf die staatliche Verwaltung sich und ihr Funktionieren jedoch nie dem konkreten Menschen und seinen näheren, zu seiner Entfaltung unentbehrlichen Lebensräumen vorziehen.
2. Vorwurf, dass es den Staat schwäche
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Der Vorwurf ist nicht haltbar. Denn das Subsidiaritätsprinzip bejaht den Staat und die genuinen staatlichen Aufgaben der oberen Einheit, indem die untere Einheit ja eingesteht, dass sie ihre genuinen Aufgaben in einer bestimmten Situation nicht selbst zu erfüllen vermag. So kann sie nicht die nationale Sicherheit von sich her garantieren und etwa die Infrastruktur zu Lande, in der Luft und auf dem Wasser aufbauen. Das Subsidiaritätsprinzip weist den Staat nie grundsätzlich aus bestimmten Lebensräumen aus, sondern lässt ihn nur bestimmte Tätigkeiten nicht wahrnehmen, lässt ihn jedoch als Helfer unter bestimmten Umständen wieder ein. Ein Staat müsste dieser Entlastung doch auch einen Sinn abgewinnen können.
3. Vorwurf, es sei umständlich und verursache Ineffektivität
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Beide Anti-Werte, die es grundsätzlich zu vermeiden gilt, sind aber dem höheren Wert der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung menschlicher Angelegenheiten untergeordnet. Wäre es nicht so, würde der Mensch zum Mittel solcher Erfordernisse. Das Subsidiaritätsprinzip macht es sich daher nicht zur Aufgabe, die Staatsaufgaben schneller, kostensparender und effektiver zu erfüllen (II.2.c)).
4. Vorwurf mangelnder Neutralität
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Denn es fördere ein föderales Denken und den föderalen Staatsaufbau. - Richtig! Es ist das Subsidiaritätsprinzip z. B. nicht in einen totalitären, alles kontrollierenden Staat einbaubar, vielmehr verlangt es den Freiraum für die kleineren Einheiten und die Hilfspflicht durch die nächsthöhere. Seine Begründung dafür lautet, dass dem Menschen als Menschen und Gemeinschaftswesen die demokratische und rechtsstaatliche Struktur mit ihren Herausforderungen eher entspricht als die eines Staatswesens, welches sämtliche menschlichen Angelegenheiten, bis in persönliche (Bestimmung des Berufs) und familiäre (Wann heiraten, wie Kinder erziehen?) beeinflusst oder gar bestimmt.
5. Vorwurf, es werde der einzelne hilfloser gemacht,
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um ihn dann umso mehr beherrschen zu können. So lautet eine Kritik aus sozialistischen Kreisen: Indem der Staat nämlich zur Hilfsreserve werde, schaffe man einen Privatraum, der aber unwirklich sei, in welchem die stärkeren gesellschaftlichen Kräfte konkurrieren. - Zur Antwort: Selbstverständlich sei der ganze Mensch gesellschaftlich bestimmt und immer schon in Gesellschaft und Staat eingefasst. Doch ist diese Kritik nicht zutreffend, geht es dem Subsidiaritätsprinzip gar nicht um eine (scheinbar) staatsfreie, schon gar nicht um eine rechtsfreie Sphäre, die völlig unwirklich ist. Mit dem Subsidiaritätsprinzip bleibt man im Recht, hat Rechtsansprüche und Rechtspflichten. Das Subsidiaritätsprinzip konstruiert keineswegs eine nicht-gesellschaftliche und vorstaatliche Sphäre. Ihm liegt an einer bestimmten Aufgabenzuerteilung, weil sie dem Menschen entspricht; jedoch nicht, den abwegigen Konflikt von a) “privat” gegen “öffentlich” oder gar b) “a-sozial” versus “sozial” weiterzuführen. Dem Prinzip liegt nicht das Ideal einer Robinson-Crusoe-Existenz oder des Menschen im Naturzustand zugrunde, vielmehr sieht es seinen Platz fordernd inmitten der Gesellschaft mit ihren immer irgendwie vergesellschafteten Subjekten. Allerdings zieht das Prinzip eine gesellschaftliche Ordnung mit privater Initiative der Fremdverwaltung vor.
IV. Schlussteil
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Sehen wir noch einmal auf die Europäische Union! Der EG-V. Art. 189 III: (Art. B EUV, letzter Absatz, i. V. m. 3b EGV) legt fest: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihren Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus.”
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Dazu bleibt zu bemerken:
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Nach Art. 189 III b EG-V findet das Subsidiaritätsprinzip also gar nicht uneingeschränkte Anwendung, sondern nur in denjenigen Bereichen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen; also in Bereichen wie dem Umwelt- und Verbraucherschutz, der Sozialpolitik, der Binnenmarktgesetzgebung; hier darf die EG nur unter den beiden Bedingungen tätig werden; die Frage ist, ob die EU-Politik die Auswahl dieser „ausschließlich der EU zustehenden Tätigkeiten” bereits unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzip getroffen hat oder nicht;
- das Subsidiaritätsprinzip dient nicht als Aufbauprinzip von unten nach oben; was aber zentral ist;
- es regelt eine Unterstützungspflicht, kein Eingriffsrecht, und das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip (Abs. 3 des Art. 3 b EG-V);
- es fehlt ein Wort über die Hilfe zur Selbsthilfe, und den „Rückzug” der oberen Instanz, sobald die untere Einheit zur Selbsttätigkeit wieder fähig ist.
- Wer definiert, wie viel Befugnisse die zentrale Einheit haben muss? Man antwortet, dass der „gemeinschaftliche Besitzstand”, der „acquis communautaire” nicht berührt werden darf.
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Insofern führt unser Blick auf das EU-Recht zu einem zwiespältigen Urteil. Man nahm das Subsidiaritätsprinzip in seinen einzelnen Punkten ernst und doch nicht völlig.
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