Hans Welzel
Erstpublikation:08.04.2011
I. Biographie
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Hans Welzel wurde am 25. März 1904 in Artern am Südhang des Harzes als Sohn eines Molkereibesitzers und seiner Frau geboren. Nach dem Abitur 1923 begann er in Jena zu studieren, zunächst Mathematik, sodann, mit einem kurzen Gastsemester in Heidelberg, Rechtswissenschaft und Philosophie. 1927 bestand er das Referendarexamen (mit „gut“). Schon 1928 folgte die Promotion zum Dr. jur. „summa cum laude“), auf Anregung wohl von Bruno Bauch mit einer (erst 1958 veröffentlichten) Dissertation über „Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs“. Nachdem er 1929 mit Hans Albrecht Fischer, dessen Tochter später seine Frau geworden ist, zum Aufbau eines rechtsphilosophischen Seminars nach Breslau gegangen war, übernahm er 1930 eine Assistentenstelle bei Gotthold Bohne in Köln, um sich hier zu habilitieren. 1932 folgte das Assessorexamen, 1935 die Habilitation für „Strafrecht und Strafprozessrecht, Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie“. Noch im selben Jahr hatte er einen Vertretungsauftrag in Bonn, dann ab Wintersemester 1935/36 in Göttingen, wo er im Februar 1937 zum a.o. Professor ernannt wurde. Als Soldat (1935 und 1937) erkrankte Welzel an einer schweren Lungentuberkulose, derentwegen er 1939 vom Wehrdienst entpflichtet wurde. Er war deshalb einer der wenigen, die der Universität in den Kriegsjahren als Dozent erhalten blieben. Im Februar 1940 folgte die Ernennung zum ordentlichen Professor. Welzel war, neben Rudolf Smend als Rektor, Dekan der Juristischen Fakultät, als die Universität Göttingen im Herbst 1945 wieder eröffnet wurde. Nachdem er 1950 einen Ruf nach Hamburg abgelehnt hatte, folgte er 1952 einem Ruf nach Bonn, wo er 1962 Rektor der Universität geworden ist. 1954-1959 war er Mitglied der Großen Strafrechtskommission, deren Arbeiten zur Grundlage der Strafrechtsreform von 1975 geworden sind. Seine letzten Lebensjahre waren eine Zeit dramatischen geistigen Verfalls. Er starb am 5. Mai 1977.
II. Werke
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Es ist offenbar Pufendorfs Lehre von den entia moralia gewesen, die für Hans Welzel, mit der Arbeit an seiner Dissertation, den Anstoß gebildet hat, sich zeit seines Lebens mit „Wertungen im Strafrecht“, wie eine seiner frühen Publikationen heißt, auch philosophisch auseinanderzusetzen (1933 = Abhandlungen, S. 23 ff.). Das geschieht schon zuvor mit dem Hinweis, dass es notwendig sei, in Abkehr von reinem Kausaldenken „den spezifischen Gegenstand des rechtlichen Schuldvorwurfs aufzuzeigen und das ihm immanente besondere sittliche Pathos verständlich“ zu machen (1930 = Abhandlungen, S. 5).
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Den Ausgangspunkt bildete für Welzel die — von ihm mit dem „geistigen Umbruch des Jahres 1933“ in Verbindung gebrachte — vehemente Kritik an der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Neuzeit, an dem über Jahrhunderte zurückreichenden „gewaltigen“ Versuch „einer absoluten Technisierung des menschlichen Daseins, der seine wirtschaftliche Erfüllung im Hochkapitalismus, seine politische Machtstellung im Liberalismus und seine theoretische Rechtfertigung im Positivismus“ gefunden haben sollte (1935 = Abhandlungen, S. 118). Hier sah er eine Strafrechtslehre begründet, deren „positivistisch-naturalistische Orientierung“ sie veranlasste, „den Gehalt der rechtlichen Begriffe so vollkommen wie möglich auf Daten der naturwissenschaftlichen (Abstraktions-)Realität zu reduzieren“ (ebda., S. 67). Was ihm dagegen die „vornehmste Aufgabe der Rechtswissenschaft“ schien, war es, „die Werthaltungen der konkreten historischen Epoche zu verstehen, denen die rechtlichen Normierungen entspringen und denen sie Sinn und Inhalt verdanken, das, was im praktischen Leben und selbst in der Rechtsprechung, nur kaum oder halbbewusst tiefstes Ziel und Richtung ist, ins klare Bewusstsein unserer historischen Position zu heben“ (ebda., S. 105). Worin die „konkreten Werte der [damaligen] historischen Situation“ (ebda., S. 87) bestehen könnten, darüber freilich wird kaum mehr gesagt, als dass sie „im Metaphysischen wurzeln“ (ebda., S. 101 u.ö.). Hier finden sich auch manche Formulierungen, die als Konzessionen an den damaligen Zeitgeist im Nachhinein durchaus als anstößig empfunden werden können.
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Wichtiger ist, dass und wie sich Welzel nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hat. Armin Kaufmann hat in seinem Nachruf an die «Einführung in die Rechtswissenschaft» erinnert, die Welzel im Winter 1945, unvergesslich für jeden Teilnehmer, vor der eben heimgekehrten Kriegsgeneration im ungeheizten, überfüllten Hörsaal gehalten hat (1982, 280): als philosophische Auseinandersetzung und Abrechnung mit der unseligen Vergangenheit, als das Bemühen zu verstehen, was da geschehen war und als ein einziger Appell an Vernunft und Gewissen, tief bewegend, weil alles das ganz offenbar auch seine eigene Verstrickung betraf. Die Abhandlung „Über die ethischen Grundlagen der sozialen Ordnung“ (Welzel, 1947 = Abhandlungen, S. S. 241 ff.) ist allem Anschein nach ein Teil des Manuskripts jener Vorlesung. Hier wird zum ersten Mal die Autonomie des Menschen das Prinzip seiner Würde, „der Quellpunkt des eigentlich Humanen“, genannt (242), ein Grundgedanke, der Welzel in aller seiner weiteren philosophischen Arbeit leiten sollte. Dabei betont er von Anfang an mit allem Nachdruck, dass Autonomie zwar bedeute, nur einem als richtig und gültig anerkannten Gesetz unterworfen zu sein, dies aber nicht von der Verantwortung für die Richtigkeit der Entscheidung dispensiere: „Erst die Beziehung auf eine materiale Wertordnung, die es in der jeweiligen Gegenwärtigkeit zu verwirklichen gilt, gibt dem sittlichen Akt den wirklichen Ernst und die existentielle Schwere“ (ebda., S. 243). Der Anklang an die Werthaltung der historischen Situation ist unverkennbar, jetzt aber mit dem entscheidenden Akzent der persönlichen Verantwortung. Die Parole „Der Einzelne ist nichts, das Volk ist alles» wird nun als «der adäquate Ausdruck der heteronomen Gegenethik“ qualifiziert (ebda. S. 246).
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Bildet „die objektive Gültigkeit materialer ethischer Gebote … die Möglichkeitsvoraussetzung der Autonomie“ (ebda., S. 243), dann muss sich allerdings fragen, wie zu urteilen ist, wenn objektive Norm und subjektive Überzeugung auseinandergehen. Welzel hat sich deshalb immer wieder sehr intensiv, im Rückblick auf die Dogmengeschichte bis zu Aristoteles und vor allem Thomas von Aquin, mit der Frage des irrenden Gewissens befasst, ein erstes Mal schon anlässlich der praktischen Schwierigkeiten bei der juristischen Aburteilung von Untaten der NS-Zeit (1948 = Abhandlungen, S. 250 ff.), sodann monographisch (1949, pass.) und wiederholt auch in der Folgezeit (vgl. 1960 = Abhandlungen, S. 297 ff.). Dabei stand für ihn außer Zweifel, dass es eine überindividuelle Ordnung praktisch unmöglich machen würde, dem Gewissen prinzipiell den Vorrang vor dem Gesetz zu geben: „Es gibt nichts, in das der Mensch nicht sein Gewissen — und zwar ehrlich und ernsthaft — legen könnte“. Aber er sah den Vorrang des Gesetzes auch nur dort gerechtfertigt, wo es sich wenigstens als ein Versuch zu einer sozialen Ordnung darstellte, die die Billigung des Gewissens der Rechtsgenossen finden könnte (ebda., S. 312 f.), ähnlich dem „Probierstein der Rechtmäßigkeit“, den Kant im „Gemeinspruch“ formuliert hatte (153). Und er forderte, dass das Gesetz dort, wo es mit dem Einzelgewissen in Konflikt gerät, zwar eben nicht die Richtigkeit, wohl aber wenigstens die Gewissenhaftigkeit solcher Entscheidung in der Form einer nichtentehrenden Sanktion anerkennen sollte (1960, S. 313).
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Mit gleicher Dringlichkeit musste sich die Frage stellen, worin die objektiv gültige materiale Ordnung bestehen konnte, in der Welzel die Bedingung der Möglichkeit autonomen Handelns gesehen hat. Sie zu beantworten, war das Ziel seiner großen Darstellung der Geschichte des Naturrechts von ihren Anfängen in der griechischen Antike bis zu seiner Gegenwart, „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit“, erstmals erschienen 1951 (41962). Sie bildete in gewisser Weise den Abschluss der in den ersten Nachkriegsjahren vielfach unternommenen Bestrebungen zu einer „Renaissance des Naturrechts“. In ihren Hauptzügen gegliedert, war sie nach der Gegenüberstellung von intellektualistischen und voluntaristischen Konzeptionen, wie sie bereits Windelband in seiner Standardgeschichte der Philosophie (§ 26) vorgenommen hatte. Ihre von mancher Seite heftig angefochtene Bilanz bestand in der Zirkelhaftigkeit aller Naturrechtslehren: „Was die Naturrechtler an Wertvorstellungen in die Dinge hineingelegt haben, das holen sie hinterher als das ‹Natürliche› oder das ´Unnatürliche´ wieder aus ihnen heraus“ (1962, S. 241). Welzel sah Gesetzgeber wie Rechtsunterworfene daher, nicht anders als in seinen frühen Schriften mit dem Rekurs auf die „Werthaltungen der konkreten historischen Epoche“, auf die Aufgabe verwiesen, „eine richtige, gerechte Ordnung in der Zeit zu finden“ (Hervorhebung G.S.): „Recht kann immer nur der Deutungsversuch für eine richtige Sozialordnung unter den wechselnden Bedingungen unserer geschichtlichen Existenz sein“ (1964 = Abhandlungen, S. 357). Oder, anders formu liert, können uns „weder die Natur, noch die geschichtliche Entwicklung, weder Naturgesetze noch Geschichtsgesetze … bindende Aufschlüsse darüber geben, was in einer geschichtlichen Lage die richtige Sozialordnung ist“ (1966, S. 30 f).
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In dieser Perspektive bedurfte auch die Rechtsgeltung, der Verpflichtungsanspruch der jeweiligen Ordnung, einer tieferen Begründung. Welzel hat sich mit ihr wiederholt und eingehend befasst. Ihm genügte dabei nicht der vorherrschende Bezug auf die individuelle oder generelle Anerkennung rechtlicher Normen, die für ihn nur das reale Faktum erklärt, dass bestimmte Normen tatsächlich befolgt werden, nicht aber, warum sie befolgt werden sollen. Er wollte auf die Frage nach der Legitimität des Rechts nicht verzichten, auf das „Moment der Normativität“, ohne das es, nach seinen Worten, aufhört, Recht zu sein (1959 = 1975, S. 295 f.; 1966, S. 20 ff.). Um diesen Anspruch erheben zu können, muss es den Betroffenen, den es nur als Person verpflichten kann, auch als Person respektieren (1959 = 1975, S. 296; 1962, S. 239 f.). Faktische Anerkennung seiner Geltung bildet für Welzel zwar eine der Entstehungsvoraussetzungen positiven Rechts (1966, S. 19 f, S. 30). Aber seine Verpflichtungskraft hängt davon ab, dass es, wie er mit der Kant’schen Formel sagt, zugleich den kategorischen Imperativ wahrt, den Menschen niemals bloß als Sache, sondern stets zugleich als Endzweck zu behandeln (1975, S. 296). Das bedeutet, in Stichworten gesagt, dass der Prozess der staatlichen Willensbildung unter dem Prinzip der gegenseitigen Toleranz steht, das Recht sich auf das „ethische Minimum“ und auf die Grundzüge der Sozialinstitutionen beschränkt, die Gewissenhaftigkeit der abweichenden echten Gewissensüberzeugung, wie schon erwähnt, Berücksichtigung finden muss, u.a.m. (1962, S. 250 ff.; 1966, S. 31).
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Hervorgehoben zu werden verdient schließlich noch eine weitere der rechtsphilosophischen Thesen Welzels. Sie betrifft die von ihm so genannten „sachlogischen Strukturen“. Der Ansatz findet sich wiederum schon in einer seiner ersten Publikationen mit dem gesperrt gedruckten Satz: „Nicht hat sich der Gegenstand nach der Methode, sondern die Methode nach dem Gegenstand zu bestimmen“ (1930 = Abhandlungen, S. 3). Der „Gegenstand“, um den es ihm dabei in jahrzehntelangen heftigen Kontroversen in erster Linie gegangen ist, war der strafrechtliche Begriff der Handlung. Ihn vor allem wollte er von seinen „naturalistischen“ Missdeutungen befreien und, in Anlehnung insbesondere an Richard Hönigswald, als „sinnintentionales“, später „final“ genanntes Geschehen verstanden wissen, mit wesentlichen Konsequenzen für die Strafrechtsdogmatik. Den Kern seiner Lehre bildete der als solcher schwerlich bestreitbare Satz, dass der Gesetzgeber, wenn er mit der Strafe an menschliches Verschulden anknüpfen wolle, an die Voraussetzungen eines Schuldvorwurfs und damit an die Struktur entsprechenden Verhaltens gebunden sei, widrigenfalls seine Regelung „sachwidrig, widerspruchsvoll, lückenhaft, aber nicht ungültig“ werde (1953 = Abhandlungen, S. 286; 1962, S. 244; 1964 = Abhandlungen, S. 360 ff.). Diese Lehre wird bis heute vehement bestritten, offenkundig weniger in ihrem sachlichen Recht, als vor allem des mit ihr verbundenen Anspruchs wegen, einem strafrechtlichen Lehrgebäude gewissermaßen Ewigkeitswert zuzusprechen (vgl. Hassemer, 2004). Außer Frage sollte freilich stehen, dass es eben die für Welzel im Mittelpunkt seines Rechtsdenkens stehende Anerkennung des Menschen als Person war, aus der die von ihm verfochtenen „sachlogischen“ Konsequenzen folgen (Stratenwerth, 1957, S. 17 ff.). Insofern fügen sie sich mit seiner Grundeinstellung zu einer Einheit.
III. Bibliographie
Engisch, K., Hans Welzel, ZStW 90 (1978) S. 1.
Hassemer, W., „Sachlogische Strukturen“ — noch zeitgemäß?, in: Festschrift für Rudolphi, Neuwied 2004, S. 61.
Kant, I., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793/94], Werke ed. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 125 ff.
Kaufmann, Armin, Hans Welzel zum Gedenken, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, Köln/Berlin/Bonn/München, 1982, S. 279.
Loos, F., Hans Welzel (1904-1977) — Die Suche nach dem Überpositiven im Recht, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, S. 486 ff.
Sticht Oliver, Sachlogik als Naturrecht? Zur Rechtsphilosophie Hans Welzels (1904-1977), Paderborn/München/Wien/ Zürich 2000.
Stratenwerth G., Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“, Tübingen 1957.
—, Sachlogische Strukturen?, in: Festschrift für Jakobs, Köln/Berlin/München 2007, S. 663.
Tjong Z. U., Der Ursprung und die philosophische Grundlage der Lehre von den „sachlogischen Strukturen“ im Strafrecht, ARSP 54 (1968) S. 411.
Welzel H., Strafrecht und Philosophie, Kölner Universitätszeitung 1930, 5 = Erinnerungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 173 = Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, Berlin/New York 1975, S. 1 (zit.: Abhandlungen)
—, Kausalität und Handlung. ZStrW 51 (1931) S. 703 (= Abhandlungen, 7).
—, Über die ethischen Grundlagen der sozialen Ordnung, Südd. Juristenzeitung 1947, S. 410 (= Abhandlungen, S. 240).
—, Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, Südd. Juristenzeitung 1948, S. 368.
—, Vom irrenden Gewissen, Tübingen 1949.
—, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs [1928], Berlin 1958
—, Macht und Recht, in: Festschrift für Hugelmann, Bd. II, Aalen 1959, S. 833 (= Abhandlungen, S. 288).
—, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Festschrift für Niedermeyer, Göttingen 1953, S. 279 (= Abhandlungen, S. 274).
—, Gesetz und Gewissen, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Bd. I, Karlsruhe 1960, S. 383 (= Abhandlungen, S. 297).
—, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1951, 41962.
—, Vom Bleibenden und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft, Marburg 1964 (= Abhandlungen, S. 345).
—, An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung, Köln/Opladen 1966.
Windelband W., Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 18. Aufl. Tübingen 1993 (unveränderter Nachdruck der 6. Aufl. von 1912).
IV. Verwandte Themen
Handlung | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich | Naturrecht | Pufendorf, Samuel | Rechtspositivismus | Schuld | Smend, Rudolf | Strafe