Neue Beiträge
Asylrecht
Erstpublikation: 01.08.2019
- Einleitung: Asylrecht und Rechtsphilosophie
- Konzepte zur Ordnung des Stoffs: Juristische Begriffe von „Asylrecht“
- Asylrecht als Gegenstand praktisch-philosophischer Forderungen
- Gründe, die gegen ein Asylrecht vorgebracht werden
- Systematik der Gründe für die Forderung rechtlichen Schutzes
- Besondere Aufnahme-Pflichten bestimmter Staaten oder Staatengruppen
- Allgemeine humanitäre Hilfspflicht
- Hilfspflichten gegenüber schutzbedürftigen geflohenen Menschen
aa. Ziele und Stoßrichtung der Argumentation
bb. Ansätze zur Begründungsstruktur von Aufnahmepflichten als Hilfeleistung
cc. Hilfe als moralisches und als spezifisch rechtsphilosophisches Argument
dd. Unbestimmtheit der Existenz einer Pflicht zur Hilfeleistung
ee. Unbestimmtheit der Art der gebotenen Hilfeleistung - Hilfspflichten und das Verhältnis unter den zur Hilfe fähigen Staaten
- Hilfspflichten gegenüber schutzbedürftigen geflohenen Menschen
- Territoriale Gerechtigkeit und Menschenrecht
- Grotius: Aufnahme Heimatvertriebener, Asyl für unverdienterweise Verfolgte
aa. Aufnahme Vertriebener (Expulsi)
bb. Aufnahme Verbannter (Exules)
cc. Supplicum Jura et Asylorum Exempla: Asylrecht unverdienterweise Verfolgter
dd. Subjektives Recht auf Aufnahme und Auslieferungsschutz? - Christian Wolff: Iura Connata, Pflicht zur Wohlfahrtsförderung und Asyl
- de Vattel: Menschenrechtlicher Asylanspruch unter Vorbehalt
aa. Recht auf Asyl als unvollkommenes und vollkommenes Recht
bb. Genau definierter Straf- und Auslieferungsschutz als Rechte im Asyl - Immanuel Kant: Angeborenes Recht, rechtliche Hospitalität, Non-Refoulement
aa. Refoulement-Verbot
bb. Ethische Philanthropie und juridisches Weltbürgerrecht
cc. Vernunftprinzipien, ursprüngliches Individualrecht, ursprünglicher gemeinsamer Besitz
dd. Zurückhaltende Folgerung: Besuchsrecht, keine feindlichen Akte
ee. Grund der Verantwortlichkeit des Aufenthaltsstaats für Folgen des Refoulement: Anknüpfung an Zwangsakt
ff. Non-Refoulement und ursprünglicher Vertrag
gg. Kant und Figuren geltenden Rechts: Non-Refoulement, Recht auf Asyl, Rechte im Asyl, Umgang mit illegalem Aufenthalt
hh. Beschränkung auf Extremfälle (Untergang)?
ii. Aufnahme ohne Grenzberührung? Lastenteilung? - John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit, Differenzprinzip und Asyl
- Territoriale Gerechtigkeit als Verpflichtungsgrund bei Matthias Hoesch
- Asylrecht, Selbstverständnis und Legitimität der Existenz des Aufnahmestaats (insbesondere Nanda Oudejans)
- Begriff und Begründung eines Menschenrechts auf Asyl bei Bernd Ladwig
aa. Menschenrechtliche Begründung und Kritik geltenden Rechts
bb. Asylrecht und allgemeines Migrationsrecht
cc. Menschenrechte als auch politische Normen; Asyl als sekundärer Menschenrechtsschutz
dd. Flüchtlingsbegriff und Kreis Asylberechtigter
ee. Rechtsfolgen
ff. Arbeitsteilung und nicht ideale Bedingungen
gg. Asyl als Menschenrecht?
- Grotius: Aufnahme Heimatvertriebener, Asyl für unverdienterweise Verfolgte
- Bibliographie
I. Einleitung: Asylrecht und Rechtsphilosophie
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Der Ausdruck „Asyl“ steht zunächst für rechtlich anerkannte Einrichtungen von Schutz, der „Menschen vor dem Zugriff ihrer Verfolger zuteil wird“ (Traulsen 2004, S. 1), aber auch, hinsichtlich der Gefahrenquelle unspezifischer, für Schutz, der mit dem Erreichen einer Zufluchtsstätte, eines geschützten Bereichs oder eines Territoriums jenseits eines Gefahrengebietes verbunden ist (siehe genauer Artikel „Asyl“, Abschnitt II). Wurden anerkannte Formen asylrechtlichen Schutzes – zumeist als Ausnahme von einer sonst geltenden rechtlich-sozialen Ordnung konzipiert – schon früh auch als gefährlich, missbrauchsanfällig, systematisch unbefriedigend, als Hindernis einer effektiven Verfolgung politischer Ziele oder der Strafverfolgung oder als anderweitig problematisch angesehen, so erscheint es als umso bemerkenswerter, dass Forderungen eines rechtlichen Schutzes von Zufluchtsmöglichkeiten trotzdem immer wieder mit starker Evidenz haben Geltung beanspruchen können (zu historischen Gestalten des Asyls siehe Artikel „Asyl“ Abschnitt III m. w. N.). Insbesondere dort wo, wie oft, Menschen nach ihrer Flucht vor existenziell bedrohlicher Gefahr von anderen Menschen – vielleicht solchen in amtlicher Stellung – zurückgewiesen und ihnen eine sichere Zuflucht verwehrt wurde, verbanden sich Mitleid, Bedauern oder Empörung hierüber oft nicht nur mit Vorstellungen von moralisch verdienstlichen oder geschuldeten Hilfspflichten, sondern mit elementaren Fragen der Gerechtigkeit (Keil 2012, S. 264). So warfen konkrete Situationen existenzieller Bedrohung grundlegende rechtsphilosophische Fragen auf und drängten angesichts ihrer vor Augen stehenden Relevanz nach Beantwortung.
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Rechtsphilosophische Fragen können nach zwei Richtungen gestellt werden. Einerseits können sie sich, nur – oder primär – auf Erkenntnis und deskriptives Herangehen ausgerichtet, auf die Beschreibung dessen beziehen, was Recht als Recht oder, spezieller, rechtliches Asyl als solches auszeichnet. Einer solchen Herangehensweise geht es um die Beschreibung von Fragen, Prinzipien oder Strukturen, die notwendig, streng allgemein oder doch typischerweise mit rechtlichem Asyl assoziiert sind, ferner um die Bedeutung von Einstellungen, die seiner Erforschung zu Grunde liegen, für die so zu erwartende Erkenntnis (siehe dazu siehe Artikel „Asyl“). Andererseits kann rechtsphilosophische Arbeit normativ-präskriptiv auf das praktische Problem ausgerichtet sein, wie durchsetzbares und zwangsbewehrtes Recht gestaltet sein sollte, um als legitim, richtig und billigenswert Anerkennung zu verdienen. Geht es um das Asylrecht (II) und die spezifisch juristischen Gesichtspunkte der Einrichtung von Asyl in ihren verschiedenen Dimensionen, wird eine solche Herangehensweise sich auf die Diskussion präskriptiv-praktisch ausgerichteter Argumente zur Kritik oder Legitimation geltenden Asylrechts oder eines alternativen besseren Asylrechts einlassen. Letzteres soll in diesem Artikel versucht werden. Zur Vorbereitung und Annäherung an den Stoff wird an dieser Stelle mit Blick auf historische Erscheinungsformen rechtlich relevanten Asyls auf Abschnitt III des Artikels „Asyl“ verwiesen. Im Folgenden sollen einige erste, der Rechtsdogmatik entnommene begriffliche Instrumente zur Ordnung des Rechtsstoffs vorgestellt werden (II).
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Erst hiernach sollen philosophische Ansätze und Argumente erörtert werden, die zur kritischen Beurteilung der asylrechtlichen Rechtslage, insbesondere der Frage, ob, weshalb, inwiefern und in welcher Form es rechtliches Asyl geben soll, herangezogen werden können (III).
II. Konzepte zur Ordnung des Stoffs: Juristische Begriffe von „Asylrecht“
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Asylrechtliche Regelungen können unter verschiedenen Gesichtspunkten begrifflich geordnet werden.
1. Asylrecht als objektives Recht
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Asylrecht als objektives Recht bezeichnet die asylrelevante Rechtslage. Der objektiv-rechtliche Begriff des Asylrechts erfasst alle rechtlich geltenden Regelungen des Asyls, also etwa solcher, die den Zugang zum Asyl, die Voraussetzungen der Asylgewähr, die Feststellung der Asylberechtigung, den Status – die Rechtsstellung – der Antragstellerinnen und –steller einschließlich ihrer besonderen Rechte und Pflichten und oft Freiheitsbeschränkungen normieren, ferner solche, die das Asylverfahren bei Behörden und den gerichtlichen Asylprozess determinieren oder bestimmen, welche besonderen Rechte und Pflichten mit der bestandskräftigen Feststellung der Asylberechtigung verknüpft sind.
2. Asylrecht als Befugnis von Hoheitsträgern
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Asylrecht kann ferner als Befugnis von Staaten oder Hoheitsträgern zur Gewährung von Asyl zu Gunsten von Personen, die andern Staaten angehören beziehungsweise der Personalhoheit anderer Hoheitsträger unterstehen, verstanden werden.
a. Relevanz: Kein Völkerrechtsbruch, kein unfreundlicher Akt
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Die Bedeutung des Asylrechts bezieht sich dann vor allem auf das zwischenstaatliche völkerrechtliche Verhältnis: Mit der Befugnis geht einher, dass die Asylgewährung, soweit sie sich im Rahmen dieser Befugnis hält, nicht nur nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Schon vor Inkrafttreten des Gewaltsverbots der Charta der Vereinten Nationen eignete sich die Asylgewährung im Rahmen solcher Befugnis nicht als Rechtfertigungsgrund für Krieg (Diskussionskontext, in dem Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, S. 370 das Thema diskutierte; zu Berichten über bewaffnete Auseinandersetzungen über das Recht auf Achtung eines klösterlichen Asyls vgl. zum Beispiel den Krieg zwischen der Reichsstadt Reutlingen nebst Verbündeten und dem Herzogtum Württemberg, Reck 1970, S. 84 m. w. N.). Auch rechtfertigt die Asylgewährung keine nicht bewaffneten Gegenmaßnahmen (countermeasures im Sinne der von der International Law Commission angenommenen „Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts 2001“; das Gewaltverbot beachtende Repressalien im Sinne des früheren Sprachgebrauchs, vgl. etwa Tomuschat 1973, S. 185 f.), wie sie unter der Charta der Vereinten Nationen nicht prinzipiell unzulässig sind. Vielmehr gilt die Asylgewährung im Rahmen der völkerrechtlichen Befugnis auch nicht als unfreundlicher Akt, so dass sie keinen Anlass für eine Retorsion – einen reaktiven unfreundlichen Akt – gibt.
b. Territoriales Asyl (externes Asyl)
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Territoriales oder „externes Asyl“ stellt „ein Recht des Staates auf Zulassung eines fremden Staatsangehörigen zum eigenen Territorium dar, ohne daß dem Heimatstaat hieraus eine Sanktionsbefugnis wegen Verletzung der aus seiner Souveränität fließenden Personalhoheit erwächst. Eine solche Schutzgewährung bedeutet weder eine unfreundliche Handlung gegenüber dem Heimatstaat des Flüchtlings noch eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Staates“ (BVerwGE 69, 323, 326).
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Als historische Formen territorialer Asyle unter anderen rechtlichen Rahmenbedingungen wird man etwa die antiken Asylstädte oder – hinsichtlich der Rechtsverhältnisse zwischen Hoheits- und Rechtsträgern unterhalb des Kaisers – die im Mittelalter vom Kaiser verliehenen säkularen Asylprivilegien ansehen dürfen (vgl. Artikel „Asyl“ Abschnitt III.1.a und c sowie III.2.b). Von rechtshistorischer Seite wird allerdings betont, es passe die Unterscheidung zwischen internem und externem Asyl auf das komplexe Gefüge des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation zumindest dort nicht so recht, wo Asylorte mit eigenen Herrschaftsbefugnissen verbunden waren, unmittelbare Reichsstände aber auch nicht alle Charakteristika moderner Staatlichkeit aufwiesen (Härter 2003, S. 302).
c. Diplomatisches Asyl und internes Asyl
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Internes Asyl meint dagegen „Schutzgewährung an privilegierten Orten im Staatsgebiet des Verfolgerstaates (Botschaften, Konsulaten)“ (BVerwG, NVwZ 1984, S. 2782, 2783). „Diplomatisches Asyl“ bezieht sich auf die Vorstellung, eine diplomatische Vertretung des Entsendestaates habe die Befugnis, geflüchteten Personen auf dem Grundstück der Vertretung Schutz zu gewähren. Dies ist historisch oft geltend gemacht worden. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert war diplomatisches Asyl in Europa auf Grund der damaligen Vorstellung der Exterritorialität des Gesandtschaftsgebäudes und zeitweilig auch des Gesandtschaftsviertels eine zwischenstaatlich anerkannte Einrichtung (von Pollern 1980, S. 92 f.) – damals als externes Asyl (Härter 2003, S. 320). Die Befugnis, diplomatisches Asyl zu gewähren, wurde im 20. Jahrhundert zum Schutz elementarer Menschenrechte auch für Europa wiederholt gefordert (Bolesta-Koziebrodzki 1962, S. 346; Seeger 1969, S. 11 f.). Sie ist derzeit im allgemeinen Völkerrecht nicht anerkannt, kann aber gegebenenfalls auf Vertrags- oder regionales Gewohnheitsrecht gestützt werden (Shah 2007; ausführlich zu Lateinamerika von Pollern 1980, S. 99 – 114). Da diplomatische Vertretungen nach derzeit vorherrschenden Vorstellungen keine Exterritorialität besitzen, das Grundstück, auf dem sie sich befinden, also nicht dem Territorium des Entsendestaats, sondern jenem des Empfangsstaats zugeordnet ist (Shah 2007), handelt es sich um eine Form internen Asyls.
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Als nicht diplomatische, aber ebenfalls interne Asyle kommen historische, ortsgebundene sakrale Asyle (Altarasyle, Tempelasyle, Hainasyle, frühe Kirchen-Asyle) in Betracht (vgl. aber oben a. E. des Abschnitts lit. b.).
d. Neutrales Asyl
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Als „neutral asylum“ wird mitunter die von neutralen Staaten während bewaffneter Konflikte geübte Praxis der Aufnahme, Entwaffnung und Internierung Angehöriger der Streitkräfte Krieg führender Staaten bezeichnet (so Andreopoulos 2018; ähnlich McDougal/Feliciano 1994, S. 448), für deren Behandlung das Völkerrecht mindestens das Niveau des für Kriegsgefangene vorgesehenen Schutzes vorsieht (Artikel 4 B Absatz 2 des Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 12.08.1949, U.N.T.S. Bd. 75, S. 135).
3. Asylrecht als subjektives Recht von Individuen
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Asylrecht kann ferner subjektiv-öffentliche Rechte von Individuen bezeichnen: Gemeint sind dann einklagbare Ansprüche, mithin Rechte, die auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet sind.
a. Recht auf Asyl
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„Recht auf Asyl“ bedeutet dabei, dass das subjektiv-öffentliche Individualrecht, der Anspruch, auf den Zugang zu den schützenden Rechtsfolgen des Asyls gerichtet ist.
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So spricht das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz a. F. beziehungsweise Artikel 16a Grundgesetz vom „Grundrecht auf Asyl“ (z. B. BVerfGE 56, 216, 235; E 80, 315, 343; E 94, 49, 102), das „als subjektives öffentliches Recht“ (BVerfGE 56, 216, 235) im Sinne eines individuellen „Asylanspruchs“ (BVerfGE 56, 216, 235) ausgestaltet ist. Der Anspruch bezieht sich auf die Anerkennung (Gärditz 2018, Rn. 328) der Asylberechtigung durch einen „den Status feststellenden Formalakt“ mit „gleichsam konstitutiver Wirkung“ (BVerfGE 60, 253, 295). Aber in den Anspruch ohne Weiteres einbezogen sind solche Vorwirkungen wie das Recht auf effektive Durchführung eines Asylverfahrens, das Recht auf Einreise und Aufenthalt zur Durchführung eines solchen (Gärditz 2018, Rn. 342) und auf Nichtzurückweisung an der Grenze (Bergmann 2018, Rn. 9), hinsichtlich derer die spätere Asylanerkennung nur deklaratorische Wirkung zeitigt (Bergmann 2018, Rn. 16; ebenso mit Blick auf Non-Refoulement gemäß Artikel 33 Genfer Flüchtlingskonvention [U. N. T. S. Bd. 189, S. 150]: Christian Walter 2017, S. 16 f.; UNHCR 2011, S. 9 Abschnitt 28).
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Selbst soweit der subjektiv-rechtliche Charakter des Asylrechts aus Artikel 18 der Grundrechtecharta der Europäischen Union noch bezweifelt wird, dürfte anerkannt sein, dass Formulierungen wie „Recht auf Asyl“ (deutsche Fassung des Artikels 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2012/C 326/02) oder „right to asylum“ (englische Fassung derselben), als Wortlaut-Argument für sich genommen ein subjektives Recht nahelegen, wie es auch die systematische Position der Formulierung im Gefüge der Charta suggeriert (Gärditz 2018, Rn. 125).
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Der „ausdrücklich formulierte Individualanspruch auf Asyl“ (Christian Walter 2017, S. 7) war dem Wortlaut „right to … be granted asylum“ eines Vorentwurfs der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu entnehmen (UN Doc. A/285/Rev.1 vom 30.10.1948, Aufruf 28.07.2019), der sich am Ende der Verhandlungen aber nicht durchsetzte (s. u. lit. b).
b. Recht, Asyl zu suchen
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Die als Beschluss der Vollversammlung (General Assembly) der Organisation der Vereinten Nationen (Resolution 217 (III) vom 10. Dezember 1948) nicht unmittelbar rechtsverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sieht in ihrem Artikel 14 Absatz 1 ein „right to seek and to enjoy in other countries asylum from persecution“: ein Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen, vor. Das Recht, Asyl zu suchen, steht der Sanktionierung von Asylgesuchen sowie der Beeinträchtigung der Chance auf Asyl entgegen (Richter 2016, S. 54). Es wird teilweise verstanden als gegen den Herkunftsstaat gerichtetes Recht, ihn verlassen zu dürfen, um in anderen Ländern Asyl zu suchen (Ray 2013, S. 1239), dessen Rechtsverbindlichkeit dann andernorts, zum Beispiel im Grundrecht auf Ausreisefreiheit des Artikels 12 Absatz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, ihre Quelle hat (Boed 1994, S. 6). Weiter gehend, wird das Recht, Asyl zu suchen, teilweise als prozedurales Recht gegen den Zufluchtsstaat auf Prüfung des Begehrens (Goodwin-Gill/McAdam 2007, S. 368) aufgefasst.
c. Rechte im Asyl
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Als Rechte im Asyl werden solche subjektiven Rechte bezeichnet, die voraussetzen, dass sich ihre Inhaberin beziehungsweise ihr Inhaber bereits in der Reichweite des Asyls – zum Beispiel auf dem Territorium des asylgewährenden Staates – befindet. Wird der Status der Asylberechtigung in der Regel durch den Anerkennungsbescheid festgestellt und die Rechtsverwirklichung größtenteils so in Gang gesetzt (BVerfGE 60, 253, 295), so hat er mit Blick auf Vorwirkungen (Nichtzurückweisung an der Grenze, Durchführung eines Anerkennungsverfahrens, akzessorische Rechte wie vorläufiger Aufenthalt) lediglich deklaratorische Wirkung.
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Für die derzeitige Rechtslage ergeben sich relevante subjektive Rechte in der Bundesrepublik Deutschland teilweise aus einer Auslegung des Artikels 16a des Grundgesetzes sowie aus Regelungen des Aufenthaltsgesetzes und des Asylgesetzes, für die Europäische Union aus Artikeln 20 – 34 der Richtlinie 2011/95/EU, vor allem aber aus Artikeln 12 bis 34 der 1951 in Genf unterzeichneten Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtinge (U. N. T. S. Bd. 189, S. 150) in Verbindung mit dem 1967 vereinbarten Zusatzprotokoll von New York (U. N. T. S. Bd. 606, S. 267) und den innerstaatlichen Zustimmungs- und Transformationsgesetzen.
III. Asylrecht als Gegenstand praktisch-philosophischer Forderungen
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Asylrecht und rechtlicher Schutz vor existenziellen Gefahren geflohener Menschen waren seit alters her Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Hier interessieren praktisch-philosophische Argumente: solche, die zur kritischen Prüfung mit dem Ziel der Fundierung einer rechtspolitischen Missbilligung oder Billigung rechtlicher Regelungen oder ihres Fehlens vorgebracht werden.
1. Gründe, die gegen ein Asylrecht vorgebracht werden
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Soweit normativ-präskriptive Argumente gegen eine philosophische Begründung rechtlich zu realisierender moralischer Schutz- und Aufnahmepflichten vorgetragen wurden, siehe Artikel „Asyl“ Abschnitt V.
2. Systematik der Gründe für die Forderung rechtlichen Schutzes
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Joseph H. Carens stellt eingangs des Kapitels „Refugees“ in seinem Werk „The Ethics of Immigration“ heraus,
- „[c]ontemporary reflection about refugees begins in the shadow of the Holocaust. In discussing the topic of refugees, we should remember one fundamental truth: Jews fleeing Hitler deserved protection, and most of them did not get it“ (Carens 2015, S. 192) – die
- „Reflexion der Gegenwart über geflüchtete Menschen beginnt im Schatten des Holocaust. Wenn wir das Thema geflohene Personen diskutieren, sollten wir uns an eine grundlegende Wahrheit erinnern: Juden, die vor Hitler flohen, verdienten Schutz und die meisten unter ihnen erhielten ihn nicht“ (Übers. R. K.).
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Carens vergegenwärtigt so für unsere Zeit, dass die Diskussion auf konkrete, global wahrgenommene, gravierende Verletzungserfahrungen antwortet.
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Allgemeiner nennt Carens sodann drei Gruppen von Gründen für die Begründung einer Pflicht, geflohene Menschen aufzunehmen: „causal connection, humanitarian concern, and the normative presuppositions of the state system“ (Carens 2015, S. 195): ursächliche Verbindung, humanitäre Sorge und normative Voraussetzungen des Staaten-Systems. Dem ähnlich ordnet Matthias Hoesch (2016, S. 16) Gründe für Pflichten gegenüber Flüchtlingen drei Gruppen zu, wobei er dort („Mindestens“) offen lässt, ob es weitere Gründe gibt:
- "eine allgemeine Hilfspflicht,
- eine Verpflichtung aus dem Prinzip territorialer Gerechtigkeit und
- Wiedergutmachungspflichten.“
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Teilweise (Walzer 2006, S. 89) wird stattdessen die dritte Gruppe als eine solche von Gründen für besondere Pflichten auf Grund einer spezifischen Verbindung oder Affinität gebildet, innerhalb derer dann Wiedergutmachung als eine Variante gilt.
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In diesem Artikel sollen der Vollständigkeit halber zunächst Begründungsansätze für besondere Aufnahme-Pflichten, sodann solche einer allgemeinen humanitären Hilfspflicht und hiernach solche territorialer Gerechtigkeit besprochen werden.
3. Besondere Aufnahme-Pflichten bestimmter Staaten oder Staatengruppen
- [Dieser Abschnitt beruht auf einer Passage in einem Aufsatz des Verfassers, der unter dem Titel „Unparteilichkeit und Universalität: Taugliche Kriterien für das Maß an Offenheit territorialer Aussengrenzen für Flüchtlinge und Immigration?“ im ARSP-Beiheft 128, 2012, S. 263 – 276 erschien.]
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In seinem Werk „Sphären der Gerechtigkeit“ kennt Michael Walzer drei Gründe für Aufnahmepflichten. Für Fälle des Refoulement deutet er eine Verantwortlichkeit an, die durch eigene Gewaltanwendung „gegen hilflose und verzweifelte Menschen“ (Walzer 2006, S. 92) bei der Zurückschiebung beziehungsweise Abschiebung begründet zu werden scheine. Mit ihr befasst er sich nicht genauer. Vage formuliert er auch eine allgemeine zwischenmenschliche Pflicht zur wechselseitigen Hilfeleistung (Walzer 2006, S. 89 und 92) als Grund einer Aufnahmeverpflichtung. Ausführlicher diskutiert Walzer dagegen Gründe, die eine Aufnahmepflicht auf eine besondere Affinität, Verwandtschaft oder spezifische Verbindung zu den fliehenden Menschen zu einer Verbindlichkeit verdichten (vgl. hierzu Kirste 2018, S.147 – 152).
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Walzer betont, er habe, anders als es Kontroversen um sein Buch nahe legten, nicht meta-ethische Fragen um Universalismus oder Relativismus diskutieren wollen, sondern praktische und programmatische politische Fragen der Verteilung (Walzer 2006, S. I). Es gebe Fragen, die so beantwortet werden könnten, dass die Berechtigung der Antwort „für die gesamte Welt erkennbar und einsichtig“ (Walzer 2006, S. III) sei. So verhalte es sich etwa beim „Einsatz von militärischer Gewalt zur Beendigung eines Massakers“ (Walzer 2006, S. II f.), nicht aber dort, wo über die Verteilung von Gütern gesprochen werde. Denn hier sei die „Bedeutung von speziellen Gütern für spezielle Personengruppen“ relevant (Walzer 2006, S. III). Walzer verfolgt, ausgehend von einer „Theorie der Güter“ (Walzer 2006, S. 30 – 36) mit seinem Konzept der Sphären der Gerechtigkeit das universelle Ziel, dass kein gesellschaftliches Gut als Mittel der Beherrschung dient (Walzer 2006, S. 19). Nur eine „radically particularist“ (Walzer 1983, S. XiV) oder „streng subjektive“ (Walzer 2006, S. 20) Argumentation erscheint ihm für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit angemessen. Wer fest auf dem Boden gesellschaftlichen Tatsachen stehe und von hier aus argumentiere, stelle fest, dass gesellschaftlich geteilte „Bedeutungen“ (Walzer 2006, S. 20) zur „Konzeption und Erzeugung“ von Gütern (Walzer 2006, S. 32) und zur je eigenen Gewinnung individueller Identität (Walzer 2006, S. 33) führten. Unterschiedlichen Gütern entsprechen nach Walzer unterschiedliche Gerechtigkeitssphären mit spezifischen Verteilungskriterien, deren Übertragung unangemessen sein kann (Walzer 2006, S. 35 f. mit Beispielen wie Ämterkauf, Bestechung, Prostitution).
a. Aufnahme als Akt der Iustitia Commutativa
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Die Aufnahme von Menschen, die im Rahmen freiwilliger Migration oder zwangsweise erfolgter Flucht Zugang wünschen, behandelt Walzer beim Gut der Mitgliedschaft (Walzer 2006, S. 65 – 107), das er als das „erste und wichtigste Gut“ (Walzer 2006, S. 65) bezeichnet. Dabei hänge die von uns praktisch zu gebende Antwort auf die Frage: „Wem gewähren wir Aufnahme?“ (Walzer 2006, S. 66) von unserem Verständnis ab, „was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen“ (Walzer 2006, S. 66). Diese Erwägungen beziehen sich auf die Distribution (Walzer 1982, S. 33: „distribution“; Walzer 2006, S. 68: „Vergabe“) von Mitgliedschaft. Walzer fasst sie aber nicht mit Kategorien der Iustitia Distributiva auf. Denn das „Konzept der distributiven Gerechtigkeit setzt eine festumgrenzte Welt voraus, innerhalb deren Güter zur Verteilung gelangen“ (Walzer 2006, S. 65). Wo Walzer Fragen der Aufnahme von Menschen, die aus einer Notlage heraus immigrieren möchten, nicht ganz jenseits der Reichweite von Kategorien der Gerechtigkeit verhandelt und solchen der Selbstbestimmung und „Mildtätigkeit“ (Walzer 2006, S. 69) zuordnet, bespricht er sie – ohne den Ausdruck einzusetzen – zumeist so, dass sie einem Konzept der Iustitia Commutativa, der ausgleichenden Gerechtigkeit, oder einem ihm ähnlichen Gerechtigkeitskonzept zuzuordnen sind (Keil 2012, S. 267). Ausgleichende Gerechtigkeit ist im Rahmen von Vertragsverhältnissen oder dort von Bedeutung, wo aus der Verletzung einer Person durch eine andere Pflichten hergeleitet werden (Aristoteles 1985, Buch V, 5. Kapitel, 1131a, S. 106); sie zielt darauf, die Gleichheit der beiden Parteien zur Geltung zu bringen und wieder herzustellen (David Miller 2017, S. 11). Dem ähnlich stellt Walzer für besondere Aufnahmepflichten ebenfalls entweder auf eine Verletzungshandlung oder auf Erwartungen einer besonderen Verbindung und letztlich auf Gleichheit ab.
b. Verpflichtungsgrund Kompensation
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So formuliert Walzer für eine erste Gruppe:
- „Manchen Flüchtlingen gegenüber können wir durchaus die gleichen Pflichten haben wie unseren eigenen Mitbürgern gegenüber. Das gilt ganz eindeutig für jedwede Gruppe von Personen, die durch unser Zutun, durch unsere Mithilfe zu Flüchtlingen geworden sind. Das Unrecht, dass wir ihnen zugefügt haben, hat eine gewisse Affinität zwischen ihnen und uns zur Folge; so waren die vietnamesischen Flüchtlinge de facto bereits amerikanisiert, ehe sie die Küsten Amerikas erreichten“ (Walzer 2006, S. 89).
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Ähnlich diesem ersten Argument für Aufnahmepflichten fasst Matthias Hoesch seinen dritten „Verpflichtungsgrund: Wiedergutmachung“ „gegenüber denjenigen, denen wir zuvor in irgendeiner Weise Schaden zugefügt haben“ und nennt als Beispiel die auf seiner Basis erfolgte „Aufnahme russischer Juden in Deutschland seit den 1990er Jahren“ (Hoesch 2016, S. 21). Dieser Verpflichtungsgrund zeichnet sich durch zwei Charakteristika aus. Zum einen sind so begründete Pflichten beschränkt auf die Relation zwischen verletzender Gesellschaft und den genauer bestimmten verletzen Menschen. Zum zweiten können Wiedergutmachungsansprüche „unabhängig davon, ob eine Notsituation vorliegt!“ (Hoesch 2016, S. 21), bestehen. Während sich die beiden genannten Beispielgruppen mit Blick auf Gläubiger und Schuldner recht klar eingrenzen lassen, gilt dies für weitere bei Hoesch angeführte Beispiele nicht in gleichem Maße. Wie bereits seit Jahrzehnten üblich, benennt Hoesch hier auch das globale Wirtschaftssystem, konkretisiert durch das TRIPS-Abkommen, soweit es durch konkrete Regelungen dazu beitrage, dass arme Länder ihre Armut nicht überwinden könnten. Soweit Industriestaaten durch seine Errichtung und Erhaltung „den Entwicklungsstaaten systematisch Schaden“ zufügten, könne von ihnen Wiedergutmachung des Schadens durch Aufnahme von Armutsflüchtlingen erwartet werden, „wenn sie keine anderen Kompensationsmaßnahmen ergriffen haben“ (Hoesch 2016, S. 21). Ferner führt Hoesch die Mitverantwortung vieler potentieller Aufnahmestaaten für Ausbruch und Eskalation von Bürgerkriegen an, für die das globale Finanzsystem, Außenpolitik und Waffenhandel eine Rolle spielten (Hoesch 2016, S. 22). Schließlich weist Hoesch, auch darin früheren Äußerungen anderer zur Verantwortung für Umweltflüchtlinge (Carens 2015, S. 195) folgend, auf den überdurchschnittlich großen Beitrag von Industriestaaten zum Klimawandel hin, der dafür kausal sei, dass Gebiete unbewohnbar geworden sind oder werden. Er begründe Wiedergutmachung, die durch die Aufnahme von Klimaflüchtlingen erfolgen könne (Hoesch 2016, S. 22). Bei den Beispielen des internationalen Wirtschaftssystems, schädlichen Waffenhandels, schädlicher Außenpolitik oder Beiträgen zu Umweltproblemen können Kausalitäten und Verantwortlichkeiten mitunter konkret ausgemacht werden; zumeist wird dies dagegen nur eher abstrakt möglich sein, was oft eine gemeinsame Verantwortlichkeit und gemeinsame Handlungspflichten nahe legt (Parekh 2018, S. 125). Je mehr dies zutrifft, in desto größerem Maße ähneln die Problemlagen jenen, die entweder bei Hilfspflichten oder bei territorialer Gerechtigkeit zu diskutieren sind; je genauer sich Kausalitäten benennen und bestimmen lassen, desto stärker wird das Gewicht einer Argumentation für weitergehende spezifische Kompensationspflichten.
c. Ideologische Nähe
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Walzer äußert ferner, auch ideologische Nähe könne Bindungen erzeugen, vor allem, wenn seitens der potentiellen Aufnahmegesellschaft Männer und Frauen anderer Gesellschaften angespornt würden, bestimmte Prinzipen ebenfalls zu verfechten. Beispielhaft bezieht sich Walzer auf die gescheiterte Erhebung in Ungarn 1956. Die Struktur des Kalten Krieges und die im Westen erfolgte öffentliche Bekundung von Sympathie scheine nach Niederschlagung des Aufstands gegenüber politischen Weggefährten eine besondere Hilfsverpflichtung begründet zu haben, die nicht in gleicher Weise begründet gewesen wäre, wenn die Erhebung erfolgreich gewesen und zur Flucht von Stalinisten geführt hätte (Walzer 2006, S. 89 f.).
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Mit einer solchen Herangehensweise setzt sich Walzer dem Verdacht aus, er vertrete etwas, das in der Nähe dessen liege, was Michael Anderheiden (2018, S. 35 f.) als despotisches Asyl bezeichnet und beschrieben hat: Aufnahme auf Grund der manifest gewordenen inhaltlichen Ausrichtung politischen Denkens Verfolgter als jeweilige Gesinnungsgenossen mit besonderer, über das Minimum, das der republikanische Gedanke verlange, hinausgehender geistiger Verbindung zum aufnehmenden Gemeinwesen. Deshalb stellt sich hier die Frage, inwiefern aus dem beschriebenen Befund des tatsächlichen Funktionierens von Solidaritätsbekundungen eigenständige normative Gründe aufscheinen. Soweit es sie gibt, werden sie vermutlich entweder einer vertraglich begründeten Erwartung – Sympathiebekundung als Ursache für die Erwartung tragfähiger Solidarität im Falle eines Scheiterns – oder solchen Argumenten ähneln, die sonst Kompensation begründen – Mitursächlichkeit für manche der Aktivitäten, die später verfolgt wurden, und für den zu Grunde liegenden Konflikt. Wenn aber Flüchtlinge im Herkunftsstaat schwer wiegende Gefahren zu gewärtigen hatten, dürften die Gründe mit Fragen territorialer Gerechtigkeit verbunden sein und die Antworten auf sie konkret modifizieren.
d. Ethnische Verwandtschaft
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Walzer meint ferner, auch „ethnische Verwandtschaft“ könne Bindungen über politische Grenzen hinaus erzeugen und zu Hilfspflichten gegenüber Menschen führen, die verfolgt oder unterdrückt würden, „weil sie sind wie wir“ (Walzer 2006, S. 89). Als Beispiele für so begründete besondere Aufnahmepflichten führte Walzer für die Zeit nach der brutalen Auseinandersetzung, zu der es im Laufe des Zerfalls des Osmanischen Reichs und kurz darauf kam, die Aufnahme aus der Türkei vertriebener ethnischer Griechen in Griechenland und aus Griechenland vertriebener ethnischer Türken in der Türkei an sowie die Aufnahme von ethnisch Deutschen, die aus östlichen Nachbarländern vertrieben wurden, in beiden Teilen Deutschlands nach dem II. Weltkrieg. Walzer äußert hierzu, selbst „wenn diese beiden Staaten keinerlei Verantwortung für die Vertreibung getragen hätten, wären sie den Flüchtlingen gegenüber immer noch in besonderer Weise verpflichtet gewesen“ (Walzer 2006, S. 79 f.). Walzer unterscheidet dabei nicht zwischen vertriebenen Staatsangehörigen des Aufnahmestaats und Menschen, die seiner Bevölkerungsmehrheit nur ethnisch nahe stehen (Pontos-Griechen, Status-Deutsche), meint aber ersichtlich auch Letztere.
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Nur wenige Hinweise finden wir dazu, wie diese besondere Verantwortung sich auswirkt, insbesondere ob sie, wie bei Hoesch die mit Kompensation begründete, zu geringeren Anforderungen an die Gefährdung der Aufzunehmenden führt als sie sich aus allgemeinen humanitären Hilfspflichten, menschenrechtlichen Erwägungen oder solchen territorialer Gerechtigkeit ergäben. Für Walzer scheinen sie vor allem bei der Modifikation oder bei der genaueren Bestimmung der konkreten Relevanz anderweitiger Verpflichtungsgründe wirksam zu werden: Wie die ideologische Nähe, so scheint auch die „engere Beziehung zu unserer Lebensweise“ im Falle der Überforderung bei Aufnahme aller dringend Hilfsbedürftiger als ergänzendes Kriterium bei der Auswahl (Walzer 2006, S. 90) zu fungieren.
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Ob dies als eigentlich normatives Kriterium überzeugen kann, erscheint indes als zweifelhaft. Im Rahmen internationaler Lastenteilung mag man solchen Gesichtspunkten eine pragmatische Bedeutung zuschreiben, etwa auf Basis der Annahme, Erwartungen hinsichtlich Verständigungsmöglichkeiten, Konfliktlösung, der Erfolge beim autonomen Zusammenleben mit den bereits länger ansässigen Menschen in der Aufnahmegesellschaft und Ähnliches seien möglicherweise etwas günstiger als bei anderen Gruppen. Der eigentlich normative Kern der spezifischen Verantwortung Deutschlands für Status-Deutsche, der besonderen Verantwortung Griechenlands für aus der Türkei vertriebene ethnische Griechen oder der Türkei für aus Griechenland vertriebene Angehörige der türkischen Ethnie dürfte dagegen bereits mit Kompensation (oben lit. b.) angesprochen sein. So wurden ethnisch Deutsche in Staaten Ostmitteleuropas und Osteuropas, die während des II. Weltkriegs von der Wehrmacht überfallen worden waren, oft in Kollektivhaftung genommen für das extreme Leid, das der Bevölkerung dort zuvor im Namen Deutschlands angetan worden war.
4. Allgemeine humanitäre Hilfspflicht
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Häufig wird in der politisch-ethischen Diskussion eine allgemeine humanitäre Hilfspflicht geltend gemacht, deren Begründung mitunter auf ein „Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung“ (Walzer 2006, S. 92) getützt wird und die auf die existenzielle Not von Menschen zielt. Sie dient für manche Fallgruppen der Begründung von Aufnahmepflichten. Nicht immer, aber oft dient die Annahme einer allgemeinen humanitären Hilfspflicht als Argument für die Forderung ihrer juristischen oder rechtspolitischen Absicherung durch eine Rechtspflicht zur Aufnahme sowie durch korrespondierende subjektiv-rechtliche Grund- und Menschenrechte. Dabei ist für Begründung und Ausmaß der Pflichten zu unterscheiden zwischen einerseits dem Verhältnis zwischen Einzelnen und Staaten zu schutzbedürftigen geflüchteten Menschen und andererseits dem Verhältnis unter den Helfenden: Einzelmenschen wie Staaten.
a. Hilfspflichten gegenüber schutzbedürftigen geflohenen Menschen
aa. Ziele und Stoßrichtung der Argumentation
-
„Aus normativer Perspektive ist die Beschränkung der staatlichen Aufnahmepflicht auf territorial anwesende Flüchtlinge … nicht zu rechtfertigen“ (Brezger 2016, S. 61 f.).
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Mit der so formulierten Stoßrichtung einer Argumentation mit Hilfspflichten scheint eine Problematik auf, die sich etwa wie folgt formulieren lässt: Rechtliche Refoulement-Verbote beziehungsweise juristisch garantierte Asylrechte seien häufig darauf beschränkt, erst dann Schutzpflichten gegenüber schutzbedürftigen geflüchteten Menschen zu generieren, wenn eine besonders qualifizierte Berührung mit dem staatlichen Hoheitsgebiet (Anwesenheit auf dem Territorium, eventuell an der Außengrenze, auf unter staatlicher Hoheit befindlichem Schiff in internationalen Gewässern) erreicht worden sei. Ein von der Berührung des Hoheitsgebietes abhängig gemachtes Asylrecht oder Non-Refoulement setze bei solcher Beschränkung nicht am Grad der Schutzbedürftigkeit an, sondern es begünstige diejenigen, die das Vermögen, die körperliche Konstitution, die gesellschaftliche Stellung und das Glück hätten, zu reisen und eine solche Reise zu überleben. Dies sei ungerecht und setze zudem Fehlanreize (Gesang 2016, S. 93). Wer den eigentlich normativen Kerngedanken von Pflichten gegenüber Flüchtlingen von der Schutzbedürftigkeit her entwickele, werde deshalb den Blick auch auf Aufnahmepflichten oder andere Hilfspflichten gegenüber solchen Menschen richten müssen, bei denen es noch nicht zu einer Berührung mit dem Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats gekommen sei (vgl. Gesang 2016, S. 93; Brezger 2016, S. 61 f.; Peter Singer 2017b, S. 251 f.). Teilweise wird darüber hinaus diskutiert, ob es auch Pflichten gegenüber jenen gibt, die zwangsweise den Staat ihrer Staatsangehörigkeit verließen, sich jetzt in einem Drittstaat befinden – vielleicht langfristig in einem Flüchtlingslager ohne jede Zukunftsperspektive außerhalb desselben – und deren Ausschluss von einer Aufnahme gerechtfertigt ist (Parekh 2018, S. 76).
- „Grundsätzlich gilt, dass nicht die Art der Notlage für die Frage relevant ist, ob geholfen werden muss, sondern ihre Schwere. Es geht also aus moralischer Perspektive nicht um die Frage, ob jemand politisch verfolgt wird oder unter einer Hungernsnot leidet, sondern um die Frage, ob menschliche Grundbedürfnisse akut bedroht sind“ (Hoesch 2016, S. 17; ähnlich schon Shacknove 1985, S. 277, ferner Twele 2016, S. 30 f.; Fisch 2017, S. 41).
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So gelten als weitere Angriffspunkte einer auf Hilfspflichten gestützten Kritik Beschränkungen, die Schutz nur vor Gefahren oder Notlagen vorsehen, die näher qualifiziert sind. Solche Qualifizierungen kommen im geltenden Recht häufig vor. So gibt es etwa die Beschränkung des Asylrechts auf politisch Verfolgte (Artikel 16a Absatz 1 Grundgesetz) oder auf Personen, die wegen Handlungen zur Förderung der Freiheit (Satz 1 der Präambel der Verfassung der Französischen Republik vom 4.10.1958 i. d. F. des Änderungsgesetzes vom 23.7.2008 in Verbindung mit Abschnitt 4 der Präambel der Verfassung vom 27.10.1946) verfolgt werden. Non-Refoulement-Schutz ist teilweise beschränkt auf Menschen, die wegen begründeter Furcht vor Verfolgung aus Gründen einer unterstellten Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Meinung außerhalb des Landes ihrer Staatsangehörigkeit Schutz begehren (Artikel 1 A Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 33 Genfer Flüchtlingskonvention). Andernorts ist er nur vorgesehen für Fälle, in denen stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person Gefahr liefe, gefoltert zu werden (Artikel 3 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung vom 10.12.1987, BGBl 1990 II, S. 246, U.N.T.S. Bd. 1465, S. 85).
bb. Ansätze zur Begründungsstruktur von Aufnahmepflichten als Hilfeleistung
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Allgemeine humanitäre Pflichten zu aktiver Hilfe pflegen für Situationen begründet zu werden, in denen:
- einander zwei Personen ohne besondere Beziehung („zwei Fremde“, Walzer 2006, S. 67) oder eine Person und eine Personengruppe (vgl. zur Übertragbarkeit auf ein Kollektiv Walzer 2006, S. 67; Nida-Rümelin S. 154 – 156) als Fremde begegnen,
- eine der Personen oder Personen-Gruppen in Not ist,
- eine oder mehrere der anderen Personen helfen kann und
- Hilfe zumutbar ist.
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Als vorgestellte Orte der Begegnung pflegen solche genannt zu werden, die keine schon vor der Notsituation existente Beziehung nahe legen („auf See oder in der Wüste oder … am Straßenrand“, Walzer 2006, S. 67).
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Zur Illustration von humanitären Hilfspflichten pflegen beispielhaft vor allem die folgenden Situationen und Varianten davon ausgemalt zu werden: Teilweise (Walzer 2006, S. 67; Gibney 2004, S. 231) wird auf die Geschichte vom guten Samariter (Lukas 10, 25 – 35) Bezug genommen, in der der nicht rechtgläubige und fremde Samariter dem halbtot am Straßenrand liegenden Opfer eines Raubüberfalls hilft, indem er seine Wunden pflegt, ihn zu einer Unterkunft bringt und für die Kosten dort aufkommt. In Äußerungen der frühen Neuzeit wurden als Beispiele dafür, wie eine allgemeine Hilfspflicht relevant werden könne, insbesondere, wenn sie keine Opfer verlangt, etwa genannt: „Gewährung des Zutritts zu fließendem Wasser, daß sich jemand Feuer holt, dem Unschlüssigen einen Rat erteilen und dem Verirrten freundlich den Weg zeigen. Ebenso ist es, wenn jemand eine Sache nicht länger besitzen will … warum soll er sie dann nicht lieber unversehrt lassen … und sie so anderen … zum Gebrauch überlassen?“ (Pufendorf, zitiert nach Luig 2002, S. 259). Für die Diskussion von Hilfspflichten speziell gegenüber Flüchtlingen wurden oft (Brezger 2016, S. 62; Hoesch 2016, S. 17, 19 und 25; Peter Singer 2016, S. 179) verschiedene Varianten der Vorstellung angeführt, es sei ein Kind in einen seichten Teich gefallen und drohe zu ertrinken; ein Spaziergänger, der leicht dorthin waten oder schwimmen könne, sei in der Nähe und im Stande es zu retten.
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Die verschiedenen Ansätze unterscheiden sich bezüglich der Tatbestandsmerkmale zu Ziffer 2 (Not), vor allem aber jener zu Ziffer 4 (Zumutbarkeit).
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Was jene Not betrifft, die eine Hilfspflicht auslösen kann, geht der Singer’schen Interessen-Präferenz-Utilitarismus besonders weit. Da ihm zufolge den Interessen aller Personen prinzipiell gleiches Gewicht zuzumessen ist, soweit sich nicht aus unterschiedlicher Intensität oder Dringlichkeit anders ergibt (Peter Singer 2013, S. 52 – 55; Peter Singer 2017a, S. 71), sind die Interessen von Zuwanderungswilligen – zum Beispiel geflohenen Menschen – und jene der Einwohnerinnen und Einwohner des potentiellen Aufnahmelands gegeneinander abzuwägen. Prüfungsschritte 2 und 4 im Sinne der oben bezifferten Tatbestandsvoraussetzungen sind also zusammen zu prüfen (Peter Singer 2017a, S. 69 – 76): Schon bei der Bestimmung der Not kommt hier auch die Frage der Zumutbarkeit in den Blick: Ist die Not sehr groß und die zur Hilfe notwendige Beeinträchtigung der Interessen der Einwohner der Aufnahmegesellschaft schon deshalb vergleichsweise gering, so ist zu helfen, aber ebenso, wenn zwar ein nicht besonders gewichtiges oder dringendes Interesse an der Immigration besteht, dabei aber die Beeinträchtigung der Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft noch geringeres Gewicht hat (vgl. zu Singer Artikel Artikel „Asyl“ Abschnitt V.2).
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Häufig wird der Sache nach mit dem Prinzip der Innoxia Utilitas (dazu grundlegend Luig 2002; kurz Luig 2012), dem Grundsatz des unschädlichen Nutzens, gearbeitet. Gemeint ist damit das Postulat, wonach Hilfspflichten zumindest bestehen, wenn Hilfe nützt, für Helfende aber keinen signifikanten Nachteil mit sich bringt. Wer Hilfspflichten hierauf stützt, wird, wenn sich die Belastung in engen Grenzen hält, die Not, die eine Pflicht begründet, nicht nur in Extremfällen für bedeutsam halten. Leibniz, der sich nach Grotius und Pufendorf mit diesem Grundsatz befasste, betonte, dafür, dass es sich nicht bloß um eine Frage des Wohlwollens handele, sondern jemand gehalten sei zu helfen, sei maßgeblich, ob nach Lage der Dinge von der Bereitschaft zu Wechselseitigkeit auszugehen sei (Leibniz, Entwürfe zu den Elementen des Naturrechts, in: Leibniz 2003, S. 91 – 320, insbes. S. 165 – 167). Gerade in der konzeptionellen Betonung der Reziprozität liegt Leibniz‘ Formulierung nahe an dem Wenigen, was Michael Walzer zum Prinzip gegenseitiger Hilfe ausformuliert hat (Walzer 2006, S. 67 f.). Walzer selbst kann sich die Pflicht allerdings nur vorstellen, wenn die Hilfe „von einer der Parteien benötigt oder gar dringend gebraucht wird“ (Walzer 2006, S. 68) und formuliert mit Blick auf geflohene Menschen eher zurückhaltend: „Im Extremfall ist der Asylanspruch praktisch unabweisbar“ (Walzer 2006, S. 91). Für die Flüchtlingsdiskussion dreht sich der Hilfsgedanke zumeist darum, „ob menschliche Grundbedürfnisse akut bedroht sind“ (Hoesch 2016, S. 17) oder jemand am Herkunftsort einer Bedrohung eigener essentieller „Interessen ausgesetzt ist und aus diesem Grund an einem fremden Ort Zuflucht sucht“ (Twele 2016, S. 30). Auch Matthew J. Gibneys Prinzip des Humanitarianism kann wohl als eine der Lehren der Innoxia Utilitas eingeordnet oder doch zumindest als eng mit ihnen verwandt bezeichnet werden. Gibney formuliert zur Definition des Prinzips:
- „Humanitarianism can be simply stated: the principle holds that states have an obligation to assist refugees when the costs of doing so are low. This responsibility recognises, like impartial theories, the existence of duties that stem from membership in a single human community. However, it is less comprehensive in scope than most impartial theories – specifying duties only to those in great need“ (Gibney 2004, S. 231).
- „Humanitarismus kann einfach gefasst werden: Nach dem Grundsatz haben Staaten eine Verpflichtung, Flüchtlinge zu unterstützen, wenn die Kosten, dies zu tun, gering sind. Diese Verantwortung erkennt, wie [hinsichtlich der Berücksichtigung der Interessen aller betroffener Menschen, R. K.] unparteiische Lehren, das Bestehen von Pflichten, die von der gemeinsamen Mitgliedschaft in einer einzigen menschlichen Gemeinschaft herstammen, an. Sie ist indes weniger umfassend in ihrer Reichweite als die meisten unparteiischen Lehren – indem sie Pflichten nur gegenüber jenen, die in großer Not sind, spezifiziert“ (Übers. R.K.).
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Hinsichtlich der Zumutbarkeit von Hilfeleistung geht der oben skizzierte Singer’sche Ansatz sehr weit (Peter Singer 2017a, S. 74 f.); er unterläuft allerdings dieses Ergebnis mitunter, indem er eher vage auf alternative Hilfsmöglichkeiten verweist (Peter Singer 2017b, S. 250 – 252).
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Dem gegenüber hebt Matthew J. Gibney für die Zumutbarkeit als Voraussetzung der Verantwortung, die sich aus der humanitären Pflicht zur Unterstützung geflüchteter Menschen ergebe, hervor:
- „It is … not as onerous in its demands as impartial accounts. For the conception of ‚low costs‘ suggests that states (or individuals) have room to protect other valued interests or obligations to which they attach significant value“ (Gibney 2004, S. 231).
- „Sie ist in ihren Forderungen … nicht so belastend wie die [hinsichtlich der Berücksichtigung der Interessen aller betroffenen Menschen, R. K.] unparteiischen Lehren. Denn die Konzeption der ‚niederen Kosten‘ legt nahe, dass Staaten (oder Einzelne) Spielraum haben, um andere wertgeschätzte Interessen zu schützen oder Pflichten zu erfüllen, mit denen sie einen bedeutsamen Wert verbinden“ (Übers. R.K.).
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Andere Ansätze gehen, soweit mit Hilfspflichten argumentiert wird, von einer Schwelle der Zumutbarkeit aus, die jedenfalls deutlich oberhalb der Selbstaufopferung zu liegen habe, um nicht an Relevanz zu verlieren, wobei darauf hingewiesen wird, dass entsprechende Befürchtungen für die jüngere Vergangenheit unbegründet seien (Twele 2016, S. 38) und es in der Regel vielfältige alternative Handlungsmöglichkeiten gibt, um ein Erreichen dieser Schwelle zu verhindern, ohne eine durch Aufnahmeverweigerung herbeigerufene humanitäre Katastrophe hervorzurufen (genauer Hoesch 2016, S. 28 f.).
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Eine weitere Herangehensweise geht zwar im Ergebnis derzeit angesichts des Wohlstands im globalen Norden davon aus, dass die Unzumutbarkeitsgrenze „sehr hoch angesetzt werden kann“ (Nida-Rümelin 2017, S. 160). Bei den normativen Kriterien, an denen die Zumutbarkeit zu messen ist, wird dort aber zugleich postuliert, es habe „das Selbstbestimmungsrecht ein größeres Gewicht als das Überlebensinteresse“ (Nida-Rümelin 2017, S. 162). Eine Pflicht zu rettender Hilfe bestehe nicht mehr, wenn „ich meine individuelle Selbstbestimmung aufgebe, mein ganzes Leben ändere, die Kontrolle über das verliere, was mir wertvoll ist“ (Nida-Rümelin 2017, S. 163 f.). Sinngemäß wird diese Überlegung dann auf staatliche Pflichten analog angewandt (Nida-Rümelin 2017, S. 164). Es werden in der Regel eher kleine Gemeinschaften oder Staaten sein, die eine solche Unzumutbarkeitsschwelle schnell überschreiten.
cc. Hilfe als moralisches und als spezifisch rechtsphilosophisches Argument
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Die auf moralische Hilfspflichten gestützten Argumente werden nicht immer mit kritischer oder legitimierender Ausrichtung auf das Recht formuliert. Beispielsweise lehnt Peter Singer den „Begriff eines moralischen Rechts“ ab (Peter Singer 2013, S. 153). Selbst seine primär individualethische Herangehensweise führt aber rechtspolitische Implikationen mit sich (s. Artikel „Asyl“ Abschnitt V.2).
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Mitunter schimmert dagegen schon im Kontext der Formulierung von Hilfspflichten ein Rechtsbezug heraus. Eher undeutlich geschieht dies etwa in der Vorstellung, wonach es Fälle gibt, in denen „der Asylanspruch praktisch unabweisbar“ (Walzer 2006, S. 91) ist: Soll eine solche Einsicht ohne heroische Akte helfenden bürgerlichen Ungehorsams relevant werden können, muss das Recht sie widerspiegeln und dem entsprechend gestaltet, interpretiert und angewandt werden. Teilweise werden auf Hilfspflichten ausdrücklich rechtspolitische Forderungen gestützt. So argumentiert etwa Bernward Gesang: „Und das Folgende wäre ein … moralisch gebotener Kandidat für eine Gesetzesänderung, nämlich den Status eines Asylbewerbers nicht vom physischen Erscheinen des Flüchtlings im Gastgeberland abhängig zu machen“ (Gesang 2016, S. 93). Auch Hoesch versucht, Leitlinien für eine Übersetzung moralischer Regeln, die aus einer allgemeinen Hilfspflicht hergeleitet werden, in positives Recht zu gewinnen (Hoesch 2016, S. 18). Deutlich wird der Rechtsbezug auch in der Behandlung des Themas als Zusammenhang „Von Menschenrechten und Hilfspflichten“ (Twele 2016). Ein solcher Umgang mit dem Thema ist verbunden mit der Vorstellung, dass moralische Hilfspflichten sich zu Forderungen an das Recht verdichten können und ihnen mitunter Menschenrechte als „moralische Rechte“ (Twele 2016, S. 31) korrespondieren, die dann, je nach Rechtslage, von Bürgerschaft oder Inhaberinnen und Inhabern politischer Ämter rechtspolitisch zu fordern und zu realisieren oder im Rahmen des positiven, juristisch geltenden Rechts von Akteuren, die am Rechtsverkehr teilnehmen, wie Bürgerschaften, Anwaltschaften und Justiz, juristisch zur Geltung zu bringen sind. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass Menschenrechte, soweit sie auf eine allgemeine humanitäre Hilfspflicht gestüzt werden, lediglich eine Konzeption tragen, die Twele (2016, S. 32) als das „nicht absolute Verständnis von Menschenrechten“ und als „moralisch starke Gründe“ bezeichnete. Es lasse die Möglichkeit offen, dass sie unter Umständen durch andere moralische Erwägungen überwogen würden.
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Die Argumentationsfigur der Innoxia Utilitas rechtfertigte bei Grotius erzwingbares Recht (Luig 2002, S. 256) und war auch in Leibniz‘ Elementen des Naturrechts Thema rechtsphilosophischer Erwägung (Leibniz 2003, S. 153 und 165). Emer de Vattel behandelte sie noch im Rahmen seiner Abhandlung über das Völkerrecht und das Naturrecht, wollte aber in ihr eine unvollkommene Pflicht sehen, über die allein der Inhaber des Rechts an der Sache urteilen dürfe (Emer de Vattel, 1758/1959, § 128, S. 242 f.). Dagegen behandelte Immanuel Kant die Innoxia Utilitas in § 31 der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre. Sie war ihm nur noch unvollkommene, verdienstliche, weite Pflicht: tugendhafte Wohltat, deren Erfüllung aber immerhin noch, ähnlich einer Rechtspflicht, wie eine vollkommene, enge und schuldige Pflicht zur Darstellung zu bringen ist:
- „Wohlthun ist für den, der reich … ist, von dem Wohlthäter fast nicht einmal für seine verdienstliche Pflicht zu halten; ob er zwar dadurch zugleich den Andern verbindet. … Auch muß er allen Schein, als dächte er den Andern hiemit zu verbinden, sorgfältig vermeiden“ (Kant AA Bd. VI, 1907 / 1969, S. 453).
dd. Unbestimmtheit der Existenz einer Pflicht zur Hilfeleistung
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Die zentrale Schwierigkeit eines Ansatzes, der versucht, die Begründung (der politischen Schaffung oder juristischen Durchsetzung) von Rechtspflichten und von Rechten auf Bedürftigkeit und moralische Hilfspflichten zu stützen, liegt in dem, was Nida-Rümelin „das Problem der ethischen Unterbestimmtheit“ (Nida-Rümelin 2017, S. 159) nennt. Hier zu verorten ist der Einwand Konrad Otts gegen den Fluchtgrund Armut: Debatten über Ursachen und Ausformungen globaler Armut seien „uferlos“ (Ott 2016, S. 53). Der Einwand wird dort allerdings im Rahmen einer auf Max Weber 1919/1994, S. 79 zurückgehenden Gegenüberstellung vermeintlich gesinnungsethischer und verantwortungsethischer Maximen präsentiert (ähnlich Isensee 2018, S. 149 zu angeblich „humanitär-gesinnungsethischen Impulsen“ der Asyldebatte), deren Ergiebigkeit bestritten und der Irreführung vorgeworfen wird (Nida-Rümelin 2017, S. 13; Becka 2018, S. 343 f., ausführlich Tiedemann 2018b).
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Die Unbestimmtheit wird in verschieder Hinsicht gegen die moralische Begründung von Rechten auf der Basis von Hilfspflichten geltend gemacht. Dies betrifft sowohl die Frage, ob überhaupt Hilfspflichten bestehen, als auch die weitere, welcher Art sie gegebenenalls sind und welchen Umfang sie dann haben.
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In den Kontext der Behandlung der Frage, ob überhaupt Hilfspflichten bestehen, gehört das Argument Winfried Bruggers (s. dazu Artikel „Asyl“ V.1.b), es könne kein Zurechnungszusammenhang zwischen der existenziellen Bedürftigkeit einerseits und der Verantwortlichkeit gerade eines bestimmten potentiellen Aufnahmestaats hergestellt worden. Es bezieht sich seiner argumentativen Rechtfertigung nach nicht nur auf eine wie auch immer begründete Aufnahmepflicht, sondern auch spezieller auf Aufnahme gerade als Hilfspflicht. Umgekehrt hat Bruggers Argument Bezug zu Hilfspflichten auch dann, wenn sie durch eine andere Art der Hilfe als Aufnahme erfüllt werden können. Im Kontext einer Argumentation mit humanitären Hilfspflichten dreht Matthias Hoesch gegenüber der Bruggerschen Perspektive gleichsam den Spieß herum. Dabei sei zu unterscheiden zwischen einerseits der Relation zwischen potentiell helfendem Staat und denen, die so gerettet werden, und andererseits der Beziehung unter den Staaten (Hoesch 2016, S. 26). Für die erstere Beziehung postuliert Hoesch sehr klar und ohne konkreten Zurechnungszusammenhang: „Zur Hilfe verpflichtet sind grundsätzlich natürlich alle Staaten, die dazu in der Lage sind“ (Hoesch 2016, S. 18); erst beim Verhältnis unter den Staaten stelle sich die Frage der fairen Lastenteilung (Hoesch 2016, S. 18). Die Verknüpung beider Gesichtspunkte ist teilweise völkerrechtlich unter Rückgriff auf die Figur der Gesamtschuld versucht (Funke 2017a, S. 537), aber, soweit ersichtlich, noch nicht rechtsphilosophisch postuliert worden, wie dies nach der soeben getroffenen Unterscheidung nahe läge: Jeder dazu fähige Staat hat zunächst zu helfen; anteiliger Ausgleich ist dann im Verhältnis zu anderen Staaten zu suchen.
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Demgegenüber wird häufig die Pflicht zur Hilfe durch Aufnahme unter Verweis auf alternative, gleichermaßen effektive oder angeblich wirkungsvollere Hilfsmöglichkeiten abgelehnt. So meint Michael Walzer, ein Aufnahmeanspruch für Menschen, die aus wirtschaflichen Gründen in Not seien, lasse sich, anders als bei politischer Verfolgung, nicht begründen, denn wirtschaftlich Bedürftigen könne anderweitig geholfen werden, wohingegen als Alternative für Asyl politisch Verfolgter allenfalls eine militärische Intervention und Einsetzung einer anderen Regierung in Betracht komme (Walzer 2000, S. 275). Christopher Heath Wellman geht noch weiter und argumentiert, dass „ein Staat nicht einmal in denjenigen Fällen Asylsuchende aufnehmen muss, in denen diese dringend einen sicheren Zufluchtsort benötigen … weil ich nicht davon überzeugt bin, dass die einzige Möglichkeit, Opfern politischer Ungerechtigkeit zu helfen, darin besteht, sie auf dem eigenen Territorium zu beschützen.“ Es sei ja auch ein Export der Gerechtigkeit „nötigenfalls militärisch“ möglich (Wellman 2017, S. 138). Indes ist darauf hingewiesen worden, dass alternative Hilfsmöglichkeiten normativ nur und erst dann relevant werden können, wenn tatsächlich geholfen und die Not behoben wird. Dann entfällt bereits die Fragestellung. So betrachtet scheinen die Argumente, die auf bloße alternative Hilfsmöglichkeiten gestützt werden, entgegen einem ersten Anschein, das Problem nicht zu treffen.
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Schwieriger verhält es sich mit der Frage der Auswahl unter verschiedenen Hilfsmöglichkeiten, wenn manchen gleichermaßen Bedürftigen geholfen werden könnte, aber nicht allen. Die diesbezügliche Unbestimmtheit dürfte zu den Gründen gehören, aus denen Kant das Thema nicht bei den Rechts-, sondern den Tugendpflichten behandelte und zum Beispiel formulierte:
- „Aber diese als Mittel zu Beförderung des thätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere, obzwar nur bedingte Pflicht unter dem Namen der Menschlichkeit (humanitas)“ (Kant AA Bd. VI, 1907 / 1969, S. 456).
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Wenn dagegen Staaten in Wirklichkeit insgesamt ihren Hilfskapazitäten nicht ausschöpfen – selbst unabhängig von deren genauerer Bestimmung –, dann dürfte sich mit dem Argument, wonach alle Staaten, die dazu in der Lage sind, zur Hilfe verpflichtet sind, die Existenz einer Hilfsverpflichtung klar postulieren und zumindest die Verpflichtung zum Gebrauch des Auswahlermessens bestimmt formulieren lassen. Ein solcher normativer Umgang mit Unbestimmtheit entspräche in etwa dem, was Immanuel Kant als Interesse der praktischen Vernunft (Kant AA Bd. VI, 1907 / 1969, S. 354) bezeichnete, das sich hier zur Geltung brächte als ein Interesse, das wir daran haben, Menschen nicht aus theoretischen Gründen bloßer Uneindeutigkeit (hilf- und) rechtlos zu stellen.
ee. Unbestimmtheit der Art der gebotenen Hilfeleistung
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Indes ist, wenn allgemeine humanitäre Hilfspflichten prinzipiell anerkannt werden, damit noch „nicht ganz klar, zu welcher Art Hilfeleistung … Staaten dadurch verpflichtet werden“ (Hoesch 2016, S. 17), insbesondere ob eher „Hilfe vor Ort“ im Krisenstaat beziehungsweise belasteten Drittstaat einerseits oder Hilfe „durch Aufnahme in einerm anderen Staat“ (Zitate Hoesch 2016, S. 17) gefordert ist. Diese Unklarheit kann nicht prinzipiell, sondern nur mit Blick auf die konkrete empirische Situation beseitigt werden. Als normativer Gesichtspunkt und Leitsatz für eine rechtspolitisch zu konkretisierende Verantwortlichkeit ist postuliert worden:
- „Potentielle Aufnahmeländer müssen all diejenigen Zuwanderungswilligen aufnehmen, die in ihrem Heimatland unverschuldet ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können und denen vor Ort nicht geholfen werden kann oder faktisch nicht geholfen wird“ (Hoesch 2016, S. 18).
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Soweit dieser Grundsatz trägt und allein der Gesichtspunkt humanitärer Hilfeleistung berücksichtigt wird, können Staaten das Entstehen einer Aufnahmepflicht durch effektive Hilfe vor Ort verhindern; sie sind aber umgekehrt in der Pflicht aufzunehmen, soweit keine effektive Hilfe erfolgt. Dies gilt, solange nicht weitere, Pflichten modifizierende Aspekte wie die Bedeutung der Familieneinheit oder spezifischer Schutzbedürftigkeit minderjähriger oder besonders verletzlicher Personen eine Aufnahmepflicht begründen.
b. Hilfspflichten und das Verhältnis unter den zur Hilfe fähigen Staaten
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Kommen mehrere Staaten für die Aufnahme von Menschen, deren extistenzielle Grundbedürfnisse im Staat ihrer Staatsangehörigkeit nicht befriedigt werden können, in Betracht, so stellt sich die Frage einer fairen Lastenteilung.
63
Als Kriterium der Verteilung drängt sich prima facie – soweit nur eine Fairness im Verhältnis unter den Staaten in Betracht gezogen wird – die Überlegung auf, auf die Fähigkeiten und Kapazitäten potentieller Aufnahmestaaten (oder allgemeiner potentiell helfender Staaten) zur Aufnahme beziehungsweise Hilfe abzustellen. Das kann etwa zu folgendem Leitgrundsatz führen:
- „Je besser ein Staat wirtschaftlich dasteht und je erfolgversprechender er Flüchtlinge in die Gesellschaft integrieren kann, einen desto größeren Anteil an der Gesamtzahl an Flüchtlingen sollte er übernehmen“ (Hoesch 2016, S. 19).
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Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass sich bei der genaueren Konkretisierung herausstellen kann, dass ein Staat vielleicht in mancher Hinsicht mehr und in anderen Hinsichten weniger beizutragen hat als andere – etwa wirtschaftlich stärker positioniert ist, aber weniger Raum für die Bereitstellung von Unterkünften, weniger Expertise oder weniger einsatzbereit zur Verfügung stehendes Personal für Unterricht, Betreuung, Übersetzung oder Verwaltung hat.
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Teilweise wird deshalb gefordert, bei der Bemessung der für die Lastenteilung maßgeblichen komparativen Kapazität der teilnehmenden Staaten stärker zu differenzieren und abzustellen auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bevölkerungszahl, Fläche des Staatsgebietes und Arbeitslosenquote potenzieller Aufnahmestaaten (Schneider/Engler/Angenendt 2013, S. 6).
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Ferner können auch hier jedenfalls gewichtige Interessen Betroffener – Möglichkeit, engste soziale Beziehungen zu pflegen, etwa als Familie zusammen zu leben; besondere Bedarfe wegen spezifischer Verletzlichkeit – eine modifizierende Rolle spielen.
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Speziell mit Blick auf die Aufnahme von Menschen, die aus Gründen des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen, ist ergänzend gefordert worden, Quoten für die Zahl zu erteilender Visa sollten proportional zur Emmission von Treibhausgasen bemessen werden (Moberg 2009, S. 1136).
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Wie Hilfeleistungen gegenüber Betroffenen, so kann Lastenteilung unter Staaten prinzipiell mit verschiedenen Mitteln (zum Beispiel Aufnahmequoten, materielle oder personelle Untertützung von Aufnahmestaaten, finanzeller Ausgleich) erfolgen. Hierauf gestützt ist teilweise gefordert worden, geflohenen Menschen für die angesteuerte Zuflucht jedenfalls innerhalb der Europäischen Union die freie Wahl des Mitgliedstaates zu lassen und Lastenteilung im Wege eines finanziellen Ausgleichs zu organisieren (Deutscher Anwaltverein u. a. 2013). Eine solche Vorgehensweise legte zwar nahe, dass Flüchtlinge, soweit ihre Mittel es erlauben, sich an Zielorten orientieren, mit denen sie sich besonders verbunden fühlen. Auch wäre dies als Verteilungsmechanismus vermutlich effizient und würde tendenziell verhindern, dass geflohene Menschen dort ankommen, wo Mindeststandards einer menschenwürdigen Unterbringung nicht gewahrt werden und die Unterbringung unzumutbar ist; indes wird hiergegen eingewandt: „Weniger attraktive Staaten hätten unter freier Asylwahl keinen Anlass, ihre Asylsysteme zu entwickeln, so dass sich Asymmetrien perpetuieren“ (Lübbe 2017, S. 109).
5. Territoriale Gerechtigkeit und Menschenrecht
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Im Rahmen der Diskussion migrationsbezogener Rechte auf Aus-, Ein- oder Durchreise, Aus- oder Einwanderung sind immer wieder Argumente einer territorialen Gerechtigkeit – oft verbunden mit Vorstellungen ursprünglicher Rechte von Menschen – geltend gemacht worden (Abizadeh 2008; Ackerman 1980, Kap. 3, S. 69 – 103; Carens 1987; Cassee 2016, S. 279; Kant AA Bd. VIII, 1912 / 1969, S. 358; Nett 1971, S. 217; de Vattel 1758 / 1959, Buch II, §§ 117, 119, 123, 125, 126, S. 238 – 242; de Victoria 1539 / 1952, 3. Teil, S. 92 – 117). Manche der vorgetragenen Argumente wurden spezieller für den Zusammenhang von Aufnahmepflichten gegenüber Menschen in existenzieller Not wie auch eines Verbots, Menschen unter Anwendung von Rechtszwang in eine existenziell bedrohliche Lage hinein abzuweisen, relevant gemacht.
a. Grotius: Aufnahme Heimatvertriebener, Asyl für unverdienterweise Verfolgte
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Als prominenter Vertreter einer solchen Herangehensweise darf Hugo Grotius (1583 – 1645) gelten. Grotius hat sich in seinem Werk De jure belli ac pacis, Paris 1625, ausführlich vor allem mit zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten des Schutzes von Menschen, die wegen einer existenziellen Bedrohung aus anderen Ländern geflohen waren, auseinandergesetzt: zum einen mit Aufnahmepflichten sowie zum anderen mit Ausnahmen von einer angenommenen zwischenstaatlichen Auslieferungspflicht. Verwendet man einen Begriff von Asyl in dem weiten Sinn, den ihm das Institut de Droit International (Institut de Droit International 1950) beilegte, und bezeichnet mit dem Ausdruck „Asyl“ jenen Schutz, den ein Staat auf seinem Territorium oder an einem anderen, der Hoheit bestimmter Organe des Staates unterstehenden Ort, einem schutzsuchenden Individuum gewährt, so hat sich Grotius unter all diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten mit Asyl auseinandergesetzt; er selbst verwendete „prædicata supplicum jura & asylorum exempla“ allerdings in einem engeren Sinne: als Ausnahme von der staatlichen Auslieferungspflicht.
aa. Aufnahme Vertriebener (Expulsi)
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Grotius erkannte eine Pflicht zur Aufnahme Heimatvertriebener an. Mit den Worten: „[d]iese gerechte Forderung“ kommentierte Grotius den Satz:
- „Aber selbst ein dauernder Aufenthalt darf den Fremden, welche, aus ihrer Heimat vertrieben, um Aufnahme bitten, nicht abgeschlagen werden, sobald sie sich den bestehenden Staatsgewalten und Einrichtungen für die öffentliche Ruhe unterwerfen“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 2 § XVI, S. 155).
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Die angeführte Stelle bezieht sich auf Menschen, „welche infolge von Kriegen oder durch vergleichbaren Zwang gegen ihren Willen aus ihrer Heimat vertrieben wurden“ (Thießler-Marenda 2002, S. 205), und auf solche, die, wie sephardische Juden, aus religiösen Gründen verfolgt wurden (de Wilde 2018, S. 486 f. und 495 f.). Diese Personen gleichen in ihrer Schutzbedürftigkeit solchen, die Asyl im engeren Sinne der Terminologie des Grotius – Auslieferungsschutz wegen unverdienter Feindseligkeit ihnen gegenüber – begehren, unterscheiden sich aber insofern von ihnen, als Asylsuchende „nicht nur eines neuen Wohnortes, sondern insbesondere des Schutzes vor Auslieferung bedürfen“ (Thießler-Marenda 2002, S. 205). Zu Grunde liegt der Pflicht zur Aufnahme Vertriebener wohl teilweise der Gedanke der Innoxia Utilitas, den Grotius als mit Zwang durchsetzbaren Rechtsgedanken kennt und den er für die Nutzung fremder Wege, Flüsse, Häfen und Märkte oder die Zulässigkeit einer Durchreise relevant macht (Thießler-Marenda, 2002, S. 203). Tragender Gedanke ist aber vor allem die Vorstellung einer Communio Primaeva (Thießler-Marenda, 2002, S. 202), einer ursprünglichen Gütergemeinschaft, die mit der Partikularisierung sachenrechtlicher Befugnisse nur größtenteils, aber nicht unter allen Gesichtspunkten aufgehoben wurde. Die Absicht derer, die Privateigentum und partikulare öffentliche Hoheitsbefugnisse territorialer Art – das Dominium als Besitz- und Herrschaftsrecht über Sachen, das so qualifiziert ist, dass es nicht in gleicher Weise der Rechtsinhaber und andere innehaben können (Tuck 1993, S. 60) – einführten, müsse so verstanden werden, „wie sie sich am wenigsten von der allgemeinen Gleichheit entfernt“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 2 § VI, 1 S. 150). Dies habe die Konsequenz, dass
- „in der höchsten Not das alte Recht des Gebrauches wieder auflebt, als wären die Güter noch gemeinsam“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II cap. 2 § VI, 2, S. 150),
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soweit der Not nicht anderweitig entgangen werden könne (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, § VII, S. 150) und das Not-Gebrauchsrecht bei den Besitzenden keinen mit der zu behebenden Not vergleichbaren Schaden verursache (vgl. Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, § VIII, S. 151). Dabei sei es nicht erst eine karitative Liebespflicht, Bedürfigen etwas zu geben, was im Falle äußerter Not das gemeinsame Gebrauchsrecht wieder aufleben lasse, sondern bereits der Vorbehalt, wonach das
- „Privateigentum überhaupt nur mit dieser milden Beibehaltung des ursprünglichen Rechtes eingeführt zu sein scheint“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 2 § VI, 1 S. 150).
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Die Überlassung von Gegenständen an Dritte zur „unschädlichen Benutzung“, selbst ihre Erhaltung zu diesem Zweck, war ihm keine Wohltat, sondern entsprach einer Pflicht (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 2 § XI, 1 S. 151 f.). Diese Grundlage ermöglichte es Grotius, die Pflicht, Ansiedelung zu gestatten, einerseits klar zu postulieren, sie aber zugleich zu beschränken auf Notfälle, in denen sich die Betroffenen zudem der bestehenden Staatsgewalt unterwerfen, so dass bei Grotius „Kolonialisten und Eroberern wie den spanischen Conquistadores, die keines neuen Wohnsitzes bedürfen und die nicht bereit sind, die vorhandene Herrschaftsmacht zu achten“, Einreise und Niederlassung verwehrt werden kann (Thießler-Marenda 2002, S. 205). Er distanzierte sich damit deutlich von de Victoria, der sich ebenfalls auf eine ursprüngliche Gesellschaft und Gemeinschaft aller Menschen berufen (de Victoria 1539 / 1952, 3. Teil, Nr. 1, S. 92 f.), aber auf dieser Basis Kriege gegen indigene Einwohner in Lateinamerika gerechtfertigt hatte (zum Beispiel de Victoria 1539 / 1952, 3. Teil, Nr. 6, S. 98 – 101).
bb. Aufnahme Verbannter (Exules)
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Das zu den Expulsi (Vertriebenen) Dargelegte wandte Grotius auf Menschen, die verbannt wurden (Exules) und die deshalb nicht mehr der Personalhoheit des Herkunftsstaats unterliegen – auf die der verbannende Staat „kein Recht mehr hat“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. III. cap. 20 § XLI, 1 S. 151 f.) – entsprechend an (Tießler-Marenda 2002, S. 210 f.).
cc. Supplicum Jura et Asylorum Exempla: Asylrecht unverdienterweise Verfolgter
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Ferner behandelte Grotius ausführlich das Asylrecht in einem engeren Sinne. Die Literatur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder mit seinen Äußerungen auseinandergesetzt. So machte Kimminich geltend, Grotius habe „das politische Asyl“ nicht nur als Recht, sondern als Pflicht des Staates dargestellt (Kimminich 1978, S. 46). Die damit verbundene, einst verbreitete (Nachweise bei Thießler-Marenda, 2002, S. 64) These, Grotius sei der Begründer des modernen Asylrechts politisch Verfolgter, wurde zunächst oft auf eine Passage in lib. II cap. II § XVI seines De jure belli ac pacis (Paris, 1625) gestützt. Seit 2002 (Thießler-Marenda 2002, S. 64 – 74, 146-206) ist jedoch geklärt, dass diese zuvor in der Literatur immer wieder falsch oder doch ungenau zitierte Passage sich im Sinne der Terminologie Grotius‘ auf Heimatvertriebene bezieht, deren Rechte Grotius selbst nicht als „Asylum“ bezeichnete.
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Ausführlich äußerte sich Grotius zur rechtlichen Einrichtung des Asyls aber an anderer Stelle, nämlich bei der zwischenstaatlichen Auslieferungspflicht, von der es eine Ausnahme gestatte. Bei der Behandlung von Gründen für Kriege postulierte er, flüchtige Verbrecher müssten entweder im Aufenthaltsstaat bestraft oder von ihm ausgeliefert werden (lib. II. cap. 21 § IV). Aber Grotius erkannte, als Ausnahme von der Auslieferungspflicht,
- „praedicata supplicum jura & asylorum exempla“ (Grotius, lat., Hrsg. Becmann, 1718, lib. II. cap. 21 § V, S. 921),
- „die sogenannten Rechte der Schutzflehenden und die Privilegien der Asyle“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, S. 370),
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oder, angesichts der vielen Quellen, die er zustimmend als Belege anführt, wohl eigentlich eher
- „the much discussed rights of suppliants and cases of asylum“ (Grotius 1646, engl. Neff 2012, S. 294):
- die oft besprochenen Rechte Schutzflehender und Asyl-Fälle,
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an. Mit ihrer Existenz ist das Problem aufgeworfen, ob diese Rechte und Präzedenzien dem von Grotius postulierten Grundsatz der Auslieferungs- oder Strafpflicht nicht insgesamt widersprechen und sie systematisch unterlaufen. Diesem Einwand hält Grotius Einschränkungen entgegen, die sich aus den tatbestandlichen Voraussetzungen, nämlich der besonderen Qualifikation der Verfolgungsgründe oder Gründe für fluchtbegründende Feindseligkeit, ergeben. So sagt er über diese Rechte:
- „Haec enim illis prosunt, qui immerito odio laborant, non qui commiserunt, quod societati humanae aut hominibus aliis sit injuriosum“ (Grotius, lat., Hrsg. Becmann, 1718, lib. II. cap. 21 § 5, S. 921).
- „Sie kommen nur denen zugute, welche mit Unrecht verfolgt werden, nicht aber denen, welche sich gegen die menschliche Gesellschaft oder gegen Einzelne vergangen haben“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, S. 921).
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Trotzdem wird gegen die Bedeutung von Hugo Grotius als Vordenker des modernen Asylrechts – insbesondere eines Asylrechts gerade politisch Verfolgter – angeführt, dass Grotius 1625 betont hat, das Recht auf Auslieferung werde allerdings im gegenwärtigen Jahrhundert nur noch „bei Verbrechen geltend gemacht, die den Staat betreffen oder von besonders schwerer Natur sind“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, S. 922). Erstere Formulierung, „crimina …, quae statum publicum tangunt“, zeige: Gerade „Personen, die nach modernen Vorstellungen asylberechtigt sind, weil sie politisch aktiv sind … müssen ausgeliefert werden … Grotius ist mithin kein Vorreiter des modernen politischen Asyls“ (Tießler-Mardenda 2002, S. 241). Für diese Sicht scheint auch zu sprechen, dass Grotius geltend macht, eine (Straf- oder) Auslieferungspflicht bestehe für solche Straftaten, die die ganze Menschheit angingen oder, noch viel mehr, soweit ein anderer Staat oder der Herrscher eines anderen Staates verletzt worden sei (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § III, Abschnitt 2, S. 368).
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Die angeführte Passage zeigt, dass Grotius Asyl jedenfalls noch nicht speziell für politisch Verfolgte kannte. Vielleicht gab er sogar eher die in der frühen Neuzeit gängige Praxis wieder, nach der der „politische Flüchtling … im Regelfall kein Asylrecht“ genoss (Kimminich 1978, S. 42). Auch scheint die Passage gerade den Herrscher des anderen Staats zu schützen.
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Aber diese Sichtweise dürfte verkürzt sein. Es liegt nämlich nahe, dass der bei Grotius gegenüber dem Asyl vorrangige, duch Auslieferung zu sichernde Schutz einer anderen Civitas (Grotius, lat., Hrsg. Becmann, 1718, lib. II. cap. 21 § III, Abschnitt 2) oder ihres Rector (ebda.), Herrschers, letztlich und eigentlich die durch ihn repräsentierte Idee eines Zustands öffentlich-rechtlich geordneten friedlichen Zusammenlebens meint: Gerade Straftaten, „quae statum publicum tangunt“ (Grotius, lat., Hrsg. Becmann, 1718, lib. II. cap. 21 § V), die den Zustand der Existenz als öffentlich und rechtlich geordnete Bürgerschaft berühren, sollen zur Auslieferung führen. Dann schützte die Einschränkung des Asylrecht fremde Herrscher primär unter dem Gesichtspunkt der Friedensfunktionalität vor Verletzung. Dafür, dass das Asylrecht und seine weite oder enge Anwendung bei Grotius der Beförderung des Rechtsfriedens dienen soll, spricht ferner, dass Grotius an anderer Stelle ausnahmsweise die staatliche Asylbefugnis sogar auf besonders gefährliche Verbrecher erstreckt sehen will, wenn dies dazu dient, sie von weiteren Verbrechen einstweilen abzuhalten (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, Abschnitt 5, S. 373). Wäre diese Friedensfunktionalität der entscheidende Gesichtspunkt auch für die Ausschluss-Gründe, so läge in ihr, bei entscheidenden inhaltlichen Unterschieden in der rechtlchen Ausgestaltung hinsichtlich politischer Verfolgungstatbestände, eine strukturelle Parallele zum späteren und gegenwärtig geltenden Recht: Dieses kennt den Ausschluss vom Asyl bei Verfolgung wegen bestimmter Formen der Unterstützung von Terrorismus (BVerfGE 80, 315, 338); es schließt Personen vom Genuss mancher Schutzinstrumente aus, wenn sie sich eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, eines sonstigen schweren Verbrechens außerhalb des Aufnahmelandes, oder Handlungen, die den Zielen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, schuldig gemacht haben (Artikel 1 F Genfer Flüchtlingskonvention; ähnlich Artikel 33 Absatz 2 Genfer Flüchtlingskonvention).
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Wichtiger und deutlicher ist aber, dass umgekehrt bei Grotius zentrale Gesichtspunkte von Elementen des modernen Begriffs politischer Verfolgung bereits konzeptionell angelegt werden. Um dies zu zeigen, bedarf es der Beschäftigung mit der Frage, worauf die folgende Formulierung der Voraussetzung des Flüchtlingsschutzes zielt: „qui immerito odio laborant“ – „die unverdienterweise unter Verfolgung leiden“ (Tießler-Marenda 2002, S. 228) oder sonst unverdienterweise Feindseligkeit erleiden.
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Zum einen geht es Grotius bei dem als „immeritus“ bezeichneten Grund für Verfolgung oder Feindseligkeit (odium) um das Unglück, um das Schicksalhafte: „Unglück entstammt dem Geschick, Unrecht jedoch dem eignen Willen“, wird Menander von Grotius als Beleg zitiert (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, S. 371). Damit formuliert schon Grotius die Ratio Legis eines Schutzes vor Verfolgung auf Grund von dem Verfolgten „unverfügbaren Merkmalen, die sein Anderssein prägen“ (BVerfGE 80, 315, 333) und die als asylerhebliche Merkmale den politischen Charakter der Verfolgung im Sinne des Asyl-Grundrechtsartikels 16a Absatz 1 Grundgesetz mit begründen oder auch den Verfolgungsgrund der Mitgliedschaft in einer partikularen sozialen Gruppe (Artikel 1 A Absatz 2 Genfer Flüchtlingskonvention) mit konstituieren können (Artikel 10 Absatz 1 d Satz 1 erster Spiegelstrich EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. L 337, S. 9).
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Zum anderen ist „immeritus“ ein normativer Maßstab. Sein Gegenstück bilden jene Verfolgten, „welche sich gegen die menschliche Gesellschaft oder gegen Einzelne vergangen haben“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § V, S. 370). Indem er Asyl an normative Voraussetzungen knüpfte, setzte Grotius sich zugunsten einer modernen, an Vernunfterwägungen orientierten Konzeption in einen Gegensatz zur „willkürlichen Handhabung“ (Kimminich 1978, S. 42) der Befugnis, Asyl zu gewähren, die er aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit kannte, und postulierte eine an Recht und Gerechtigkeit orientierte Beurteilung von Asyl.
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Dem widerspricht nicht, dass Grotius äußerte, ob die Verfolgung unverdienterweise erfolge, müsse, wenn die Handlung, welche zur Verfolgung geführt hat, nach Natur- oder Völkerrecht nicht verboten sei, nach dem Recht des Herkunftsstaates beurteilt werden (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 21 § VI, S. 374). Auch dies findet, entgegen erstem Anschein, im später geltenden Recht seine Parallele: Verfolgung allein wegen kriminellen Unrechts gilt grundsätzlich nicht als politische Verfolgung im Sinne dess Artikels 16a Absatz 1 Grundgesetz, es sei denn, zusätzliche Umstände lassen darauf schließen, dass gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird (BVerfGE 80, 315, 338).
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Ob eine Auslieferung stattfinden muss oder Asyl zu gewähren ist, hängt von der Beurteilung durch Behörden des Aufenthaltsstaats ab. Diese Beurteilung betrifft nicht nur die Frage, ob die vorgeworfene Tat begangen wurde; sondern Grotius kennt auch Strafbestimmungen, die als ungerecht zu verurteilen sind, so dass ihre Anwendung wohl eine Verfolgung als „immeritus“ qualifizierte. Price (Price 2009, S. 36 f.) weist darauf hin, dass eine Bestrafung jener, die das Christentum lehrten oder lebten, nach Grotius ebenso vernunftwidrig ist, wie die Bestrafung jener, die in einigen Punkten irrten oder an ihnen zweifelten (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 20 § IL und § L, S. 363). Rechtszwang gegen Menschen, die die christliche Religion nicht annähmen, widerspreche der Lehre Christi (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 20 § XLVIII, S. 373). Das lässt es als schlüssig erscheinen, dass Verfolgung aus religiösen Gründen zur unverdienten Verfolgung gehört, die Asyl begründet (Price 2009, S. 36).
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Auch in anderem Zusammenhang deutete Grotius die Möglichkeit von hoheitlichem Unrecht an: Im Rahmen seiner ausführlichen Diskussion der Frage eines Rechts zum Widerstand in lib. I. cap. 4 § VII gibt es zum Beispiel in der staatlichen Gesellschaft „das Unrecht des Vorgesetzten“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, S. 120), in § VIII vergehen sich Obrigkeiten selbst „gegen die Gesetze oder den Staat“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, S. 125), in § 10 darf man sich dem König widersetzen, wenn er die Herrschaft an einen anderen übergeben will (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, S. 126), in § XI (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, S. 126) erwägt Grotius, dass die Herrschaft verloren geht, wenn der König, in feindseliger Absicht, das Volk ins Verderben führt. Grotius hat dies alles beim Widerstandsrecht diskutiert und nicht ausdrücklich für die Frage der Asylberechtigung fruchtbar gemacht. Aber wenn er binnenstaatliches Unrecht überhaupt kennt, wenn er sich so auf eine distanzierte Perspektive einlässt, von der aus über ein Widerstandsrecht befunden werden kann, so erscheint es auch nicht als abwegig, Gründe für flüchtlingsrechtlichen Schutz auch in der ungerechten Verfolgung von Handlungen zu sehen, die zurechenbar, aber nicht zu missbilligen sind. Das entspricht einer Ansicht, die den politischen Charakter des Asyls und der seiner Gewährung zu Grunde liegenden Beurteilung der Politik eines anderen Hoheitsträgers bei Grotius betont:
- „Asylum was an appropriate response to particular instances in which authority was wrongfully exercised“ (Price 2009, S. 38).
- „Asyl war eine angemessene Antwort auf besondere Fälle, in denen öffentliche Gewalt ungerechterweise ausgeübt wurde“ (Übers. R. K.).
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Dann wäre bei Grotius, der dies nicht selbst ausgeführt und entwickelt hat, eine argumentative Anlage vorgezeichnet worden, auf der spätere Überlegungen aufbauen können:
- „Asyl sollte nicht länger dazu dienen, dem Verbrecher Straflosigkeit zu gewähren. Dieser Gedanke, der zunächst die Institution des Asyls überhaupt auszulöschen schien, trug dazu bei, das Asyl für den politischen Flüchtling zu reservieren“ (Kimminich 1978, S. 46) oder sonst von prüfbaren normativen Kriterien der Gerechtigkeit abhängig zu machen.
dd. Subjektives Recht auf Aufnahme und Auslieferungsschutz?
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Nachdrücklich („schon gar nicht“) vertritt Tießler-Marenda 2002, S. 241, Grotius sei kein Vorreiter eines subjektiven Rechts auf Asyl gewesen. Dafür spricht, dass das oben unter cc. behandelte Asylrecht stark (Tießler-Marenda 2002, S. 241: „einzig“) vom öffentlichen Interesse geprägt ist und dass seine Behandlung in einem bestimmten systematischen Kontext erfolgt, nämlich jenem des internationalen Kriegs- und Friedensrechts, der zwischenstaatlichen Verpflichtung zur Auslieferung und der ihm nicht prinzipiell entgegenstehenden Ausnahme von Rechten der Schutzflehenden und häufig besprochenen Beispielsfälle von Asylen (vgl. de Wilde 2018, S. 492).
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Allerdings bestimmte Grotius „Recht“ gleich eingangs seines Werks. Er kannte dort einerseits einen Begriff wonach
- „jus hic nihil aliud quam quod justum est significat“ (Grotius, lat., Hrsg. Becmann, 1718, lib. I. cap. 1 § III, S. 57),
- mit „‚Recht‘ … hier nur das Gerechte bezeichnet“ wird (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. I. cap. 1 § III, S. 47),
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dem er aber eine andere Bedeutung des Rechts entgegensetzte, die von der ersten abgeleitet sei und sich auf eine Person beziehe.
- „Quod sensu jus est qualitas moralis persona competens ad aliquid juste habendum vel agendum“ (Grotius, lat., Hrsg. Becmann, 1718, lib. I. cap. 1 § IV, S. 58).
- „In diesem Sinne ist das Recht eine moralische Eigenschaft, kraft der eine Person etwas mit Recht haben oder tun kann“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. I. cap. 1 § IV, S. 48).
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Hierauf aufbauend ist herausgestellt worden, dass „Grotius‘ De jure belli ac pacis libri tres … die erste systematische, umfassende Darstellung eines säkularen Naturrechts auf der Basis eines universellen Konzepts des subjektiven Individualrechts“ enthielt (Auer 2014, S. 17). Stephen C. Neff betont, im weit überwiegenden Teil des Werkes verwende Grotius letztere, engere Konzeption des Rechts, dem eine korrespondierende Pflicht entspreche, auch wenn er zumeist von „faculties“, Fähigkeiten, spreche. Gemeint seien „entitlements vis-à-vis some other person“, Ansprüche gegenüber einer anderen Person (Introduction, Abschnitt „On rights“, in: Grotius 1646, engl. Neff 2012, S. xxvii). Wie sich gerade dies systematisch zu der überwiegend völkerrechtlichen Anlage und zur Thematik des Werks verhält, muss hier offen bleiben. Es erscheint aber hiernach doch als bemerkenswert, dass Grotius das Asylrecht, obwohl die systematische Einbettung in eine vor allem zwischenstaatliche Rechtsproblematik Anderes nahe gelegt hätte, gerade nicht als Recht von Staaten, sondern als „supplicum jura“, Rechte der Schutzflehenden, formuliert. Ebenfalls erscheint es als beachtenswert, dass die Aufnahme von Vertriebenen als Gegenstand der Rechtsbeziehung zwischen Aufnahmebegehrenden und potentiellem Aufnahmestaat behandelt wird: „… darf den Fremden, welche, … vertrieben, um Aufnahme bitten, nicht abgeschlagen werden“ (Grotius 1625, dt. Schätzel 1950, lib. II. cap. 2 § XVI, S. 155). Es dürfte sich deshalb nicht ohne Weiteres von der Hand weisen lassen, wie Stephen C. Neff diese Formulierung in einer Anmerkung zu seiner Studienausgabe mit den folgenden Worten erklärt:
- „The contention, in effect, is that refugees have a right of admission to states for the purpose of obtaining asylum“ (Grotius 1646, engl. Neff 2012, S. 101 Fn. 22).
- „Was geltend gemacht wird, läuft darauf hinaus, dass Flüchtlinge ein Recht auf Gewährung von Zugang zu Staaten zum Zwecke des Erhalts von Asyl haben“ (Übers. R.K.).
b. Christian Wolff: Iura Connata, Pflicht zur Wohlfahrtsförderung und Asyl
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Christian Wolff (1679 – 1754) formulierte sehr weit gehende Gründe für Pflichten zur Aufnahme von Exilierten und von andernorts verfolgten Menschen. Immerhin verlören diese nicht ihre Eigenschaft, Mensch zu sein, wenn sie vertrieben würden, und müssten irgendwo auf der Welt wohnen können (Price 2009, S. 40). Staaten hatten bei Wolff den Zweck des Zusammenschlusses zur Förderung gemeinsamer Wohlfahrt; Zweck der in der Natur selbst begründet liegenden Gesellschaft der Menschheit, Societas Magna, „ist der gegenseitige Beistand zur Vervollkommnung und infolgedessen die Beförderung der Wohlfahrt der Menschheit mit vereinten Kräften“ (Kühler 2015, S. 121). Zu den Neuerungen der Lehre Wolffs gehört „die Lehre von den iura connata, von angeborenen, unbedingten, unentziehbaren Rechten aller Menschen, die Wolff aus dem Wesen und der Natur des Menschen selbst herleitet“ und zwar aus den seinem Wesen entspringenden Pflichten (Schneidereit 2015, S. 166 f.). Selbst unter Atheismusverdacht stehend (Schneidereit 2015, S. 166) und zusätzlich anknüpfend an christliche Vorstellungen von Mitleid, von Reue, Vergebung und Neubeginn, sah Wolff die Gewährung von Zuflucht als Akt der Liebe, der sogar gewöhnlichen Straftätern zukommen und mit Blick auf sie der Ermöglichung eines besseren moralischen Lebens dienen solle (Price 2009, S. 40). Wolff war der Ansicht, Exilierte dürften um Aufnahme bitten und Letztere könne Exilierten nicht verweigert werden, wenn dem nicht besondere Gründe entgegenstünden. Allerdings war die Liste solcher, einer Aufnahmepflicht entgegenstehender Gründe, die Wolff anerkannte, lang und inhaltlich so gestaltet, dass schon solche der öffentlichen Wohlfahrt genügten; den hoheitlichen Behörden sollte ein weiter Entscheidungsspielraum zustehen, dem keine Anfechtungsmöglichkeit der Exilierten entgegenstehe (Price 2009, S. 40 f.).