Asyl
Erstpublikation: 01.08.2019
- Einleitung: Asyl und Rechtsphilosophie
- Der Begriff „Asyl“
- Phänomenologische Annäherung an den Stoff: Skizze historischer Erscheinungsformen von Asyl und Asylrecht
- Asyl in der Antike (Europa und Levante)
- Sakrales Altar-Asyl und säkulare Asyl-Städte in Tenach und Altem Testament
- Hikesie, religiöse und säkulare Asylformen in der griechischen Antike
- Asylstädte, Tempelasyl und Logos Asylias im Hellenismus
- Sakrales Asyl und Kaiserstatuen-Asyl im Römischen Imperium
- Spätantike und frühmittelalterliche Asylorte bei Germanen
- Asyl im europäischen Mittelalter
- Asyl außerhalb Europas in vorkolonialer Zeit
- Asyl in der europäischen Neuzeit
- Asyl in der Antike (Europa und Levante)
- Asyl als Gegenstand theoretisch-philosophischer Betrachtung
- Theoretische Bedingungen der Möglichkeit von Asylrecht
- Strukturelle Bedingungen der Möglichkeit von Asyl
aa. Territorialität von Asyl, staatliche Souveränität, Pluralität und Partikularität
bb. Offenheit und Zugänglichkeit des Asyls - Legitimationstheoretische Bedingungen der Möglichkeit eines Asylrechts
aa. Schutzbedarf der Individuen
bb. Bedarf an Schutz der Aufnahmestaaten vor Trittbrettfahrer-Staaten
cc. Externes Korrektiv zu Funktionsfehlern rechtlicher Institutionen
dd. Legitimation jenseits bloßer Funktionalität des Rechts - Tatsächliche Bedingungen der Möglichkeit von Asyl
- Strukturelle Bedingungen der Möglichkeit von Asyl
- Einstellungen
- Ansätze einer kritischen Theorie zu Gender, Flucht und Asyl
- Analyse und Kritik von Asyl in der Perspektive eines dialektischen Materialismus
- Beleuchtung und Verdunkelung: Folgen unterschiedlicher Grob-Einstellungen zur Anwendung von Georg Jellineks Status-Lehre auf das Asylrecht
aa. Status-Lehre als erhellender Scheinwerfer auf Dimensionen asylrechtlicher Rechtsstellung
bb. Status-Lehre, Eindimensionalität und Verdunkelung
- Hannah Arendts Problemaufriss 1949: Asyl als Inbegriff bisher (vor 1949) gescheiterter Menschenrechte
- Skizze einiger Thesen
- Giorgio Agamben: Flüchtling als Grenzbegriff und das problematische Verhältnis zu Menschenrechten
- Rezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Das Recht, Rechte zu haben, Zugehörigkeit, Dauerprovisorien (Seyla Benhabib; Serena Parekh)
- Theoretische Bedingungen der Möglichkeit von Asylrecht
- Argumente praktischer Philosophie, die gegen ein Recht auf Asyl vorgebracht werden
- Ex-Gratia-Ansatz: Asyl als Gnade, nicht als moralisch begründetes Recht
- Negative Assoziationsfreiheit als Begründungsstrategie
- Asylrecht und -verpflichtung als Problem der Zurechenbarkeit und der Knappheit
- Betonung von Kontingenz und Willkür gesetzten Asyl- und Flüchtlingsschutzrechts
- Peter und Renata Singer: Klare moralische Pflicht – ohne „rights based arguments“
- Sibylle Tönnies: Asyl als Pflicht, Gastrecht und Einrichtungsgarantie
- Ex-Gratia-Ansatz: Asyl als Gnade, nicht als moralisch begründetes Recht
- Bibliographie
I. Einleitung: Asyl und Rechtsphilosophie
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Schutz zu Unrecht verfolgter Menschen vor Zugriff und Verhaftung, räumlicher Schutz von Orten der Zuflucht vor Gefahr und ähnliche Einrichtungen gehören seit früher Zeit zu gesellschaftlich geübten Praxen und rechtlich anerkannten Vorstellungen. Der Ausdruck „Asyl“ (II) hat sich mit solchen Vorstellungen verbunden. Der Schutz nahm in unterschiedlichen historisch-kulturellen Zusammenhängen sehr verschiedene Formen an (III). Die Frage der Schutzgewährung für Menschen nach ihrer Flucht vor existenziell bedrohlicher Gefahr wirft grundlegende rechtsphilosophische Fragen auf. Solche Fragen können nach zwei Richtungen gestellt werden.
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Einerseits können sie, normativ-präskriptiv, das praktische Problem betreffen, wie durchsetzbares und zwangsbewehrtes Recht gestaltet sein sollte, um als legitim, richtig und billigenswert Anerkennung zu verdienen. Soweit philosophische Herangehensweisen an diese Fragestellung die Forderung eines rechtlichen Schutzes nahelegen, werden sie im Artikel „Asylrecht“ behandelt; ergänzend greift der hier vorgelegte Artikel „Asyl“ Ansätze zum Umgang mit moralisch-praktischen Fragen auf, sofern die verwendeten Argumente für sich genommen noch nicht die Begründung eines Rechts auf Asyl erlauben (V).
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Andererseits können mit Flucht, Zuflucht und Asyl verbundene philosophische Fragen theoretisch ausgerichtet sein (IV; zu den hier als Synonyme verwendeten Begriffen von „Rechtstheorie“ und „theoretische Rechtsphilosophie“ s. bei von der Pfordten 2004, S. 160; vgl. zu einem weiteren Begriff dagegen Rüthers/Fischer/Birk 2016, § 1 Rn. 20 – 26, S. 13 – 16). Sie zielen dann primär auf Erkenntnis, zeichnen sich durch deskriptives Herangehen aus und beschäftigen sich mit grundsätzlichen Fragen wissenschaftlicher Forschung. Erkenntnisse zur Einrichtung von Asyl werden in der Perspektive theoretischer Rechtsphilosophie nicht, wie in der so genannten Rechtsdogmatik, in einer immanent am konkret geltenden Recht und seiner Anwendung kommentierend teilnehmenden Perspektive gewonnen, sondern gleichsam von außen aus der Sicht einer „Beobachterdisziplin“ (Jestaedt 2009, S. 19). Rechtstheorie als „juristische Strukturtheorie“ (Funke 2017b, Rn. 46, S. 61) zielt auf die Darstellung von Bedingungen der Möglichkeit rechtlichen Asyls, der Relevanz mancher grundsätzlicher Forschungseinstellungen für die Ergiebigkeit zu erwartender Erkenntnisse oder auf die Problematisierung der Schwierigkeiten, die der Einrichtung von Asyl zu Grunde liegen. Vor allem hierum soll es in diesem Artikel gehen.
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Diese Darstellung bedarf indes der Vorbereitung. Um Asyl, ein begrifflich wenig scharf bestimmtes rechtskulturelles und rechtliches Phänomen, in philosophischer Perspektive behandeln zu können, bedarf es zunächst einer Sichtung des Themenfelds. Diese soll so vorgenommen werden, dass nicht vorschnell Erscheinungsformen aus dem Blick geraten, die möglicherweise allgemein relevante Aspekte besonders deutlich aufscheinen lassen. Deshalb soll im Folgenden nach kurzen Vorüberlegungen zum Begriff Asyl und seiner Etymologie (Abschnitt II) eine ausführlichere vergegenwärtigende Skizze mancher historisch berichteter Erscheinungsformen rechtlich anerkannten Asylschutzes entworfen werden (III).
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Erst hiernach sollen einige wesentliche Elemente einer deskriptiven Theorie rechtlichen Asyls entwickelt (IV) werden, ehe unter den zentralen moralischen Argumenten solche angeführt werden, die sich auf Asyl beziehen, dessen Sicherung durch ein Recht auf Asyl aber für sich genommen nicht stützen (V).
II. Der Begriff „Asyl“
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Es dürfte wohl immer noch zutreffen, dass es eine allgemein anerkannte Definition von „Asyl“ zumindest im Völkerrecht nicht gibt (Frowein/Kühner 1983, S. 550). Das Institut de Droit International formulierte im Ersten Artikel seiner am 11. September 1950 in Bath verabschiedeten Resolution,
- „le terme ‚asile‘ désigne la protection qu’un Etat accorde sur son territoire ou dans un autre endroit relevant de certains de ses organes à un individu qui est venu la rechercher“ (Institut de Droit International 1950)
- – der Terminus „Asyl“ bezeichne jenen Schutz, den ein Staat auf seinem Territorium oder an einem anderen, der Hoheit bestimmter Organe des Staates unterstehenden Ort, einem angekommenen schutzsuchenden Individuum gewähre (geringfügig abweichende Übersetzung bei Wollenschläger 1985, S. 374).
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Dem ähnlich bestimmt George J. Andreopoulos in seinem Artikel für die Encyclopædia Britannica „asylum“ als
- „the protection granted by a state to a foreign citizen against his own state“ (Andreopoulos 2018):
- Schutz vor dem eigenen Staat, den ein Staat dem Bürger eines anderen Staates gewähre,
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und schließt sich damit fast wörtlich der Definition im ersten Satz des Werks von García-Mora aus dem Jahr 1956 zum Völkerrecht und zur Frage nach Asyl als Menschenrecht an (García-Mora 1956, S. 1).
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Teilweise wird ein sehr viel engerer Begriff gebildet. Bereits in die völkerrechtliche Definition von Asyl werden dann neben der Rechtsfolge auch ihre tatbestandlichen Voraussetzungen aufgenommen. Ein Beispiel dafür bietet die Ansicht Jochen Abr. Froweins und Rolf Kühners: „Unter Asyl versteht das Völkerrecht den Rechtsschutz, den der asylgewährende Staat einem Flüchtling vor politisch, religiös, rassisch oder ähnlich motivierter Verfolgung gewährt“ (Frowein/Kühner 1983, S. 550).
1. Erste Annäherung: Zwei mit „Asyl“ verbundene Bedeutungen
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Kimminich wies darauf hin, dass der Ausdruck „Asyl“ für zwei Bedeutungskomplexe verwendet wird. Er lässt sich
- „einmal als Ort der Schutzgewährung, zum anderen als Inhalt des Schutzes selbst“ (Kimminich 1968, S. 7)
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verstehen. Zumeist bezieht er sich auf Schutz von Personen, die geflohen sind, also den vorherigen Aufenthaltsort oder den Staat, dem sie angehören, zwangsweise verlassen haben.
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Rechtsethnologische Forschung hat zum Vorschlag einer etwas weiteren Bestimmung geführt, wonach manche „Institutionen, die Schutzgewährung garantieren“ (Turner 2005, S. 21) unter Asyl subsumiert werden, wobei gelten soll:
- „Asyl verleiht … in verbindlicher Form permanente oder temporäre Unverletzlichkeit kraft bestimmter Beziehungen räumlicher, persönlicher oder zeitlicher Art. Sporadische und spontane Gewährung von Schutz ist nicht gemeint“ (Turner 2005, S. 21).
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Dabei steht in der Geschichte der Bedeutungen des Ausdrucks „Asyl“ und der mit ihm angesprochenen Schutzrichtung die Flucht vor Verfolgung und Ergreifung im Vordergrund.
2. Ein Blick auf die Etymologie
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Die Etymologie bestätigt die Unverletzlichkeit eines Menschen oder Orts als etwas, das mit Asyl angesprochen wird. ἄσυλον (Asylon) ist gebildet aus 1. der verneinenden Vorsilbe Alpha privativum (Traulsen 2004, S. 164) und 2. dem Wort συλον (sўlon) für „Raub, Plünderung“ (Seebold 2011), gewaltsames Wegreißen (Traulsen 2004, S. 164), „Wegschleppen von Personen und Sachen“ (Schlesinger 1933, S. 26 f.) oder auch für das Recht darauf (Schlesinger 1933, S. 18) und auf Repressalie (Schlesinger 1933, S. 27). ἄσυλον (Asylon) bedeutet das Gegenteil einer solchen Befugnis (Schlesinger 1933, S. 28), sei es als Privileg oder rechtlicher „Status“ (Chaniotis 2007, S. 234) einer Person, der sie vor der Ergreifung durch die Verfolgenden zum Zwecke der Durchsetzung eines vermeintlichen Anspruchs schützt (Traulsen 2004, S. 164), sei es als Unverletzlichkeit eines Ortes (ebda.). In der lateinischen Sprache wurde mit dem Lehnwort „Asylum“ die Unverletzlichkeit auf den Ort selbst übertragen (Traulsen 2004, S. 164), was zum seither verbreiteten Gebrauch für eine schützende „Zufluchtsstätte“ (Tiedemann 2015, S. 1) führte.
III. Phänomenologische Annäherung an den Stoff: Skizze historischer Erscheinungsformen von Asyl und Asylrecht
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Otto Kimminich formulierte 1968:
- „Das Asyl zählt zu den ältesten Rechtseinrichtungen der Menschheit. Uralte Sagen berichten von Orten, heiligen Hainen, Tempeln, Altären und Heiligtümern, in denen der Verfolgte Zuflucht und Schutz finden konnte“ (Kimminich 1968, S. 7).
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Auch andere, teilweise säkulare Formen rechtlicher Unantastbarkeit oder Unverletzlichkeit von Menschen oder ihres Schutzes vor Verfolgung hat es nach den Ergebnissen rechtshistorischer Forschung bereits früh gegeben. Von ihnen sollen im Folgenden einige zusammengetragen werden. Dies geschieht nicht in der Illusion, ohne Weiteres „aus der Geschichte des Asyls letztlich Argumente für die aktuelle rechtspolitische Problematik destillieren“ zu können oder in Verkennung des Einwandes, dass „ein historisches Einleitungskapitel … der Komplexität des … Asyl nicht gerecht“ wird (Zitate bei Härter, 2004, S. 243), auf die in ähnlicher Weise immer wieder hingewiesen worden ist (vgl. Wilhelm 1999, S. 144 f.). Das Erkenntnisziel im Rahmen dieses rechtsphilosophischen Artikels ist viel bescheidener: Die Zusammenstellung einiger historischer oder ethnologischer Befunde erfolgt im Bemühen, eine erste, grobe, vorbereitende Vergewisserung über das Themenfeld von Asyl und Asylrecht anzustreben. Die begriffliche Systembildung muss, wie Immanuel Kant gleich eingangs seiner rechtsphilosophischen Hauptschrift, der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, überzeugend formulierte, „auf die empirische Mannigfaltigkeit … Rücksicht nehmen“ (Kant AA Bd. VI, 1907 / 1969, S. 205), um nicht von vorneherein an der rechtlich-sozialen Wirklichkeit vorbei zu argumentieren.
1. Asyl in der Antike (Europa und Levante)
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Hinweise auf Vorstellungen von einer religiös oder politisch begründeten Unverletzlichkeit von Menschen oder Zufluchtsorten und Schutz vor Verfolgung lassen sich bereits für die Antike finden.
a. Sakrales Altar-Asyl und säkulare Asyl-Städte in Tenach und Altem Testament
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So berichtet schon der Tenach beziehungsweise das Alte Testament an verschiedenen Stellen (Schemot/Namen/Exodus 21, 13 f.; 1. Könige 1, 50; 1. Könige 2, 28) von der Zuflucht zu Altären und dem Ergreifen der Altarhörner an ihren Ecken. Zu ihr kam es möglicherweise mitunter vor der Zeit des babylonischen Exils im 6. vorchristlichen Jahrhundert, als noch nicht, wie zuletzt, der Tempel in Jerusalem als einziger anerkannt war, innerhalb dessen zudem der Zutritt zum heiligen Bezirk streng verboten wurde (Traulsen 2004, S. 82). Ob auch die Passage in Psalm 23 vom Trost nach der Wanderung im finsteren Tal des Todesschattens: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ auf das Altar-Asyl anspielt, ist unsicher (Nachweise zu Standpunkten bei Crüsemann 1993, S. 51). Zu dem wenigen, was für die frühere Zeit als gesichert gilt, gehört, dass die Anschauung lebendig war, dass, „wer die Hörner eines Altares ergriff, teilhatte an der Sphäre des Heiligen und vor gewaltsamem Zugriff geschützt war“ (Traulsen 2004, S. 82). Teilweise wird angenommen, dass der Schutz hinsichtlich tatbestandlicher Voraussetzungen (Flucht- und Verfolgungsgrund) zu Beginn nicht eingegrenzt und auch sonst nicht genauer rechtlich geregelt war, sondern nur auf der Scheu des Verfolgers beruhte (so Traulsen 2004, S. 65 und 82: Beschränkung nachträglich ins Bundesbuch eingefügt; a. A. Gertz, in ders. 2019, S. 225; Turner 2005, S. 53 f.; Landau 1994, S. 50: auch hier Beschränkung auf Fälle drohender Verfolgung wegen unvorsätzlicher Tötung).
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Ferner berichtet der Tenach beziehungsweise das Alte Testament von drei (Devarim/Reden/Deuteronomium 4, 41 f.), andernorts von sechs (Bemidbar/In der Wüste/Numeri 35, 6; Devarim/Reden/Deuteronomium 19, 1 – 13) Zuflucht- oder Freistädten „für die Israeliten und für die Fremdlinge und die Beisassen unter euch“ (Bemidbar/In der Wüste/Numeri 35, 15), sowie von herzurichtenden Fluchtwegen dorthin. Wer einen Menschen getötet hatte, dorthin floh und über wen geurteilt wurde, dass die Tötung ohne Hass und Vorsatz erfolgt sei, sollte nicht, wie sonst, zum Zwecke der Blutrache der Familie des Opfers übergeben, sondern innerhalb der Stadt geschützt werden (Traulsen 2004, S. 82 – 84).
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Soweit Asyl häufig mit Schutz vor Auslieferung in Verbindung gebracht wird, ist ferner die Vorstellung bemerkenswert, die in Devarim/Reden/Deuteronomium 23, 16 formuliert wurde, wo es heißt: „Du sollst den Knecht nicht seinem Herrn ausliefern, der von ihm zu dir geflüchtet ist.“
b. Hikesie, religiöse und säkulare Asylformen in der griechischen Antike
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Auch aus der griechischen Antike wird berichtet, dass die „mit asyl- und hiket- (oder hikes-) zusammengesetzten Begriffe … eine Gemeinsamkeit [kannten, R. K.], die es rechtfertigt, sie als Formen des antiken Asyls zu verstehen: sie alle drücken einen religiös oder politisch motivierten Anspruch auf Schutz oder Zuflucht aus, der insbesondere bei Bedrohung und Verfolgung Bedeutung erlangte“ (Dreher 2003a, S. 1). Die historische Forschung hat vor allem zwei Grundformen eines solchen institutionellen Schutzes herausgearbeitet, nämlich einerseits jenen, der sich bezog auf die Hikesia, das „Ritual“ (Chaniotis 2007, S. 233) der Schutzsuche (ausführlich Traulsen 2004, S. 132 – 163), vor allem „das sakrale Asyl als Schutzsuche an einem heiligen Ort“ (Dreher 2003a, S. 3), der als Hain, Altar oder Tempel einer griechischen Gottheit gewidmet war (Dreher 2003a, S. 9), andererseits die religiöse oder säkulare Asylia.
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Diese bezeichnete zum einen die Unverletzlichkeit von heiligen Orten (Chaniotis 2007, S. 234), wo „jede Form der Gewaltanwendung“ einem „Tabu unterlag“ (beide Zitate: Traulsen 2004, S. 172), so dass Flüchtige durch Betreten eines als heilig angesehenen Bezirks oder Berühren eines Götterbildes oder Altars als letztem Ausweg in unmittelbarer Bedrängnis dieses Schutzes teilhaftig werden konnten (Traulsen 2004, S. 175 f.). Die Verletzung religiöser Gebote zu ahnden, war zwar eher Aufgabe der verletzten Gottheit als weltlicher Gerichte; für die Diskussion des sakralen Asylschutzes im antiken Griechenland unter Rechtsgesichtspunkten spricht aber neben dem Fehlen der Trennung der religiösen von der rechtlichen Sphäre und neben der Tatsache, dass die Verletzung religiöser Gebote potentiell strafbewehrt war (Traulsen 2004, S. 182), vor allem, dass an ihnen legitimer Rechtszwang seine unüberwindliche Grenze fand. So konnte sich zum Beispiel eine zivilrechtliche Pflicht des Eigentümers zur Herausgabe einer Person, die im damaligen Verständnis als Sklave galt, durch deren Flucht verwandeln in die Pflicht des Eigentümers, dem Gläubiger im Tempel vor Zeugen den nicht greifbaren Sklaven zu zeigen (Traulsen 2004, S. 212).
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In einem säkularen Sinne bezeichnete Asylia „die Verleihung von Schutzrechten, die Ausländer vor dem gerechtfertigten Zugriff auf Leib und Gut bewahren sollten“ (Dreher 2003a, S. 3). In einer Situation, die es Bürgern einer Polis erlaubte, sich wegen eines seitens des Bürgers einer anderen Polis erlittenen Schadens an einem beliebigen anderen Bürger jener anderen Stadt im Wege außergerichtlicher Selbsthilfe gewaltsam schadlos zu halten (sylàn, Derlien 2003, S. 39 f.), konnte eine griechische Polis mit der Asylia, dem so genannten persönlichen Asyl, bestimmte Fremde, etwa nachdem sie sich verdient gemacht hatten, gegenüber anderen Fremden privilegieren (Dreher 2003a, S. 9), um sie „vor der Selbsthilfe von Seiten ihrer [der Polis, R. K.] eigenen Bürgerschaft abzusichern“ (Dreher 2003b, S. 79). Vereinzelt wird überliefert, es habe auch Verleihungen der Asylie an Bürger der eigenen Polis gegeben (Dreher 2003a, S. 78).
c. Asylstädte, Tempelasyl und Logos Asylias im Hellenismus
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Für die Epoche des Hellenismus lässt sich Ergebnissen der rechtshistorischen Forschung entnehmen, dass die Unverletzlichkeit von Heiligtümern bestimmter Städte nun ausdrücklich, multilateral und politisch-rechtlich anerkannt (Buraselis 2003, S. 146) sowie, als territoriales Asyl, auf Städte selbst ausgedehnt wurde mit der Konsequenz, dass Personen, die sich in deren Gebiet aufhielten, sogar als Fremde oder Metöken vor Gewalt und Zugriff geschützt waren (Traulsen 2004, S. 231).
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Anknüpfend an das Tempelasyl wurde im ptolemäischen Ägypten eine Tradition begründet, die als so genannter Schutzbrief (logos asylias) auch in der Spätantike im frühbyzantinischen Ägypten eine Rolle spielte. Dreher (2003a, S. 10) beschreibt sie als private oder hoheitliche Zusicherung von Schutz einer Person vor Zugriffen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Als in der Regel befristete Zusicherung schützte sie Personen, gegen die wegen einer Schuld, oft einer Steuerschuld, vorgegangen werden sollte, vorübergehend auch bei Verlassen der Asylstätte vor Verfolgung (Palme 2003, S. 207 f.) und ermöglichte es so, eine Lösung zu finden, die die Fähigkeit, Steuer- und andere Schulden zu begleichen, erhalten konnte und sowohl aus Sicht der öffentlichen Steuer- und Verfolgungsbehörden oder privaten Gläubiger als auch in der Perspektive der geflüchteten Person günstiger war als die ruinöse Beschlagnahmung aller Vermögensgegenstände (Beispiel bei Palme 2003, S. 210 f.).
d. Sakrales Asyl und Kaiserstatuen-Asyl im Römischen Imperium
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Umstritten (Überblick über die Diskussion bei Dreher 2003a, S. 5; Derlien 2003, S. 226 – 228) ist, ob es eine eigene antik-römische Tradition sakralen Asyls gab. Hinsichtlich eroberter Gebiete wird berichtet, dass römische Herrscher sakrale Asyle, die sie aus hellenistischer Zeit übernommen hatten – wieder reduziert auf die eigentlichen Tempel – ausdrücklich und förmlich anerkannt und geachtet, aber mitunter auch offen missachtet haben sollen, wenn es, wie etwa beim Caesar-Verschwörer Marcus Petronius, der als Schutzflehender in den Artemis-Tempel von Ephesos geflohen war, als politisch opportun galt (Traulsen 2004, S. 255 f.).
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Dagegen entwickelte sich in der römischen Kaiserzeit mit dem Asyl an Kaiserstatuen ein rechtlich genauer ausformuliertes Institut: Herstellung körperlichen Kontakts geflüchteter freier oder als Sklaven angesehener Menschen mit einer Kaiserstatue ließ Übergriffe auf die Schutzflehenden als mittelbaren Angriff auf den Kaiser und Crimen Laesae Maiestatis erscheinen. Durch öffentliche Aufmerksamkeit erlangter und strafbewehrter Schutz (Gamauf 2003, S. 179 f.) führte zu einem Verfahren behördlicher Prüfung der Berechtigung. Gelang es nicht, zuständige Autoritäten zu überzeugen, folgte Bestrafung wegen Benachteiligung anderer durch Flucht, andernfalls kam ein Vorgehen gegen den Verfolger in Betracht (Gamauf 2003, S. 190). Zu Statuen geflüchtete versklavte Menschen, denen es gelang, in respektvoller Art und Weise eine Beschwerde vorzutragen, die sich bezog auf die Verletzung von Mindeststandards der Sklavenbehandlung durch eine Grausamkeit, die selbst nach damaligen Vorstellungen übertrieben war, wie Unterversorgung mit dem Lebensnotwendigen oder bestimmte Arten sexueller Übergriffe, konnten im Erfolgsfall ihren Verkauf an einen neuen Eigentümer erreichen; andernfalls wurden sie an den bisherigen Herrn zurückgegeben und möglicherweise zuvor behördlich bestraft (Gamauf 2003, S. 191 f.). Auch soll es als Sklaven angesehenen Menschen unter bestimmten Umständen möglich gewesen sein, nach ihrem Freikauf die vom Herrn verweigerte Freilassung (Knoch 2017, S. 100) oder ein bei ihrem Kauf zugesichertes Verbot der Verwendung zur Prostitution (Gamauf 1999, S. 90) durchzusetzen, Schutz vor Kastration oder sexuellem Missbrauch zu erlangen, wenn er deutlich über die damals übliche geschlechtliche Ausbeutung von Kindern, Frauen und Männern einschließlich Eunuchen hinausging und die öffentliche Moral gefährdete (Gamauf 1999, S. 86 – 88). Auch soll es die Möglichkeit gegeben haben, mittels Asyls Schutz vor besonderer Grausamkeit wie grundlosem Verprügeln oder Auspeitschen durch beauftragte Tortores, Einsperren im Ergastulum, an Haaren Aufhängen, Beine Brechen, Brandmarken oder Ähnlichem zu erhalten (Gamauf 1999, S. 85). Wenn dabei pragmatische Gesichtspunkte – Stabilität der Einrichtung der Sklaverei, Verhinderung von Aufständen und Flucht sowie Aufrechterhaltung moralischer Mindeststandards unter der römischen Bürgerschaft – ausschlaggebend gewesen und Zweifel an der Annahme einer sachenrechtlichen Qualität von Sklaven nicht ersichtlich relevant gemacht worden sein sollen, so war doch das Problem, dass „ein Sklave als Sache behandelt wird, obwohl er Mensch ist … römischen Juristen allgegenwärtig“ (Gamauf 1999, S. 101): Sie wussten darum, dass das, was sie anwandten, „eine juristische Konstruktion war, die der Wirklichkeit so nicht gerecht wurde“ (Knoch 2017, S. 24).
e. Spätantike und frühmittelalterliche Asylorte bei Germanen
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Es gibt Hinweise, die dafür sprechen, dass in der Spätantike und dem Frühmittelalter bei heidnischen Schweden (Fruscione 2003, S. 202 – 210), Sachsen auf dem europäischen Festland (Fruscione 2003, S. 111 und 114 f.) sowie Angelsachsen in England (Fruscione 2003, S. 180 – 185) Heiligtümer als Schutzstätten galten. Archäologische Funde sollen die Vermutung stützen, dass in Skandinavien noch im Frühmittelalter heidnisch-germanische Kultstätten potentiellen Opfern von Blutrache – Einzelnen und ihren Familienangehörigen – als Zufluchtsorte sowie dem Zweck dienten, mittels eines Verfahrens und eines Sühnevertrags zu einem friedlichen Ausgleich zu kommen (Fruscione 2003, S. 208). Die von Augustinus in seinem De Civitate Dei (Augustinus 2007, Buch I, Kap.1, S. 4 f.) berichtete Achtung kirchlichen Asyls bei der Plünderung Roms durch die heidnisch-germanischen Goten unter Alarich im Jahr 410 n. Chr., die Zeitgenossen erstaunte, wird teilweise als Anzeichen für Elemente einer Kontinuität zwischen heidnisch-germanischen Asylvorstellungen und christlichem Kirchenasyl angeführt (Fruscione 2003, S. 193). Augustinus selbst, dessen Werk als Stellungnahme hineingeschrieben ist in die Auseinandersetzung um den Vorwurf, das Christentum sei für den Niedergang des römischen Weltreichs verantwortlich, führte dagegen persönliche Schonung auf die Wirkung des Namens Christi zurück und sah die Wirksamkeit christlicher Asylstätten in ihrer Weihe sowie in der Barmherzigkeit in christlichen Zeiten begründet (Augustinus 2007, Buch I, Kap.1, S. 5).
2. Asyl im europäischen Mittelalter
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Für das europäische Mittelalter sind sowohl religiös begründete Arten räumlichen oder persönlichen Schutzes vor Verfolgung als auch weltliche Asylprivilegien und Zufluchtsstätten überliefert, die zu einer Zeit politischer Wirren, Kriege und vor allem verbreiteter Selbsthilfe und Blutrache oft als Korrektiv für eine unzureichende öffentliche Gesetzgebung (von Pollern 1980, S. 33), für das Fehlen einer Rechtsordnung, die mittels einer systematisch agierenden öffentlichen Justiz effektiv flankiert worden wäre, sowie für den damit verbundenen Mangel an Rechtssicherheit bei oft drastischen Strafen galten.
a. Christliches Kirchen-Asyl
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In der Spätantike, im Mittelalter und der frühen Neuzeit gehörte das Kirchen-Asyl zu jenen Einrichtungen, von denen die wissenschaftliche Rechtsgeschichte berichtet, dass sie das Rechtsleben erheblich prägten. Nach christlichem Verständnis entstand es als Praxis der Barmherzigkeit: aus der Sitte, sich für Not leidende Menschen einzusetzen und aus der Pflicht kirchlicher Würdenträger zur Intercessio, also dem Gebot, „für Bedrängte, Schuldige wie Unschuldige, einzutreten“ (Siems 2003, S. 266). Zu Gute kommen sollte dies auch Menschen, die der Strafverfolgung unterworfen waren, um Strafmilderung oder -erlass zu bewirken (Robbers 1988, S. 33). So war das neue Spezifikum des Kirchenasyls seine „forme personelle“ (Bolesta-Koziebrodzki 1962, S. 33), seine durch das persönliche Einschreiten des Bischofs zu Gunsten geflüchteter Menschen charakterisierte Gestalt. Mit dieser Praxis verbanden sich, im christlichen Selbstverständnis erst sekundär, gleichsam als „droit accessoire“ (Bolesta-Koziebrodzki 1962, S. 33), akzessorisches Recht, bereits vorgefundene Vorstellungen einer räumlichen Unverletzlichkeit von Orten oder Gebäuden. Auf dem Konzil von Serdika 343 n. Chr. erhielt die bischöfliche Interzession ihre Formulierung: „Ehrenhaft ist es aber, dass der Bischof sein Dazwischentreten denjenigen gewährt, die durch irgendeine ungerechte Gewalt bedrückt werden“ (Cond. Serdincense can. 5, zit. nach Derlien 2003, S. 340). Für Zusammenhänge von Flucht und Asyl wurde die damit angesprochene Praxis im Konzil von Orange 441 n. Chr. verdeutlicht mit der Erklärung, es solle, wer in eine Kirche geflüchtet sei, nicht ausgeliefert werden, „und zwar wegen der Ehrwürdigkeit des Ortes und der Beistandspflicht des Bischofs (loci reverentia et intercessione episcopi)“ (Landau 1994, S. 55). Kirchen sahen für Fälle der Asylverletzung Exkommunikation vor, was auch angesichts der Schwäche weltlicher Herrscher in der Spätantike und im frühen Mittelalter bedeutsam war (Landau 1994, S. 55 f.).
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Dem korrespondierte eine säkular-hoheitliche Anerkennung und Beschränkung solcher Praxis. Bereits kurz nach der Beendigung der Verfolgung von Christinnen und Christen durch das Toleranzedikt von Nikomedia 311 n. Chr. und die Toleranzvereinbarung von Mailand 313 n. Chr. war der Status von Kirchen an jenen der alten Kulte angeglichen worden, als in den Jahren 316 und 321 n. Chr. die Möglichkeit der Sklaven-Freilassung in Kulträumen auf christliche Kirchen ausgedehnt wurde (Derlien 2003, S. 338 unter Bezugnahme auf Cod. Theod. 4, 7, 1 und Cod. Iust. I, 13, 1 und 2). Im Codex Theodosianus (438 n. Chr.) wurden Regeln, die in Bezug auf Kirchen getroffen worden waren, für unverletzlich erklärt (Cod. Theod. 16, 2, 29), von Eigentümern, wegen gebotener Achtung des ehrwürdigen Ortes, gefordert, entlaufene versklavte Personen in Frieden wegzuführen (Derlien 2003, S. 341; Cod. Theod. 9, 45, 5) und Altären besondere heilige Unverletzlichkeit zugesprochen (Cod. Theod. 9, 45, 4 und 5). Der Codex Iustinianus I, 12, 2 (534 n. Chr.) behandelte den Asylbruch als Crimen Maiestatis (Fruscione 2012, Sp. 1775), wie früher die Missachtung des Statuenasyls als Majestätsverbrechen gegolten hatte. Dazu fügt sich, dass man auf dem Konzil von Macôn 585 n. Chr. zusätzlich mit der traditionellen Legitimationsfigur der Erinnerung an das einstige Asyl der Kaiserstatuen argumentierte (Siems 1991, S. 141 mit Fn. 11). Die westgotischen Leges Visigothorum missbilligten allerdings die auf die Tradition des Kaiserstatuen-Asyls aufbauende bischöfliche Praxis, Herren geflüchteter versklavter Personen zu deren Verkauf zu zwingen; lediglich die Entschuldigung und Zusicherung der Straffreiheit vor Auslieferung durfte durchgesetzt werden (Siems 1991, S. 162 f.). Kaiserkonstitutionen wie Codex Theodosioanus oder Codex Iustinianus schufen nicht die Grundlage rechtlichen Kirchen-Asyls (Fruscione 2012, Sp. 1775), sondern erkannten die kirchliche Praxis als „genuines Recht der Kirche“ (Landau 1994, S. 57) einerseits an und versuchten andererseits, sie zu limitieren, etwa durch Ausschluss bestimmter Straftatbestände (Verfolgungsgründe) vom Schutz im oströmisch-byzantinischen Kaiserreich (Landau 1994, S. 52 f.). Dem dienten auch Regulierungen, die zwar einem dauerhaften Schutz vor Auslieferung entgegenstanden, aber in Byzanz wie im spätantiken und mittelalterlichen Westen den oft effektiven Versuch billigten, jedenfalls einen dauerhaften Schutz vor Todes- und Leibesstrafen zu gewährleisten (Landau 1994, S. 54 [Byzanz] und 58 [Westen]). Solche Strafmilderungen, die in den Leges Barbarorum und dem Recht des merowingischen Frankenreiches vorgesehen waren, wurden unter der erstarkten Monarchie der Karolinger nicht mehr ohne weiteres anerkannt (Fruscione 2012, Sp. 1776; a. A. Landau 1999, S. 309); sie waren nun von der königlichen Gnade abhängig (Siems 1991, S. 177). Das nun säkular-hoheitlichen Anordnungen (Kapitularien) unterworfene Kirchen-Asylrecht schloss zudem bereits verurteilte Personen vom Kirchenasyl aus (Fruscione 2012, Sp. 1776; Siems 1991, S. 178 f.). Mit dem Erstarken des Staates und der staatlichen Justiz wurde das kirchliche Asylrecht zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert zunehmend beschränkt und zuletzt rechtlich abgeschafft (Landau 1994, S. 59; Robbers 1988, S. 37).
b. Säkulares Asyl, insbesondere kaiserliches Asylprivileg mancher Städte
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Römisch-deutsche Kaiser verliehen ab dem 12. Jahrhundert vielen Städten säkulare Asylbefugnisse (Übersichten bei von Pollern 1980, S. 33 f. und Reck 1970, S. 113 – 116). Daneben sollen bestimmte Freihöfe, Fronhöfe und Kehlhöfe, ferner so genannte Freiplätze oder Asylsteine als weltliche Asyle anerkannt gewesen sein (Kittelberger 1970, S. 4). Waren viele „Schutzorte … anfänglich allgemeine Asyle, in die sich verfolgte Personen ohne Unterschied“ – ohne Differenzierung nach der ihnen vorgeworfenen Straftat – retten konnten (Reck 1970, S. 40), so stellte sich die Lage hinsichtlich der Verfolgungsgründe, für die Städten die Gewährung von Asylschutz gestattet war, bis zuletzt, noch in der frühen Neuzeit, sehr uneinheitlich dar (Härter, 2003, S. 316). „Die anfänglich uneingeschränkten Asyle boten den durch Blutrache oder Fehde Verfolgten die einzige Schutzmöglichkeit … Von hier konnten die Verfolgten ungehindert Sühneverhandlungen in die Wege leiten“ (Reck 1970, S. 37 f.). Parallel zu einer zunehmenden Entwicklung hoheitlicher Strafverfolgung wurden, bei im Einzelnen sehr unterschiedlichen Regelungen, immer häufiger bestimmte Gruppen von Verfolgungstatbeständen von der Möglichkeit des Asylschutzes ausgeschlossen. Im Spätstadium mittelalterlich-säkularer Asylprivilegien bezogen sie sich mitunter auf nun genau und positiv bestimmte Verfolgungstatbestände. So war etwa das besonders gründlich erforschte Reutlinger Asylprivileg beschränkt auf die Verfolgung wegen außerhalb Reutlingens begangenen „ungeverlich todsleg“ (Privileg König Maximilian I. von 1495, zitiert nach Reck 1970, S. 28), was wohl etwa Tötung ohne böse Absicht (vgl. Artikel „geværlich“, „gevâre“ und „gevære“ in MWB-Online Std. 25. Juli 2018) bedeutete oder voraussetzte, dass entweder kein Vorsatz (Reck 1970, S. 44) oder ein Rechtfertigungsgrund vorlag. Erfasst war insbesondere eine Tötung „aus hitze des zorns oder zu aufenthalt und rettung irs lebens“ (ebenda). Dieses eng beschränkte Asylprivileg unterstützte Bemühungen zur Eindämmung von Selbstjustiz und stärkte den Schutz des Lebens ungefährlicher Totschläger (Reck 1970, S. 39). Dabei waren weder Juden noch, nach der Reformation, Anhänger des römischen Katholizismus noch eigene Stadtbürger generell asylunfähig; sie mussten nicht ausgeliefert oder verurteilt werden (Reck 1970, S. 40 – 45 und 85 – 88). Einer Verletzung des Asylschutzes durch Selbsthilfe trat die Stadt mit Rechtszwang durch Haft entgegen (Reck 1970, S. 90). Der Rechtscharakter des Asyls wurde durch häufige Begutachtung der Relevanz des städtischen Asylprivilegs durch die juristische Fakultät der Universität Tübingen und durch Befassung des Reichshofrats und das Reichskammergerichts zur Durchsetzung gegenüber auswärtigen Hoheitsträgern verdeutlicht, die auch in anderem Zusammenhang häufig mit Fragen des Asylrechts befasst waren (Härter, 2003, S. 320).
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Nachdem ein württembergischer Vogt erstochen worden und die Auslieferung des der Tat Beschuldigten verlangt worden war, wurde die Achtung des Asyls des Barfüßlerklosters durch die Reichsstadt Reutlingen zum Gegenstand militärischer Auseinandersetzung zwischen dem Herzogtum Württemberg und Reutlingen sowie seinen Alliierten vom Schwäbischen Bund (Reck 1970, S. 84).
3. Asyl außerhalb Europas in vorkolonialer Zeit
a. Indien
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Aus dem vorkolonialen Indien berichtet Friedrich Wilhelm zum Schutz Fremder und Verfolgter unter Berufung auf ältere, profunde Studien seines Lehrers Paul Thieme von einer sehr alten, wohl der Ausbildung des Kastensystems vorausliegenden Tradition der Gastfreundschaft, die sogar in die Selbstbezeichnung der nach Indien eingewanderten Indoeuropäer als „die Gastfreien, die Wirtlichen“ (Wilhelm 1999, S. 129 f.) eingegangen sein soll. Der Bericht bezieht sich aber weit gehend auf entweder religiös oder politisch motivierten Schutz. Manches, darunter die literarische Verarbeitung in Kalidasas Schauspiel Abhijñānaśākuntala, scheint dafür zu sprechen, dass Waldasyle, Büßerhaine und geschützte Tempelstätten in vorislamischer Zeit auch seitens der Inhaber hoheitlicher Macht respektiert wurden (Wilhelm 1999, S. 136 f.). Dürften wir unterstellen, dass es sich tatsächlich so verhalten hat, so würde es sich wohl um eine, wenngleich vermutlich nicht juristisch begründete, Begrenzung rechtlicher Zugriffsmöglichkeiten im Zusammenhang mit einer Verfolgung und um Möglichkeiten der Flucht zum Schutz vor Rechtszwang handeln. Indes ist eine rechtlich relevante Institutionalisierung nicht gesichert; lediglich „vage Hinweise“ (Turner 2005, S. 474) darauf liegen vor.
b. Asyl in den Amerikas, China, Afrika
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Im vorkolonialen Nordamerika sind „Asylinstitutionen als Komponenten der Konfliktregulierung“ (Turner 2005, S. 470) belegt, allerdings kaum durch Quellen, die als aussagekräftig, verlässlich und nicht als stark ideologisch – durch einen Vergleich indigener Schutzregelungen mit hebräischen Asylstädten – überformt gelten (genauer Turner 2005, S. 469 f.). Für das präkolumbische Meso- und Südamerika soll es keine gesicherten Angaben geben (ebda. S. 470).
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Im alten China soll es institutionalisierten Schutz geflüchteter Personen auch wegen der „Vorstellung der Intervention übernatürlicher Instanzen in Konfliktsituationen“ (Turner 2005, S. 473) nur in engem Rahmen gegeben haben. „Statt Asylstätten fungierten in China … Rückzugsgebiete als Schutzzonen, die im Falle von Verfolgung aufgesucht werden konnten … Sie boten faktisch … Schutz vor staatlichem Zugriff durch aktive Gewaltbereitschaft“ (Turner 2005, S. 473).
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Dagegen sind Ergebnissen ethnologischer Forschung für das vorkoloniale Afrika vielfältige Beispiele institutionalisierten Schutzes vor Verfolgung zu entnehmen.
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Mit Blick auf Nordafrika wird bei Turner 2005 auf der Basis einer großen Quellendichte ausführlich von Zawaya-Zentren der Sufi-Bruderschaften im Maghreb berichtet, bei denen Flüchtige unterschiedlicher Herkunft und Religion, insbesondere auch Juden oder Christen, und unabhängig von einem konkreten Fluchtgrund Schutz vor Verfolgung durch Ordnungskräfte und Hilfe durch rechtliche Vermittlungsdienste der spirituellen Führer der Einrichtung finden konnten. Ab dem 14. Jahrhundert als „Horte der Sünde“ angegriffen, dienten Zawaya-Zentren bis ins 19. Jahrhundert hinein Personen, die wegen Verdachts schwerer Delikte, als vermeintliche Tagediebe, Prostituierte, Bettler oder Schuldner verfolgt waren, aber auch auch Frauen, die vor häuslicher Gewalt geflüchtet waren, als Zufluchtsstätten, die geachtet wurden (Turner 2005, S. 386 f.). In Marokko sollen viele versklavte Personen durch Flucht ins Asyl den Verkauf an einen neuen Herrn erzwungen oder vor Rückkehr zum bisherigen Besitzer erreicht haben, dass Körperstrafen nicht mehr vollzogen werden durften und der Herr öffentlich gelobte, sie künftig besser zu behandeln (Turner 2005, S. 389).
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Der nigerianische Jurist Taslim Olawale Elias (Elias 1972 S. 90 und 216) stellte fest, es habe „in dem Gewohnheitsrecht der meisten Gesellschaften in Afrika Zufluchtsorte für … Personen gegeben …, die eine ungerechtfertigte gerichtliche Verfolgung befürchteten, und daß diese ganz allgemein respektiert wurden“ (dt. Zusammenfassung bei Raum 1999, S. 251). Jedenfalls scheint es auch weiter südlich eine Vielzahl von Beispielen institutionalisierten räumlichen Schutzes gegeben zu haben. Berichtet wird etwa von der Möglichkeit der Schutzsuche vor Rache bei akephalen Nuern am oberen Nil (Raum 1999, S. 251). Ferner gibt es einen Bericht der Glidyi-Ewe, „in dem ein Asyl beschrieben wird, zu dem eine Person fliehen konnte, die einen anderen erschlagen hatte, aber auch ein Sklave, der ein unparteiisches Verhör erreichen und seine Rechte einklagen wollte“ (Raum 1999, S. 251; genauer Westermann 1935, S. 319 f.). Auch wird berichtet, dass bei der ethnischen Gruppe der Chaga nahe dem Kilimanjaro manche Oberhäupter die Möglichkeit hatten, Flüchtlingen aus fremden Stämmen und sogar Mördern Asyl zu gewähren (Raum 1999, S. 251).
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Der Münchener Ethnologe Johannes W. Raum berichtet von Ergebnissen systematisch vergleichender Forschung, wonach „es vor der Unterwerfung unter die politische Herrschaft der Europäer in allen Stammesfürstentümern und Königreichen der Südostafrikaner mit Bantusprachen Asyl- oder Zufluchtsstätten für zum Tode verurteilte Rechtsbrecher sowie andere Personen gegeben hat. Auf diese Zufluchtsorte hatte der Scharfrichter keinen Zugriff, auch wenn die Verurteilten auf eine andere Art und Weise betraft werden konnten“ (Raum 1999, S. 252). Mit besonderem Blick auf die ethnischen Gruppen der Tswana, Zulu und Rotse beschreibt Raum Zufluchtsorte und Asyl genauer und ordnet sie in präzise beschriebene Zusammenhänge mit Wirtschaftsformen, Gesellschaftsordnung, vor allem aber politische, verfassungsrechtliche und sonst juristische Kontexte ein. Dabei sieht er Asyl im Kontext einer durch vielfältige Mechanismen wechselseitiger Checks and Balances, Kontrollen und Gegengewichte, gekennzeichneten Ordnung, in der die Vorstellung herrscht, auch Könige und ihre mächtigen Ratgeber seien an das Recht gebunden. Asylgewährung hatte der Untersuchung zufolge auch die Aufgabe, Schutz vor Willkürentscheidungen von Gerichtshöfen zu bieten (Raum 1999, S. 265 – 267).
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Bei der Ethnie der Tswana standen diesem Bericht zufolge, anders als etwa bei der mittelalterlich-europäischen Interzession als Legitimationskern des Kirchenasyls, neben einander einerseits die jedermann offene Möglichkeit der Fürsprache zur Erreichung von Milderung und Straffreiheit nach öffentlicher Verurteilung zur Prügelstrafe und andererseits das „Recht auf Asyl“ (Raum 1999, S. 268) Verurteilter nach unmittelbar auf die öffentliche Verurteilung geglückter Flucht in die Hütte der Mutter oder Ehefrau des Fürsten. Führte diese Frau den Verurteilten zurück zum Platz der Beratungen, so musste jede Strafe, die nicht für Mord oder Totschlag verhängt worden war, insbesondere eine eventuelle Prügelstrafe, erlassen werden. Die Mutter oder, nach deren Tod, Hauptfrau des Fürsten soll so als verfassungsrechtliches Gegengewicht des Fürstengeschlechts im Verfassungsgefüge zur Geltung gekommen sein (Raum 1999, S. 268). Für die ethnische Gruppe der Zulu sind eine große Reihe unterschiedlicher Arten von Zufluchtsstätten überliefert. Als solche sollen zum Beispiel Hütten von Frauen, die dem König affin oder mit ihm blutsverwandt waren, oder auch die Hütte des Königs selbst fungiert haben; auf Asylbruch sollen Sühneopfer selbst der Nachkommen des Täters gefolgt sein. Als Orte, die zu meiden waren, notfalls aber auch als Zufluchtsstätten in Betracht kamen, sollen den Zulus zudem Königsgräber oder Gräber von Fürsten gegolten haben (Raum 1999, S. 269 – 271). Die Ethnie der Rotse soll neben Zufluchtsorten wie Königsgräbern oder –trommeln, die auch sonst in Afrika häufig anerkannt worden sein sollen, eine besondere, dem Gefüge aus wechselseitiger Kontrolle und dem Machtgleichgewicht dienende Asyleinrichtung geachtet haben. Berichten zufolge gab es zwei königliche Residenzstädte mit jeweils einer Prinzessin und jeweils einem ihr zugeordneten Gerichtshof. Das Erreichen der jeweils anderen Residenz vor einem Urteilsspruch des Gerichts, bei dem die Sache anhängig war, führte zur Asylgewährung (Raum 1999, S. 271 f.).
4. Asyl in der europäischen Neuzeit
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Aus dem europäischen 16. Jahrhundert berichtet Karl Härter von einem unter Bezugnahme auf angebliche Missbräuche aufgebauten zunehmenden Druck, kirchliche und weltliche Asyle einzuschränken, um ein herrschaftliches Straf- und Gewaltmonopol durchzusetzen, was häufig zur Abschaffung von Asyl-Institutionen oder zu ihrer starken Limitierung führte (Härter 2003, S. 305 f.). Cesare Beccaria stützte noch 1766 auf solche Erwägungen seine Ablehnung innerer Asyle (Beccaria 1766/1988, Kap. XXXV, S. 155). Dagegen erhob er gegen eine ausnahmslose Abschaffung externer territorialer Asyle – eine internationale Auslieferungspflicht ohne Ausnahmen – Bedenken, solange Willkür, unangemessen harte Strafen und die Möglichkeit der Verfolgung Unschuldiger oder angefeindeter tugendhafter Menschen noch eine signifikante Bedeutung in der Wirklichkeit des Strafrechts hätten (Beccaria 1766/1988, Kap. XXXV, S. 156).
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Trug Beccaria dergleichen als Bedenken gegen eine andernfalls wünschenswerte Abschaffung von Asylen vor, gab es umgekehrt bereits im 17. Jahrhundert Forderungen, die der Tendenz zur Abschaffung von Asyleinrichtungen entgegenliefen. Price weist für England darauf hin, dass Sir Edward Coke die erstarkende Praxis der Auslieferung von Straftätern an ausländische Mächte nicht nur angriff, wenn so Untertanen der englischen Krone ihrer nur in England anwendbaren prozeduralen Rechte beraubt wurden – er hielt dergleichen nur auf der Basis eines Parlamentsgesetzes für vertretbar –; weitergehend forderte er Asyl für Ausländer, die in England Zuflucht suchten, und soll sich dabei auf das 5. Buch Mose berufen haben (Price 2009, S. 44 f.), wo es in Devarim/Reden/Deuteronomium 23, 16 heißt: „Du sollst den Knecht nicht seinem Herrn ausliefern, der von ihm zu dir geflüchtet ist.“ Die 1679 hinsichtlich englischer Untertanen in die Habeas-Corpus-Akte eingeflossene und die folgenden Jahrhunderte prägende englische Tradition restriktiver Auslieferungspraxis basierte auf dem allgemeinen Urteil, Strafverfahren anderer Staaten böten Beschuldigten inadäqaten Schutz und erlaubten ihren Gebrauch als Mittel politischer Repression (Price 2009, S. 45 f.).
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Für die Zeit ab der Französischen Revolution berichtet Price von einem Wechsel vom seit Grotius dominierenden Asylgedanken des Schutzes vor ungerechter Strafverfolgung hin zu Konzepten politischer Moral (Price 2009, S. 48; ähnl. von Pollern 1980, S. 37). Dem entspricht das im späten 18. Jahrhundert in Angriff genommene Projekt der jungen Französischen Republik, ein Asylrecht einzuführen. Artikel 120 des Entwurfs einer Verfassung vom 24.06.1793 sah für das französische Volk vor:
- „Il donne asile aux étrangers bannis de leur patri pour la cause de la liberté. – Il le refuse aux tyrans“ (zit. nach Godechot 1979, S. 91).
- „Es gewährt jenen Ausländern, die um der Sache der Freiheit willen aus ihrem Vaterland verbannt [andere Übersetzung: vertrieben] wurden, Asyl. – Tyrannen verweigert es dasselbe.“
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Intensiv beschäftigte die schweizerischen Kantone und den erst wenige Monate alten Bundesstaat der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Sommer 1849 die Aufnahme von zigtausenden Flüchtlingen aus Italien und deutschen Ländern nach Niederschlagung der liberalen Revolutionen. Obwohl es die Behauptung eines Asylmissbrauchs gab und die Schweiz massive außenpolitische Schwierigkeiten zu gewärtigen hatte, berief man sich im Parlament auf „das von der Schweiz stets geübte Recht, politischen Flüchtlingen ein Asyl zu gestatten“ (Achermann 2018, S. 55). In der insgesamt unübersichtlichen asylrechtlichen Lage des 19. Jahrhunderts standen Schutzbestimmungen und Diskussionen um Auslieferungsschutz im Vordergrund, wohingegen es im 20. Jahrhundert schon früh um staatliche Aufnahmebereitschaft ging (von Pollern 1980, S. 38 – 41; zur unmittelbaren Vor- und Entstehungsgeschichte des Asylrechts im Grundgesetz vgl. Berkemann 2015 und Tiedemann 2009).
IV. Asyl als Gegenstand theoretisch-philosophischer Betrachtung
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Der Beitrag zur Debatte um Asyl als kulturelle und rechtliche Einrichtung des Schutzes, den eine theoretisch-philosophische Erörterung erwarten lässt, ist eher gering. Denn die konkreten Problemlagen sind sehr unterschiedlich, ein philosophischer Zugang erfordert dagegen einen hohen Abstraktionsgrad; auch geht es einer theoretischen Erörterung nicht um genuin praktisch-normativ ausgerichtete Argumente, die auf eine begründende oder delegitimierende Bewertung asylrechtlicher Regelungen gerichtet sind (siehe zu ihnen in dieser Enzyklopädie den Artikel „Asylrecht“). Was erwartet werden kann, ist dagegen Folgendes: Wer sich mit dem Asyl als (auch) rechtlicher Einrichtung theoretisch-philosophisch beschäftigt, hat nach dem hier verwendeten Verständnis die Bedingungen der Möglichkeit von Asyl und Asylrecht (1) zu benennen. Dies umfasst zunächst solche Strukturen des Rechts, welche mit der Existenz eines Asylrechts zwingend oder zumindest typischerweise einhergehen (1.a). Soweit es Annahmen gibt, ohne die rechtliches Asyl schlechterdings unverständlich erscheinen muss, sind auch diese bereits für ein theoretisches Verständnis von Interesse (1.b), wohingegen solche, die seiner moralischen Kritik oder Rechtfertigung dienen, bei praktisch-philosophischen Argumenten im Artikel „Asylrecht“ diskutiert werden. Empirische Vorfragen – etwa: tatsächliche Bedingungen der Möglichkeit eines Asylrechts – sind, soweit sie grundsätzlicher Natur sind, kurz anzusprechen (1.c). Ferner sind rechtstheoretische Einstellungen, die akademischer Beschäftigung mit dem Asylrecht vorausliegen, exemplarisch und kritisch in ihrer Erkenntnis fördernden oder verdunkelnden Funktion zu diskutieren (2). Als theoretischer Problemaufriss, der die Diskussion insgesamt geprägt hat, sollen schließlich Hannah Arendts Überlegungen kurz dargestellt werden (3).
1. Theoretische Bedingungen der Möglichkeit von Asylrecht
a. Strukturelle Bedingungen der Möglichkeit von Asyl
aa. Territorialität von Asyl, staatliche Souveränität, Pluralität und Partikularität
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Paul Kirchhof diskutierte vor wenigen Jahren „Staatliche Souveränität als Bedingung von Asylrecht“ (Kirchhof 2013). Diese Formulierung lässt unterschiedliche Deutungen zu, die Kirchhof dort auch entfaltete.
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In einer frühen Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft wurde die „Asylgewährung als Bestätigung souveräner Macht und Selbstherrlichkeit“ bezeichnet (Lentner 1911, S. 422). Dem ähnlich führte auch Kirchhof bei der Beschreibung frühmoderner Staatsvorstellungen ein Verständnis an, wonach das Asylrecht als Ausfluss und Bestätigung staatlicher Machtansprüche in Erscheinung tritt (Kirchhof 2013, S. 109). Einer solchen Sichtweise korrespondiert für die Gegenwart zwar der noch immer häufig formulierte Befund, dass es im allgemeinen Völkerrecht ein Asylrecht lediglich als Befugnis von Staaten, Asyl zu gewähren, gebe, nicht dagegen als Recht auf Asyl von Individuen (Frowein/Kühner 1983, S. 550; Ray 2013, S. 1239; zum Völkergewohnheitsrecht Boed 1994, S. 15), und der weitere, dass ein solches Recht nur unter manchen Staaten völkervertragsrechtlich (ungenau insofern Kluth 2019 Rn. 5) vereinbart wurde – so zum Beispiel mit Wirkung seit 1978 in Artikel 22 Absatz 7 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (United Nations Treaty Series [UNTS] Bd. 1144, S. 123), seit 1986 in Artikel 12 Absatz 3 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (Banjul-Charta, UNTS. Bd. 1520, S. 217; zum Gewährleistungsgehalt des Rechts Beyani 2013, S. 44), seit 1.12.2009 in Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EU-V) i. V. m. Artikel 18 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union und hinsichtlich einzelner besonders bedeutender Dimensionen – wie Non-Refoulement und Rechte im Asyl – in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (UNTS Bd. 189, S. 150) in Verbindung mit dem New Yorker Protokoll von 1967 (UNTS Bd. 606, S. 267). Asylrecht als Ausfluss von herrschaftlich-staatlichen Machtansprüchen lässt sich für Teile der Neuzeit verdeutlichen und bringt prägnant die Abgrenzung gegen religiös und rechtlich begründete Asyle des historisch vorangegangenen Mittelalters und der vorabsolutistischen Neuzeit auf den Punkt (deutlich Härter 2003, S. 328). Aber die Kehrseite solcher Herangehensweisen hat Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Arendt 2001, S. 484 f.) anhand etwas jüngerer Ereignisse herausgearbeitet, als sie betonte, dass das Scheitern von Vorstellungen eines Asylrechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eng mit dem Gedanken der Souveränität verbunden war, vor allem mit der damals weit gehenden Zuordnung von Fragen des Asylrechts zur innerstaatlichen Domaine Reservée (vgl. Ziegler 2013, Abschnitt 5) zu tun hatten. Eine abgeschwächte Variante wird noch vertreten, wenn Souveränität verstanden wird als für zwischenstaatliche Bindungen offene und supranationale Rechtssetzung zulassende „staatliche Herrschaft, die für das Setzen und Durchsetzen von Recht im jeweiligen Staatsgebiet gegenüber dem jeweiligen Staatsvolk letztverantwortlich ist, sich in dieser Verantwortlichkeit aber auf die gleich souveränen anderen Staaten einlässt“ (Kirchhof 2013, S. 112). Indes hat auch ein solches Konzept der Souveränität in Zeiten, in denen selbst existenzielle Probleme häufig nur in internationaler Zusammenarbeit oder im supranationalen Modus gemeinsamer Entscheidungsorgane effektiv gelöst werden können, an Klarheit und Erklärungswert auch für das Thema Asylrecht und Flüchtlingsschutz verloren; als zentraler und exklusiver Angelpunkt rechtlicher Argumentation wird es derzeit für Europa nicht (Farahat / Markard 2016, S. 944 f.; dies. 2018, S. 351 f.; vgl. für die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts Frankenberg 1987, S. 28) und allgemein (vgl. zu Nordamerika etwa Krivenko 2012) nicht immer dienen können. Als Strukturmerkmal in der strengen Allgemeinheit oder wenigstens Typizität für das Thema insgesamt, die einer philosophischen Erörterung zu Grunde zu legen ist, kann es nicht weiterhelfen.
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Eine zweite bei Kirchhof (2013, S. 112) angesprochene Bedeutung von „Souveränität als Voraussetzung von Asylrecht“ ist verbunden mit der Vorstellung einer territorial begrenzten staatlichen Herrschaft. Gärditz hat verschiedentlich herausgestellt, dass staatliche beziehungsweise hoheitliche Territorialität mit ihren Grenzen, jenseits derer effektiver Schutz gesucht werden kann, zum Kern des Flüchtlingsschutzrechts (Gärditz 2016, S. 913 f.) gehören. „Das Asylgrundrecht öffnet die Grenze, verkörpert aber zugleich einen Restbestand an geschlossener Staatlichkeit“ (Gärditz 2018 Rn. 61). Asylrecht „setzt voraus, daß die Macht des Staates, von dem die Verfolgung ausgeht, an den Grenzen des anderen Staates endet, der den Verfolgten aufnimmt und ihm Schutz bietet“ (Isensee 2018, S. 142). Solche Äußerungen dürften genau insofern auf allgemeine Zustimmung stoßen, als Territorialität auch dann als Voraussetzung asylrechtlichen Schutzes fungiert, wenn es nicht um einzelstaatliches, sondern um internationales und supranationales europäisches Recht des Flüchtlingsschutzes geht (Farahat / Markard 2016, S. 945; dies. 2018, S. 352 f.).
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Drittens impliziert solche Begrenztheit territorialer Hoheitsgewalt ferner eine Mehrheit entweder von Staaten (Kirchhof 2013, S. 114) oder sonstigen, etwa supranationalen, Trägern von Gebietshoheit. Bereits Hannah Arendts Befürchtungen für den Fall der Errichtung eines einzigen Weltstaats, in dem sie „das tyrannischste Gebilde …, das sich überhaupt denken läßt“, sah, bezogen sich zentral darauf, dass es „vor dessen Weltpolizei … dann auf der ganzen Erde kein Entrinnen mehr geben würde“ (Zitate bei Arendt 2000, S. 131). 1949 hatte sie in ihrem Aufsatz „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“ hervorgehoben, dass rechtlich oder faktisch staatenlose, vor totalitärer Unterdrückung und Verfolgung geflüchtete Menschen durch erzwungene Migration nicht nur ihre Heimat verloren, sondern vor allem keine neue mit einem Rechtstitel hätten finden können (Arendt 1949, S. 756). Was damals wie oft noch heute an der fehlenden Aufnahmebereitsschaft staatlicher Entscheidungsträger scheiterte, kann prinzipell nur gelingen, wenn es außerhalb der Gebietshoheit des fluchtverursachenden Staats weitere Staaten oder Hoheitsträger gibt.
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Als zwingende strukturelle Bedingungen der Möglichkeit von Asyl lassen sich damit zunächst festhalten:
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- die Begrenzung hoheitlicher Macht in der Regel in territorialer (Territoriales Asyl; historisch: Tempelasyl, Gräber-Asyle; Asyle bei Sufi-Konventen; Kirchen-Asyl, soweit nicht als inneres Asyl aufgefasst), sonst in diplomatischer (diplomatisches Asyl) oder persönlicher (persönliches Asyl) Hinsicht und die korrespondierende Rechtsmacht und ernsthafte Bereitschaft eines anderen Trägers von Befugnissen, Asylschutz zu gewähren; unter den Bedingungen modernen staatlichen, inter- und supranationalen Rechts lässt sich als impliziert in dieser Bedingung der Möglichkeit von Asylrecht die weitere formulieren als
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- Pluralität territorial geordneter Befugnisse von Hoheitstträgerinnen und Hoheitsträgern: Staaten mit Völkerrechtssubjektivität und supranationalen Organisationen.
bb. Offenheit und Zugänglichkeit des Asyls
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Die Möglichkeit eines Asyls setzt neben der Unzugänglichkeit für Verfolger und Abschirmung von anderer Gefahr eine Zugänglichkeit für Schutzsuchende voraus. Diese zweite theoretische Trivialität erweist sich in der Lebenswirklichkeit, in rechtlicher und rechtspolitischer Hinsicht als ein Kernproblem. So ist es dieser Zusammenhang, in dem – für die Reichweite eines subjektiven Rechts Asylsuchender – die Frage aufgeworfen wird, welche Art territorialen Bezugs zum fraglichen Zufluchtsstaat notwendig ist, damit ein asylrechtlicher Anspruch auf Zugang oder ein solcher auf Non-Refoulement entsteht: ob etwa das Staatsgebiet oder jedenfalls die Außengrenze des Aufnahmestaats erreicht sein muss (BVerwGE 69, 323 für das Asylrecht des Grundgesetzes) und ob die Aufnahme auf einem Schiff unter der tatsächlichen Hoheit eines Staates Ansprüche auf Non-Refoulement auslöst (ablehnend im Rahmen des Artikel 33 Genfer Flüchtlingskonvention U. S. Supreme Court, Urteil vom 21.6.1993, Sale v. Haitian Ctrs. Council, Inc., 509 U.S. 155,, Abruf: 23.07.2019; befürwortend u. a. gemäß Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 23.2.2012, 27765/09 – Hirsi gegen Italien –, International Journal of Refugee Law 24 (2012), S. 389 (443), Abschnitt 207; w. N. bei Keil 2015, S. 195 f.). Es ist dieser Kontext, aus dem heraus die Frage und Forderung der Möglichkeit internen diplomatischen Asyls immer wieder ihre Dringlichkeit bezogen hat (vgl. Artikel „Asylrecht“, Abschnitt II.2.c). Relevant wird hier auch die Problematik des Verhältnisses des Schutzbedarfs existenziell gefährdeter Personen zu Carrier-Sanctions – zu Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen und zur Haftung für Kosten des Rücktransports bei Beförderung und Einreise ohne erforderlichen Einreisetitel – und zur Einräumung der Möglichkeit einer Exkulpation der Unternehmen in Fällen ersichtlicher Gefährdung Betroffener (Feller 1989, S. 56 f.). Ebenfalls im Zusammenhang der Frage der Offenheit und Zugänglichkeit des Asyls wird für das Asylrecht als staatlicher Befugnis und Pflicht das Problem der Erteilung humanitärer Visa in diplomatischen Vertretungen diskutiert (s. Artikel Asylrecht Abschnitt III.5.h.ee). Auch die Diskussion von Fragen der Aufnahme von Kontingent-Flüchtlingen „als Form der Asylgewährung“ (Wollenschläger 1985, S. 376 f.) oder zur Ermöglichung eines Zugangs zu Schutz ohne lebensgefährliche Reisen und Abhängigkeit von kommerziellen, mit Methoden des Menschenschmuggels arbeitenden Fluchthelfern zeigt die tatsächliche Relevanz dieser scheinbaren theoretischen Trivialität.
b. Legitimationstheoretische Bedingungen der Möglichkeit eines Asylrechts
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Eine theoretische Betrachtung der Legitimation fragt nach dem hier verwendeten Verständnis von Theorie, anders als praktisch-philosophische Erwägungen (siehe zu ihnen Artikel „Asylrecht“), nicht nach der Überzeugungskraft der Legitimation einer rechtlichen Einrichtung – ist sie gut, erstrebenswert? billigenswert? kritikwürdig? –, sondern allein nach der Denkbarkeit der Begründung von Legitimität. Als rechtstheoretische Legitimationsgrundlage kommen zwar mit der Kelsenschen Hypothese einer absoluten Grundnorm rein formale Annahmen über die Kompetenz zur Setzung von Recht oder zur Verleihung von Legitimation an bestimmte normative Sätze sowie Annahmen über die Art und Weise der Setzung von Recht (Kelsen 1960/2017, S. 199/352 und 200 f./354) in Betracht.Eine solchermaßen unspezifische Legitimationsgrundlage ist indessen für einen Beitrag zum Asyl als rechtlicher Einrichtung nicht von besonderem Interesse. Rechtliche Institutionen sind nur dann nicht absurd, wenn darüber hinaus eine Ratio Legis denkbar ist, von der unterstellt werden kann, dass sie asylrechtlichen Regelungen zu Grunde liegt.
aa. Schutzbedarf der Individuen
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Einrichtungen rechtlichen Asyls können als sinnvoll verständlich gemacht werden, wenn sich zeigen lässt, dass es ihrer bedarf. Solcher Bedarf lässt sich zunächst auf das Verhalten Betroffener stützen. Er kann zum Beispiel angenommen werden, wenn Menschen den Staat ihrer Staatsangehörigkeit oder das Hoheitsgebiet, in dem sie sich zuvor aufhielten, verlassen haben und andernorts Zuflucht suchen und wenn dies allem Anschein nach auf Gründen beruht, die ihnen, nachvollziehbarerweise, als sehr dringend erscheinen. Erwähnung finden muss die Trivialität der Möglichkeit einer Rechtfertigung mit individuellem Schutzbedarf deshalb, weil es immerhin denkbar wäre, dass Staaten und Hoheitsträger ihre Verpflichtungen erfüllen, Menschenrechte achten und die Befriedigung elementarer Bedürfnisse dauerhaft und stabil ermöglichen. Migrationsrechtspolitische Fragen gäbe es auch dann; aber es wäre das moderne „Asylrecht gegenstandslos“ (Seeger 1969, S. 2), Flüchtlingsschutzrecht als Recht des Schutzes zwangsweise migrierter Menschen obsolet.
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Ob Staaten bei der Erfüllung solcher Pflichten versagen und deshalb Bedarf an Asyl und Flüchtlingsschutz besteht oder bestehen kann, ist nicht eine philosophische, sondern eine empirische Frage. Die Politikwissenschaft informiert uns allerdings über die empirisch begründete Erwartung, dass Staaten – zurückhaltend formuliert – zumindest gelegentlich versagen (Betts 2015, S. 366) und dass Prämissen des internationalen Staatensystems und seines Interventionsverbots mitunter nicht mit dem tatsächlichen staatsinternen Gebrauch der Souveränität koinzidieren, so dass es zu Fluchtgeschehen und Flüchtlingen komme (Betts 2009, S. 54 f.). Das führen aktuelle Zahlen drastisch vor Augen: Nach Angaben des Hochkommissariats der Vereinten Nationen, UNHCR, gab es im Jahre 2018 70,8 Millionen Menschen, die gezwungenermaßen aus ihrer Heimat geflüchtet (forcibly displaced) waren, von ihnen etwa 41,3 Millionen innerhalb ihrer Heimatstaaten, aber immerhin 25,9 Millionen in andere Staaten (UNHCR 2019, S. 4).
bb. Bedarf an Schutz der Aufnahmestaaten vor Trittbrettfahrer-Staaten
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Bedarf an staatlichen Schutzpflichten und der rechtlichen Einrichtung und hinreichenden Realisierung von Zufluchtsmöglichkeiten für existenziell gefährdete Menschen lässt sich daneben auch unter dem Gesichtspunkt staatlicher und internationaler Sicherheit und Stabilität begründen. So machte Alexander Betts in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2015 über das normative Terrain des Flüchtlingsschutzregimes mit Blick auf ein Recht des Schutzes vor Zurückweisung und die Aufnahme geflüchteter Menschen Folgendes geltend: In einem internationalen System, dessen wichtigste Akteure Staaten seien, die hinsichtlich ihrer Pflicht, elementare Rechte zu garantieren und die Befriedigung elementare Bedürfnisse zu ermöglichen, versagen könnten, seien Menschen mitunter gezwungen zu flüchten. Es sei dann im globalen und internationalen Sicherheitsinteresse, dass es einen sicheren Zufluchtsort für Menschen gebe, die andernfalls perspektivlos seien. Die Aufnahme sei indes jeweils mit Kosten verbunden. Es bestehe deshalb folgende Gefahr:
- „Thus, acting in isolation, states often seek to free ride on the provision of refugee protection by other governments, and have strong incentives to engage in burden-shifting“ (Betts 2015, S. 366)
- – wenn sie daher isoliert handelten, versuchten Staaten häufig als Trittbrettfahrer davon zu profitieren, dass andere Regierungen Flüchtlingsschutz zur Verfügung stellten, und hätten starke Anreize, Lasten von sich wegzuschieben (Übers. R. K.).
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Dies sei einer der Gründe für Staaten übergreifenden, rechtlich verbindlichen Flüchtlingsschutz: Er schaffe Normen, die wechselseitige Pflichten zum Engagement für die Unterstützung geflüchteter Menschen begründeten (Betts 2015, S. 366).
cc. Externes Korrektiv zu Funktionsfehlern rechtlicher Institutionen
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Oben in Abschnitt aa. wurde kurz das teilweise Versagen moderner Staatlichkeit im Verhältnis zu Individuen in Betracht gezogen, unter bb. das Versagen zwischenstaatlicher Kooperation erwähnt, das ohne international verankterte Schutz- und Aufnahmepflichten wahrscheinlicher ist als mit Komponenten asylrechtlicher Schutzpflichten. Ein zusätzlicher Blick in die Sammlung historischer Erfahrungen mit Einrichtungen des Asyls außerhalb moderner Staatlichkeit (oben Abschnitt III) – etwa auf antike und mittelalterliche Asylstädte, Heiligtümer- und Säulen-Asyle, Kirchen-Asyle, afrikanische Asylorte –, legt nahe, dass viele der dort aufgeführten Institutionen dem Ausgleich oder der Vorbereitung der Behebung von Mängeln einer Rechtsordnung dienten. Ihre Aufgabe hatten sie demnach auch darin, eine Befriedung zu ermöglichen, die sich andernfalls bei Dominanz von Privatjustiz konkret nicht einstellen konnte, ferner eine Perpetuierung der Wirkungen von Blutrache, exzessiver oder willkürlicher Strafe zu unterbrechen und einzuhegen oder Verhandlungen und erstmalige oder erneute Prüfung der Rechtssache zu ermöglichen.
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So wird man abstrakter sagen können: Vorstellungen eines harmonischen, umfassend, vollkommen und wünschenswert funktionierenden Rechtssystems stehen in einer Spannung mit der Anerkennung rechtlichen Asyls; solche, die stets mit menschlicher Schwäche der Akteurinnen und Akteure im Rechtsverkehr und mit einer Mangelhaftigkeit von Institutionen und Rechtspraxis rechnen (Anderheiden 2018, S. 35), legen dagegen die Suche nach Korrektiven nahe, die zum Beispiel die Einrichtung von Asyl verständlich machen kann.
dd. Legitimation jenseits bloßer Funktionalität des Rechts
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Bezieht man zusätzlich ein, dass manche der sakralen Asyle in antiker Zeit zwar wohl Rechtsfolgen zeitigten, aber nicht auf rechtliche Funktionen hin ausgerichtet waren, sondern auf einer Scheu Verfolgender und der Perspektive Verfolgter beruhten, eine rettende Zuflucht zu finden, so lässt sich vielleicht noch abstrakter festhalten: Als Grundlage der Anerkennung der Einrichtung von Asyl kann die Bereitschaft zur Annahme dienen, die legitime Funktionalität zwangsbewehrten Rechts – für die Durchsetzung politischer Ziele, zivilrechtlicher Ansprüche, zur Strafverfolgung und so weiter – sei stets in ihrer Reichweite begrenzt durch Gesichtspunkte, die nicht allein aus Erwägungen zum kohärenten und effektiven Funktionieren des Rechts heraus erklärt werden könnten. Als solche einschränkenden Aspekte konnten in archaischer Zeit angenommene göttliche Mächte oder eine eigenständige Verpflichtung gegenüber schutzflehenden Menschen Bedeutung gewinnen; in moderner Zeit kommen etwa solche Gesichtspunkte in Betracht wie die Achtung vor der menschlichen Würde, die in ihrer Bedeutung nie allein aus bloßer Funktionalität verständlich wird, und die Berücksichtigung der Erfahrung, dass stets mit – auch gravierenden – Mängeln von Rechtsordnungen zu rechnen ist.
c. Tatsächliche Bedingungen der Möglichkeit von Asyl
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Ernst-Wolfgang Böckenförde arbeitete mehrere Voraussetzungen heraus, von deren Vorhandensein die Lebens- und Funktionsfähigkeit der Demokratie als Staats- und Regierungsform abhänge. Dazu zählte er neben der – oft diskutierten und aus guten Gründen umstritten gebliebenen (ausführlich Hanschmann 2008) – relativen „Homogenität“ (Böckenförde 2004, S. 474, Rn. 65) eine emanzipatorische Struktur der Gesellschaft, die Abwesenheit theokratischer Religionsformen mit politischem Lenkungsanspruch (Böckenförde 2004, S. 471 f., Rn. 59 – 62), ein entwickeltes Bildungssystem, Voraussetzungen, welche gesellschaftliche Kommunikation betreffen (ebda Rn. 67 f., S. 475 f.), die Abwesenheit extremer wirtschaftlich-sozialer Gegensätze sowie ein Ethos, das „aus der Anerkennung der Strukturprinzipien, auf denen Demokratie beruht, vor allem der demokratischen Freiheit und Gleichheit“ erwächst (Böckenförde 2004, S. 481, Rn. 76). Jürgen Habermas hat bei seiner Suche nach vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats postuliert, es seien für die effektive Wirksamkeit und den Bestand eines demokratischen Rechtsstaats „politische Tugenden, auch wenn sie nur in kleiner Münze ‚erhoben‘ werden, … wesentlich“ (Habermas 2004, S. 110). Auch Manfred Walther hat herausgearbeitet, wie in der auf die faktischen Voraussetzungen politisch-rechtlicher Handlungsmacht fokussierten Lehre Spinozas die Demokratie darauf angewiesen sei, dass „es Bürger gibt, die … jenes anerkennende Engagement, für die Verfassung des Freiheit ermöglichenden Gemeinwesens aufbringen, das jenseits der Fluktuationen der Einbildungskraft Bestand hat“ (Walther 2001, S. 96).
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Gäbe es tatsächliche, dem Recht externe Voraussetzungen der Funktionsfähigkeit der kulturellen und rechtlichen Einrichtung von Asyl, so wären sie als solche empirischer, etwa rechtskultureller, soziologischer, sozial-psychologischer, politologischer, ökonomischer Art zwar hier nicht genauer zu erörtern – das wäre Aufgabe der empirischen Fachdisziplinen –, aber doch kurz anzusprechen: Soll eine Theorie rechtlichen Asyls die Bedingungen der Möglichkeit von Konsistenz zur Darstellung bringen und anders als absurd argumentieren, so liegt es nahe anzunehmen, tatsächliche Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit des Rechts, seiner Einrichtungen und Regelungen seien als Gesichtspunkte in die Ratio Legis oder angelegte Teleologie rechtlicher Regelungen des Asyl eingelassen.
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H. L. A. Hart hat einen Katalog von Verhaltensprinzipien zusammengestellt, die er als „simple truisms“ (Hart 2012, chapt. IX.2, S. 193), einfache „Banalitäten“ (Hart 2011, S. 227), bezeichnete und die im Recht zu berücksichtigen seien. In ihrer Gesamtheit bezeichnete er sie als „minimal content of natural law“, Minimalgehalt des Naturrechts. Ohne Beachtung dieser Gesichtspunkte im positiven Recht hätten Menschen, so wie sie beschaffen seien, nicht hinreichend Grund, freiwillig Regeln zu befolgen (Hart 2012, chapt. IX.2, S. 193 – 200). Winfried Brugger knüpfte 1993 in seinem – rechtspolitisch gegen das Grundrecht auf Asyl gerichteten – Artikel an einen Teil des Katalogs an, als er die Begrenztheit von Altruismus, von Willensstärke, von Mitteln und von „Verstehen“ anführte (Brugger 1993, S. 120 – 122). Er meinte damals, die Existenz des zahlenmäßig nicht beschränkten subjektiven Individualgrundrechts auf Asyl missachte diese Gesichtspunkte. Dem ähnlich, allerdings ohne juristisch geltende Rechtspflichten zum Schutz von Flüchtlingen rechtspolitisch zu attackieren, wies Frick (2016, S. 77) auf den Zusammenhang zwischen Dysfunktionalität eines Asylregimes einerseits und der Gefahr, dass sie Rechtstreue untergrabe, hin und fügte S. 79 hinzu, eine „theoretische Anleitung zur Bewältigung der Migrations- und Flüchtlingskrise, die auf die Frage der Zahlen keine Antwort gäbe, ist … als mangelhaft zurückzuweisen“ (a. a. O., S. 80 – 82).
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Beide weisen damit auf Knappheit als zentrales Motiv der Ökonomik (Engelkamp und Sell 2017, S. 13) hin, mithin auf das Problem alles menschlichen Handelns und aller gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen, dass sie nur insofern erfolgreich existieren können, als die für die effektive Realisierung ihrer jeweiligen Ziele erforderlichen Ressourcen und technischen Möglichkeiten vorhanden sind (krit. zu überkommenen Beschreibungen Schlaudt 2016, S. 19). Die Verwendung solcher Erkenntnis als theoretische Grundlage eines politischen Plädoyers wie bei Brugger beruht indes auf zusätzlichen empirischen Annahmen. Sie setzt nicht nur die prinzipielle Begrenztheit notwendiger Ressourcen voraus, sondern basiert daneben auf der Annahme, es sei eine Überforderung von Altruismus, Willensstärke, administrativer und justizieller Infrastruktur sowie im engeren Sinne ökonomischen Mitteln mit der Folge einer Schwächung des Rechtsgehorsams und vielleicht gar der Funktionsfähigkeit des Rechtssystems zwingende oder zumindest naheliegende Folge eines Individualgrundrechts ohne rechtliche Obergrenze. Die Gefahr, dass ein solches Asylrecht seine eigenen Funktionsvoraussetzungen untergrabe, lasse sich, solange es existiere, nicht, auch nicht durch kluge Flankierung mit politischen Maßnahmen, abwenden. Ob die Abwendung von Überforderung möglich ist, ist indes – nach der konzeptionellen Klärung, unter welchen Umständen Überforderung angenommen werden kann (vgl. hierzu Fisch 2017, S. 34 – 37; Hoesch 2016, S. 27 f.) – eine Frage empirischer Forschung der Rechtssoziologie oder der Politikwissenschaft.
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Harts Äußerungen und Hinweisen der Ökonomik auf Knappheit kann dagegen lediglich entnommen werden, dass die nachhaltige Existenz eines Asylrechts bei begrenzten gesellschaftlichen Ressourcen nur bei einer Begrenztheit seiner Inanspruchnahme funktionsfähig ist. Diese kann entweder auf einer rechtlichen Begrenzung beruhen – gegen die aber sehr starke normative Argumente angeführt werden können (vgl. Artikel „Asylrecht“, Abschnitte III.5.f und III.5.h.ff; Funke 2017a, S. 540 f.; zur juristischen Diskussion Farahat & Markard 2017, S. 1091 f.) –, oder auf einer Formulierung tatbestandlicher Voraussetzungen oder aber auf einer dem Recht externen tatsächlichen Begrenztheit, die sich teilweise politisch begünstigen lässt (Lastenteilung; Fluchtursachenbekämpfung in Herkunftsstaaten; Unterstützung aufnehmender Drittstaaten; effektive Kontingentaufnahme als begrenzte, aber nicht lebensgefährliche alternative Einreisemöglichkeit; Aufklärung; Entlastung flüchtlingsrechtlicher Instrumente von ökonomisch bedingtem Migrationsdruck durch feinsteuerbare Alternativen u. a.). Ferner legen Harts Hinweise die Feststellung nahe, dass die Funktionsfähigkeit von rechtlichem Asyl auf eine hinreichende Anerkennung sowohl in der Bevölkerung als auch bei Amtsinhaberinnen und Amtsinhabern maßgeblicher Institutionen (Politik, Verwaltung, Gerichte, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, religiös oder weltanschaulich orientierte Gruppen und so weiter) sowie auf ökonomische Mittel, die eine Aufnahme unter akzeptablen Bedingungen ermöglichen, angewiesen ist. Dabei handelt es sich um Bedingungen, die in mehr oder weniger großem Umfang erfüllt sein können und in signifikantem Umfang zur Disposition politischer und gesellschaftlicher Akteure stehen, also durch Förderung maximiert und durch Vernachlässigung gefährdet werden können. Umgekehrt legen damit Harts Erwägungen die ebenfalls eher triviale Feststellung nahe, dass eine Überforderung der Kapazitäten von Verwaltung, Justiz und Gesellschaft unter ungünstigen Umständen und Versagen von Politik oder Verwaltung denkbar ist. Allerdings ist dies ist mit Blick auf Infrastrukturen aus anderen Bereichen für den Fall sehr großer Natur- oder Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrisen, Seuchen, Kriege oder Bürgerkriege ebenfalls denkbar.
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Nicht zuletzt dürften Stabilität und Wirksamkeit von Asyl- und Flüchtlingsrecht in modernen demokratischen Rechtsstaaten davon abhängen, dass eine entgegenkommende Kultur nicht nur Nichtzurückweisung und Aufnahme trägt, sondern, im Falle längeren oder dauerhaften Aufenthalts, die gesellschaftlich-politische Partizipation und Emanzipation geflüchteter Menschen zu gleichberechtigten und –verpflichteten Menschen sowie Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern begünstigt. Ob solche Voraussetzungen gegeben sind, ist eine empirische Frage, wie sie geschaffen und erhalten werden können, eine solche kluger Politik.
2. Einstellungen
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Im Rahmen des – während der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ausgetragenen – Positivismusstreits in der deutschen Soziologie unterschied Jürgen Habermas die kritische von einer bloß deduktiven Argumentation dadurch, dass
- „sie die Dimension des logischen Zusammenhangs von Sätzen überschreitet und ein Moment einbezieht, das Sprache transzendiert: Einstellungen. … Einstellungen können aus Aussagen nicht deduziert werden, noch Aussagen umgekehrt aus Einstellungen. Gleichwohl kann die Zustimmung zu einer Verfahrensweise und die Annahme einer Regel mit Argumenten gestützt oder geschwächt, jedenfalls rational … beurteilt werden. Dies ist Aufgabe der Kritik, im Hinblick sowohl auf praktische wie auf metatheoretische Entscheidungen“ (Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Adorno u. a. 1993, S. 235 – 266, 251).
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Dabei stelle Argumentation „die Prinzipien, nach denen sie verfährt, stets mit zur Diskussion“ (Habermas, in: Adorno u. a. 1993, S. 253). Eine kritische Rechtfertigung werde dadurch hergestellt, dass „sie … Einstellungen auch durch Argumente stützt oder schwächt, die ihrerseits in der Perspektive dieser Einstellungen erst gefunden werden“ (Habermas, in: Adorno u. a. 1993, S. 253). Eine ähnliche kritische Funktion lässt sich der Reflexion theoretischer Einstellungen zum Recht zuschreiben, etwa, wenn betont wird, es sei Interpretation von Recht stets eine reinterpretative Bedeutungskreation (Baer 2016, S. 71).
a. Ansätze einer kritischen Theorie zu Gender, Flucht und Asyl
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Ein besonders deutliches Beispiel dürften Herangehensweisen darstellen, die einen feministischen (Wessels 2018) oder einen in anderer Hinsicht kritischen Blick auf die Problematik von Kategorien von Geschlecht oder geschlechtlicher Orientierung zur rechtstheoretischen oder -politischen Diskussion des Asyl- und Flüchtlingsrechts beitragen (Krause/Scherschel 2018).
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Solche Ansätze, teilweise als „gender asylum law“ (Anker 2002/2013, S.138/210) bezeichnet, haben dazu beigetragen, dass der Fokus der rechtswissenschaftlichen – rechtsdogmatischen oder rechtstatsächlichen – Forschung auf Probleme geschlechtsspezifischer Verfolgung gerichtet und diese beleuchtet wurden. Das betrifft zum Beispiel das konzeptionelle Verhältnis der Verfolgungsgründe, die nach Artikel 1 A Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention für die Definition von Flüchtlingen konstitutiv sind, zur Kategorie des Geschlechts oder das Verhältnis zwischen der Definition von flüchtlingsrechtlich anerkannter Verfolgung zu Kategorien wie „öffentlich“ und „privat“ und zu sexualisierter oder häuslicher Gewalt (Markard 2007, S. 375 – 378). Besondere Schwierigkeiten, Verletzungen, die im Zusammenhang mit Zwangsverheiratungen von Frauen oder von homosexuell orientierten Menschen entstanden sind oder drohen, flüchtlingsrechtlich relevant zu machen (Dauvergne/Millibank 2010/2013), konnten durch solche spezifischen Fragestellungen kritisch in den Blick genommen und erhellt werden.
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Auch Intersektionalität, das Zusammenwirken von Diskriminierungen aus mehreren unterschiedlichen Gründen, als kritisch reflektierte Analysekategorie, die nicht immer, umso deutlicher aber für manche Fallgruppen Einsichten vermittelt, mag als Beispiel für eine solche Einstellung dienen. Sie erlaubt es insbesondere, die spezielle Verletzlichkeit aufzudecken, zu der es etwa kommen kann, wenn eine Kombination der Zuschreibungen von Religion, vermeintlicher Rasse oder Kaste mit Geschlecht wirkmächtig wird. Eine solche Wirkung kann beispielsweise darin bestehen, dass erst angesichts dieser Verbindung staatliche Schutzmöglichkeiten entfallen oder eine gesteigerte Gewalt-Viktimisierung in Konflikten mit Verfolgungskomponenten entsteht (Markard 2016, S. 52 f.).
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Intensive und kontroverse Diskussionen zu Fragen der konzeptionellen Auffassung von Homosexualität, damit verbundenen Fragen der Zumutbarkeit einer nur heimlichen Praxis (grundsätzlich Markard 2013), sowie Fragen bezüglich prozess- und beweisrechtlicher Umgangsweisen mit Homosexualität, insbesondere verschiedener Praxen der Glaubwürdigkeitsprüfung – phallometrischer Tests, medizinscher Gutachten, Beweiswürdigung ausschließlich auf der Basis stereotyper Annahmen über gesellschaftliche Verhaltensweisen (einerseits Gärditz 2015; andererseits Markard 2015) – waren und sind fruchtbares Ergebnis eines bewusst gewählten Forschungsfokus solcher Ansätze, denen zudem große Praxisrelevanz zukommt (vgl. EuGH, Urteil vm 07.11.2013 zu Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12, NVwZ 2014, S. 132; EuGH, Urteil vom 02.12.2014 zu Rs. C-148/13, C-149/13 und C-150/13, NVwZ 2015, S. 132).
b. Analyse und Kritik von Asyl in der Perspektive eines dialektischen Materialismus
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Sonja Buckel hob 2009 zu Recht hervor: „Die an Marx anknüpfende Rechtstheorie ist eine genuin politische“ (Buckel 2009, S. 113). Anknüpfend an Theodor W. Adorno formulierte sie:
- „Das Telos des Marxschen Materialismus läuft darauf hinaus, dass ‚die Reproduktion der Gattung Mensch und die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen von dem Tauschwert, von dem Profitmotiv endlich einmal befreit werden‘ und dann die Menschheit aufhörte, unter dem materiellen Zwang zu existieren“ (Buckel 2009, S. 113).
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Karl Marx betonte in seinen Thesen über Feuerbach, schon die „Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage“ (Marx/Engels 1988, S. 196), es hätten die „Philosophen … die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“ (Marx/Engels 1988, S. 200). Eine rationale, demystifizierende Lösung theoretischer Verklärungen sah er, da alles gesellschaftliche Leben wesentlich praktisch sei, „in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis“ (Marx/Engels 1988, S. 200).
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Hier interessieren die damit auch angesprochenen rechtstheoretischen Implikationen und ihre Fruchtbarkeit für Erkenntnisse zur Einrichtung rechtlichen Asyls.
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Slavoj Žižek legte im Jahr 2016 – kurz nach dem im Herbst 2015 erreichten einstweiligen Höhepunkt der so genannten Flüchtlingskrise, die entstanden war im Gefolge von Konflikten vor allem in Syrien und Afghanistan, aber auch im Irak, Iran und in Eritrea und infolge einer Reduktion der internationalen Unterstützung für geflohene Menschen in Aufnahmelagern der Anrainerstaaten – seine Schrift Refugees, Terror and Other Troubles with the Neighbors. Against the Double Blackmail vor. In seiner Analyse zeigt Žižek zwar, wie bestimmte Vorformungen von Wahrnehmungen in ihrer tatsächlichen Funktionsweise einer Verhüllung zu Grunde liegender Konflikte dienen. So habe die Monstrosität der ISIS andere Konfliktlinien verborgen, auch stehe die Wahrnehmung des plötzlichen und brutalen terroristischen Gewaltausbruchs in Paris im November 2015 als Unterbrechung des normalen Alltagslebens im Gegensatz zu der Tatsache andauernder alltäglicher Gewalterfahrung im Kongo, Afghanistan, Syrien, dem Irak und andernorts (Žižek 2016, S. 6). Žižek meint:
- „These two aspects of globalization are inseparable: capitalism’s global reach is grounded in the way it introduces a radical class division across the entire globe, separating those protected by the sphere from those left outside it“ (Žižek 2016, S. 7 f.).
- „Diese zwei Hinsichten der Globalisierung sind untrennbar: Das globale Ausgreifen des Kapitalismus basiert auf der Art und Weise, in der es eine radikale Klassen-Trennung auf dem ganzen Globus einführt, die jene, die geschützt sind, von jenen, die außen vor bleiben, trennt“ (Übers. R.K.).
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In seiner Analyse sieht er zwei Versionen einer „ideologial blackmail“ (Žižek 2016, S. 9), einer ideologischen Erpressung, nämlich einerseits einen rechtsgerichteten, gegen Immigration gerichteten Populismus, der der Illusion folge, es könnten die Zugbrücke hochgezogen und anderen Völkern die Lösung ihrer Probleme überlassen werden, andererseits einen linksgerichteten Liberalismus, der offene Grenzen und Solidarität favorisiere, Flüchtlinge als Objekte humanitärer Hilfe behandle, die zu Grunde liegende gesellschaftliche Krankheit aber verlängere, statt sie zu heilen, die Grenzen demokratischer Legitimation nicht sehe und insofern Demokratie suspendiere (Žižek 2016, S. 9 – 14). Indes führen weder Žižeks politische Ökonomie der Flüchtlinge (Žižek 2016, S. 49 – 58) noch seine weiteren Analysen ökonomischer, kultureller und anderer struktureller Funktionszusammenhänge zu einer spezifisch rechtstheoretischen Klärung. Žižeks Werk erweist sich hier als neues Element der schon länger beobachteten Problematik, dass im Rahmen neo-materialistischer Theorien eine spezifischer orientierte Rechtstheorie „eher unbelichtet blieb“ (Buckel 2009, S. 114). Die globale Apartheid, die er immer wieder (Žižek 2016, S. 51, 60, 111, 114) anspricht, und die Tatsache, dass Flüchtlinge das „endangered … commons of humanity itself“ (Žižek 2016, S. 114), das „gefährdete … Gemeingut der Menschheit selbst“ (Übers. R. K.) bezeugen, führt ihn nicht dazu, sich vertieft auf das Recht des Umgangs mit Flüchtlingen einzulassen, sondern lediglich zu solchen Postulaten wie, dass Kriterien der Aufnahme und Ansiedelung klar und ausdrücklich formuliert werden müssten, internationale Freizügigkeit beschränkt und ein Mittelweg zwischen den Begehrlichkeiten von Flüchtlingen und Kapazitäten verschiedener Länder gefunden werden müsse (Žižek 2016, S. 106).
80
Eine sehr viel größere systematische und methodische Klarheit des Verhältnisses zwischen dialektischem Materialismus allgemein und einer Theorie gerade des Rechts und rechtlichen Asyls hatte schon 1984 der Jurist Reinhard Marx in seinem Werk Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts. Rechtstheoretische und -dogmatische Untersuchungen zum Politikbegriff im Asylrecht erreicht. Eine prominente Bedeutung maß er bei der Vorbereitung seiner Überlegungen zu Asylrecht und -politik dem Basis-Überbau-Schema bei. Rechtsverhältnisse und Staatsformen könnten in der Auffassung von Karl Marx nicht
- „aus sich selbst oder der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes begriffen werden … Vielmehr seien diese in den materiellen Lebensverhältnissen verankert. Denn ‚in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein … Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen‘“ (R. Marx 1984, S. 24 f. unter Rückgriff auf ein Zitat aus Karl Marx‘ Zur Kritik der Politischen Ökonomie).
81
Die rechtstheoretische Bedeutung des dialektischen Materialismus für das Asylrecht zeige sich darin, dass er es ermögliche, „die Kluft zwischen der internationalen Sozialstruktur und der internationalen Rechtsentwicklung aufzuarbeiten“ (R. Marx 1984, S. 26).
82
Produktiv könne der dialektische Materialismus jedoch nur werden, wenn er in die Analyse einbeziehe, dass Recht nicht allein Teil des Überbaus sei, sondern „durch einen Verdinglichungsprozeß hindurchläuft und damit selbst zur materiellen Basis von Recht werden kann“ (R. Marx 1984, S. 26 f.). Denn durch eine vermeintlich einfache „kausale Ableitung des Bewußtseins aus den gesellschaftlichen Verhältnissen widerspricht der dialektische Materialismus seinem eigenen emanzipatorischen Ansatz“ (R. Marx 1984, S. 25). Mit seiner Einordnung des Rechts in die Basis-Überbau-Struktur ist Reinhard Marx nicht allein. Außerhalb asylspezifischer Kontexte hat etwa Andrea Maihofer formuliert:
- „Selbst wenn die ökonomische Sphäre dem Recht wesentliche Strukturelemente und Inhalte ‚vorgibt‘, nimmt das Recht diese nur in der ihm eigenen Weise wahr und setzt sie in der ihm eigentümlichen Weise für sich um. – Ähnlich wie ein Baum, sich von der Erde nährend, aus dieser emporwächst, in dieser verflochten und verwurzelt bleibt und beispielsweise in seinem Wuchs von dieser abhängig ist, doch etwas qualitativ anderes ist als diese – und trotzdem sind beide gleichermaßen Natur“ (Maihofer 1992, S. 153).
83
Recht sei aufzufassen als Resultante eines mehrdimensionalen, gesellschaftlichen – keineswegs nur funktionalen – Entstehungsprozesses, so dass in diesen komplexen Zusammenhängen „die ökonomische Sphäre nur in letzter Instanz und auch dies nur in der Tendenz determinierend ist“ (Maihofer 1992, S. 153). Buckel stellt heraus, dass Maihofer darin Althusser folge, dass geistige Produkte, wie das Recht, nicht mehr bloße Ideologie seien und in gesellschaftlich geübten Praxen und Institutionen „eigene Materialität besitzen“ (Buckel 2009, S. 124).
84
Für die Aufgabe der Rechtstheorie und den Umgang mit Fragen des Asyls bedeute dies: Wenn Recht als Teil der materiellen Basis von Recht durch bewusste „menschliche Akte gestaltet“ werde, entspreche dem, dass „Potenzen für emanzipatorische Freiräume angelegt [sind, R. K.], die im einzelnen aufzuspüren“ seien (R. Marx 1984, S. 26 f.). Erkenntnisleitendes Interesse sei individuelle Emanzipation (R. Marx 1984, S. 19). Das führe zu der Zielsetzung, zugleich eine diskutierfähige Grundlage für eine juristische und politische Diskussion der Asylrechtsprechung zu erarbeiten und dabei eine Betroffenheit auszulösen, damit die für die Fortentwicklung unerlässliche Motivation freigesetzt werden könne (R. Marx 1984, S. 16).
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Reinhard Marx gelangte bei der Durchführung des so angelegten Programms zu konkreten Vorschlägen von Auslegungsgrundsätzen, die er für die Interpretation des damaligen Artikels 16 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – relevant machte (R. Marx 1984, S. 200 f.). Für den politischen Charakter von Verfolgung relevante Staatlichkeit der Akteure erfasse auch die Zurechnung von Übergriffen nicht staatlicher Akteure oder die Neubegründung politischer Machtmonopole im Wege eines Bürgerkriegs, und zwar unabhängig von deren völkerrechtlicher Anerkennung. Die Unterdrückung politischer Freiheitsrechte sei maßgeblich für den politischen Charakter staatlicher Verfolgung; diese könne sich auch auf passive Akte wie Kriegsdienstverweigerung beziehen oder die Gestalt unverhältnismäßiger staatlicher Abwehrmaßnahmen annehmen. Bedeutsam seien die asylspezifische Schwere des Eingriffs sowie die Repressionsdichte des Systems hinsichtlich bestimmter Gruppen, in die der Eingriff sich eventuell einordnen lasse (R. Marx 1984, S. 200 f.).